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Toby machte eine Pause, aber Smiley rührte sich nicht. Toby stand auf, ging zu einem Schränkchen, goß zwei Gläser von ei­nem unsäglichen Sherry ein und stellte eines neben die Degas-Bronze auf den Tisch. Er sagte: »Cheers« und trank sein Glas bis zur Neige aus, aber noch immer regte Smiley sich nicht. Seine Passivität heizte Tobys Ärger von neuem an.

»Also habe ich ihn umgebracht, George, okay? Hector ist schuld, okay? Hector ist persönlich und allein verantwortlich für den Tod des alten Mannes. Das ist doch die Höhe!« Er warf beide Hände vor, Handflächen nach oben. »George! sagen Sie selbst! -, George, für diese Geschichte sollte ich nach Hamburg fliegen, privat, ohne Legende, ohne Babysitter. Wissen Sie, wo dort oben die Grenze zu Ostdeutschland ist? Zwei Kilometer von Lübeck? Weniger. Erinnern Sie sich? In Travemünde mußte man auf der linken Straßenseite bleiben, oder man war verse­hentlich übergelaufen.« Smiley lachte nicht. »Und für den un­wahrscheinlichen Fall, daß ich zurückkäme, sollte ich George Smiley mobilisieren, mit ihm rübergehen zu Saul Enderby, an die Hintertür klopfen wie ein Schnorrer - >Lassen Sie uns rein, Saul, bitte, wir haben von Otto Leipzig eine total zuverlässige Information, nur fünf Schweizer Riesen für ein mündliches Ex­pose über Dinge, die nach den Gesetzen der Boy Scouts streng verboten sind?< Sollte ich das tun, George?«

Aus einer Innentasche zog Smiley ein zerknittertes englisches Zigarettenpäckchen. Aus dem Päckchen zog er den selbstgefer­tigten Kontaktabzug, den er Toby über den Tisch hinweg zur Ansicht reichte: »Wer ist der zweite Mann?«

»Weiß ich nicht.«

»Nicht sein Partner, der Sachse, der Mann, mit dem er in den al­ten Zeiten zum Klauen ging? Kretzschmar?«

Toby Esterhase schüttelte den Kopf und blickte unverwandt das Bild an.

»Wer ist der zweite Mann?« fragte Smiley abermals.

Toby gab das Foto zurück. »George, darf ich Ihnen etwas sagen, bitte?« sagte er ruhig. »Hören Sie mir zu?«

Vielleicht hörte Smiley zu, vielleicht auch nicht. Er schob den Abzug wieder in das Zigarettenpäckchen.

»Heutzutage kann man so etwas leicht fälschen, wissen Sie? Ein Kinderspiel, George. Ich will einen Kopf auf eine andere Schul­ter setzen, ich habe die Ausrüstung, ich brauche vielleicht zwei Minuten. Sie sind nicht technisch veranlagt, George, von sol­chen Sachen verstehen Sie nichts. Sie kaufen keine Fotos von Otto Leipzig, Sie kaufen keinen Degas von Signor Benati, kön­nen Sie mir folgen?«

»Kann man auch Negative fälschen?«

»Klar. Man fälscht den Abzug, fotografiert ihn, macht ein neues Negativ, warum nicht?«

»Ist das hier eine Fälschung?« fragte Smiley.

Toby zögerte lange. »Ich glaube nicht.«

»Leipzig war viel auf Reisen. Wie erreichten wir ihn, wenn wir ihn brauchten?« fragte Smiley.

»Er durfte uns nicht nahekommen. Niemals.«

»Wie erreichten wir ihn also?«

»Für einen Routinetreff per Heiratsanzeige im Hamburger Abendblatt: Petra, 22, zierliche Blondine, ehem. Sängerin . . . diesen Schmus. George, hören Sie mir zu. Leipzig ist ein gefähr­licher Strolch mit sehr vielen lausigen Verbindungen, die meisten noch in Moskau.«

»Und in dringenden Fällen? Hatte er ein Haus? Ein Mädchen?« »Er hatte nie im Leben ein Haus. Für Blitztreffs amtierte Kretz­schmar als Schlüsselverwahrer. George, hören Sie mir doch um Gottes willen einmal zu -«

»Und wie erreichten wir Kretzschmar?«

»Er besitzt ein paar Nightclubs. Puffs. Dort hinterließen wir Nachricht.«

Ein warnendes Schnarren ertönte, und von droben hörten sie eine Auseinandersetzung zwischen zwei Stimmen.

»Bedauere, aber Signor Benati hat heute eine Besprechung in Florenz«, sagte das blonde Mädchen. »Das kommt davon, wenn man international ist.«

Doch der Besucher wollte ihr nicht glauben. Smiley hörte die an­schwellende Woge seiner Widerrede. Für den Bruchteil einer Se­kunde zuckten Tobys braune Augen bei dieser Verlautbarung nach oben, dann öffnete er seufzend einen Wandschrank und entnahm ihm, ungeachtet der Sonnenhelle im Oberlicht, einen schmierigen Regenmantel und einen braunen Hut.

»Wie heißt er?« fragte Smiley. »Kretzschmars Nightclub. Wie heißt er?«

»The Blue Diamond. George, tun Sie's nicht, okay? Was immer Sie vorhaben, lassen Sie's. Selbst wenn das Foto echt ist, was dann? Dann verdankt der Circus Otto Leipzig das Bild von ir­gendeinem Kerl. Glauben Sie, das ist plötzlich eine Goldmine? Glauben Sie, daß es Saul Enderby vom Stuhl reißt?«

Smiley sah Toby vor sich, sah ihn in der Erinnerung und erin­nerte sich auch, daß in all den Jahren, die sie einander gekannt und zusammen gearbeitet hatten, Toby kein einziges Mal frei­willig mit der Wahrheit herausgerückt war; daß Information für ihn Geld war; selbst wenn er sie für wertlos hielt, warf er sie nie­mals weg.

»Was hat Wladimir Ihnen sonst noch über Leipzigs Information gesagt?« fragte Smiley.

»Er sagte, es sei ein alter Fall, der wieder akut geworden ist. Jah­relange Investitionen. Irgendeinen Mist über den Sandmann. Er war wieder ein Kind, erinnerte sich an Märchen, du lieber Him­mel! Verstehen Sie, was ich meine?«

»Was ist mit dem Sandmann?«

»Ich sollte Ihnen sagen, es betrifft den Sandmann. Sonst nichts. Der Sandmann baut eine Legende für ein Mädchen. Max wird verstehen. George, er hat geweint, du lieber Gott. Er hätte alles gesagt, was ihm gerade einfiel. Er wollte den Kampf. Er war ein alter Spion, dem nicht mehr viel Zeit blieb. Wir sagten immer, die sind die Schlimmsten.«

Toby war schon halbwegs durch die Hintertür. Aber er machte kehrt und kam zurück, trotz des Lärms, der sich von droben nä­herte, denn etwas an Smileys Verhalten schien ihn zu beunruhi­gen - »Er glotzte so bedrohlich«, wie er später erklärte, »als hätte ich ihn irgendwie schrecklich beleidigt.«

»George? George, ich bin's, Toby, erinnern Sie sich? Wenn Sie nicht schleunigst zusehen, daß Sie hier rauskommen, dann wird der Kerl dort droben Sie als Abschlagszahlung kassieren, hören Sie?«

Was Smiley offenbar nicht tat. »Jahrelange Investitionen, und der Sandmann baut eine Legende für ein Mädchen?« wiederholte er. »Was sonst noch? Toby, was sonst noch?«

»Er benahm sich wie ein Irrer.«

»Der General? Wladi benahm sich wie ein Irrer?«

»Nein, der Sandmann. George, hören Sie bloß: >Der Sandmann benimmt sich wieder wie ein Irrer, der Sandmann baut eine Le­gende für ein Mädchen. Max wird verstehen.< Finito. Ende des Fahnenmastes. Ich habe Ihnen jedes Wort gesagt. Lassen Sie's jetzt gut sein, ja?«

Die streitenden Stimmen droben wurden lauter. Eine Tür schlug zu, stampfende Schritte näherten sich der Treppe. Toby ver­setzte Smileys Arm einen letzten flüchtigen Klaps.

»Leben Sie wohl, George. Wenn Sie eines Tages einen ungari­schen Babysitter brauchen, rufen Sie mich an. Hören Sie? Wenn Sie sich mit einem Knilch wie Otto Leipzig einlassen wollen, dann sollten Sie einen Knilch wie Toby zu ihrem Schutz dabei­haben. Gehen Sie nachts nicht alleine aus, Sie sind noch zu jung.« Als Smiley die Eisentreppe zur Galerie hinaufkletterte, hätte er um ein Haar einen erbosten Gläubiger beim Abstieg angerem­pelt. Aber das war Smiley egal, desgleichen das freche Aufseuf­zen der Aschblonden, als er auf die Straße trat. Wichtig war nur, daß er einen Namen für das zweite Gesicht auf dem Foto hatte; und die zu dem Namen gehörige Geschichte, die während der letzten sechsunddreißig Stunden an seinem Gedächtnis gezerrt hatte, wie ein nicht diagnostizierter Schmerz - wie Toby viel­leicht gesagt hätte, die Geschichte einer Legende.

Und hier liegt in der Tat das Dilemma jener Möchtegern-Histo­riker, die es sich, Monate nur nach Abschluß des Falls, angelegen sein lassen, das Ineinandergreifen von Smileys Wissen und Han­deln nachzuzeichnen. Toby berichtete ihm dies und jenes, sagen sie, folglich tat er dies und jenes. Oder: Wäre eine bestimmte Sa­che nicht passiert, dann hätte es keinen Entschluß gegeben. Doch die Wahrheit ist viel komplizierter und weit weniger be­quem zur Hand. Wie ein Patient nach dem Erwachen aus der Narkose seine Gliedmaßen durchprobiert - linkes Bein, rechtes Bein, lassen sich die Finger beugen und strecken? -, so wuchs Smiley dank einer Abfolge von vorsichtigen Bewegungen wieder seine eigene körperliche und geistige Kraft zu, und er sondierte die Motive seines Gegners, wie er seine eigenen sondierte.