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Er hielt den Atem an, um jedes ihrer Worte zu erhäschen. Das Prasseln auf dem Dach wurde lauter, er hörte das anschwellende Grollen des Waldes, als der Regen auf ihn niederrauschte. Sein Gesicht war ganz nah an dem ihren; und es war, Widerwille hin oder her, vom gleichen Feuer beseelt, wie das ihre.

»Und was dann?« sagte er.

»Dann hat er sie abgemurkst, Darling. Das war dann.«

»Warum?« Er rückte noch näher, als fürchte er, die Sprache werde ihr genau im entscheidenden Moment versagen. »Warum, Connie? Warum sie töten, wenn er sie liebte?«

»Er hatte alles für sie getan. Pflegeeltern für sie gefunden. Gute Schulen. Ließ sie zu seinem Traumweib erziehen. Spielte Dad­dy, spielte Liebhaber, spielte Gott. Sie war sein Spielzeug. Dann, eines schönen Tages, setzt sie sich plötzlich Flausen in den Kopf.«

»Was für Flausen?«

»Rebelliert. Verkehrt mit Scheiß-Intellektuellen. Wollen den Staat zersetzen. Fragt das große >Warum?< und das große >Warum nicht?< Er sagt, sie soll die Klappe halten. Was sie nicht tat. Sie hatte den Teufel im Leib. Er ließ sie ins Lager verfrachten. Machte sie nur noch schlimmer.«

»Und sie hatte ein Kind«, soufflierte Smiley und nahm ihre Hand in seine beiden Hände. »Ein Kind von ihm, erinnern Sie sich?« Ihre Hand war zwischen seinem und ihrem Gesicht. »Sie haben Recherchen nach dem Kind angestellt, ja? Es war Saure-Gur­ken-Zeit, und ich ließ Sie von der Leine. >Nimm die Fährte auf, Con<«, sagte ich, »>verfolg sie, wohin sie auch führt.< Wissen Sie noch?«

Unter Smileys beschwörendem Zuspruch steigerte sich Connies Rede zum Furioso einer letzten Liebe. Sie sprach schnell, ihre Augen strömten über. Sie verfolgte die Fährte in die Vergangen­heit, stöberte in allen Winkeln ihres Gedächtnisses . . . Karla hatte dieses Mädel ... ja, Darling, das war die Story, hören Sie mich?-Ja, Connie, weiter, ich höre. Dann passen Sie auf. Er zog sie groß, machte sie zu seiner Geliebten, das Balg kam, und der Zank drehte sich um dieses Balg. George, Darling, lieben Sie mich noch, wie in den alten Tagen? - Weiter, Con, wie ging es aus, ja, natürlich liebe ich Sie. Er beschuldigte sie, sie vergifte die kostbare Seele des Kindes mit gefährlichen Ideen - wie zum Bei­spiel Freiheit. Oder Liebe. Ein Mädchen - das Ebenbild der Mutter -, angeblich eine Schönheit. Schließlich schlug die Liebe des alten Tyrannen in Haß um, und er ließ sein Ideal deportieren und umlegen: Ende der Geschichte . . . Wir bekamen sie zuerst von Wladimir, dann ein paar Brocken, nie etwas Verläßli­ches . . . Name unbekannt, Darling, weil er alle Unterlagen über sie vernichtete, jeden umbrachte, der womöglich etwas wußte, typisch Karla, hol ihn der Kuckuck, wie Darling, so war er schon immer? Es hieß auch, sie sei überhaupt nicht tot, die Geschichte von ihrer Ermordung sei gezielte Falschinformation, um die Spur zu löschen. So, sie hat's geschafft, wie? Die alte När­rin hat sich erinnert!«

»Und das Kind?« fragte Smiley. »Das Mädchen, das Ebenbild der Mutter? Es gab Aussagen eines Überläufers - worum ging es da?«

Sie zögerte nicht. Auch daran hatte sie sich erinnert, ihr Denken raste vor ihr her, so wie ihre Stimme dem Atem davonlief. Irgendein Dozent der Universität Leningrad, sagte Connie. Be­hauptete, man habe ihm befohlen, einem geheimnisvollen Mäd­chen abends Nachhilfestunden in Politik zu erteilen - einer Art Privatpatientin, die anti-sozialistische Symptome zeige, Tochter eines hohen Funktionärs . . . Tatjana, er kannte sie nur als Tatjana. Sie hatte in der ganzen Stadt Krakeel gemacht, aber ihr Va­ter war ein großes Tier in Moskau, und sie war tabu. Das Mäd­chen versuchte, ihn zu verführen, tat es vermutlich, dann er­zählte sie ihm eine Geschichte, wie Daddy ihre Mammi killte, weil sie mangelndes Vertrauen in den historischen Prozeß be­wies. Anderntags ließ sein Ordinarius ihn kommen und sagte, wenn er jemals ein Wort dieses Gesprächs verlauten lasse, so werde er auf einer sehr großen Bananenschale ausrutschen . . . Connie war nicht mehr zu bremsen, sie zitierte Hinweise, die im Sand verlaufen, Quellen, die im Augenblick der Entdeckung versickert waren. Unglaublich, daß ihr zerrütteter und vom Trinken entstellter Körper noch einmal soviel Kraft aufzubieten vermochte.

»O George, Darling, nehmen Sie mich mit! Ja, das haben Sie vor, jetzt weiß ich's. Wer tötete Wladimir und warum! Hab's Ihrem häßlichen Gesicht angesehen, schon als Sie hereinkamen. Kam nicht gleich drauf, jetzt weiß ich's. Sie haben Ihr Karla-Gesicht! Wladi hat die Ader wieder angezapft, deshalb ließ Karla ihn tö­ten! Das ist Ihr Banner, George. Ich sehe Sie marschieren. Neh­men Sie mich mit, George, ich flehe Sie an! Ich verlasse Hils, ich verlasse alles, keinen Tropfen mehr, ich schwöre. Bringen Sie mich nach London, und ich finde Ihnen sein Traumweib, auch wenn es gar nicht existiert, auch wenn es das Letzte ist, was ich tue!«

»Warum nannte Wladimir ihn den Sandmann?« fragte Smiley, obwohl er die Antwort bereits kannte.

»Es war ein Scherz. Ein Märchen, das Wladi in Estland von ei­nem seiner nordischen Vorfahren gehört hatte. Karla ist unser Sandmann. Jeder, der ihm zu nahe kommt, fällt in einen beson­ders tiefen Schlaf. Wir wußten es nie genau, Darling, wie wäre das möglich gewesen? In der Lubjanka hatte jemand einen Mann kennengelernt, der eine Frau kannte, die sie gekannt hatte. Ein anderer kannte jemanden, der mithalf, sie zu begraben. Dieses Weib war Karlas Heiligtum. Und sie betrog ihn. Zwillingsstäd­te, so nannten wir ihn und Sie, zwei Hälften vom selben Apfel. George, Darling, nicht! Bitte!«

Sie hatte zu sprechen aufgehört, und er sah, daß sie angstvoll zu ihm hinaufstarrte, daß ihr Gesicht ein Stück unterhalb des seinen war; er stand und starrte wild auf sie hinab.

Hilary war an die Wand zurückgewichen und rief: »Halt, halt!« Er stand dicht vor der sitzenden Connie, wutentbrannt über ih­ren billigen und ungerechten Vergleich, er wußte, daß er weder Karlas Methoden noch Karlas Machtanspruch teilte. Er hörte sich sagen: »Nein. Connie!« und entdeckte, daß er beide Hände auf Brusthöhe gehoben hatte, steif ausgestreckt und Handflä­chen nach unten, als drücke er etwas mit aller Kraft in die Erde. Und er begriff, daß seine Leidenschaftlichkeit sie erschreckt, daß er ihr gegenüber noch nie soviel von seiner Überzeugung - oder von seinen Gefühlen - enthüllt hatte.

»Ich werde alt«, murmelte er und lächelte schüchtern. Als er sich beruhigte, wurde auch ihr Körper langsam wieder schlaff, und der Traum in ihr starb. Die Hände, die ihn noch vor ein paar Se­kunden umklammert hatten, lagen in ihrem Schoß wie zwei tote Soldaten in einem Schützengraben.

»Es war lauter Quatsch«, sagte sie verdrießlich. Tiefe und endgültige Apathie ergriff von ihr Besitz. »Gelangweilte Emi­granten, die in ihren Wodka flennen. Geben Sie's auf, George. Karla hat Sie auf der ganzen Linie geschlagen. Er hat Sie zum besten gehalten, hat Ihnen Ihre Zeit gestohlen . . . Unsere Zeit.«

Sie trank, es war ihr jetzt egal, was sie sagte. Ihr Kopf baumelte wieder nach vorn, und einen Augenblick lang glaubte er, sie sei wirklich eingeschlafen. »Er hat Sie zum besten gehalten, er hat mich zum besten gehalten, und als Sie Lunte rochen, brachte er Bill dazu, Ann zum besten zu halten, damit Sie die Witterung verloren.« Mit Mühe hob sie den Kopf, um ihn noch einmal an­zustarren. »Gehen Sie heim, George. Karla gibt Ihnen Ihre Ver­gangenheit nicht zurück. Machen Sie's, wie die alte Närrin hier. Leisten Sie sich ein bißchen Liebe, und warten Sie bis der Vor­hang fällt.«

Sie fing wieder an zu husten, hoffnungslos, einen harten, wür­genden Stoß nach dem anderen.

Der Regen hatte aufgehört. Als Smiley durch die französischen Fenster blickte, sah er wieder das Mondlicht auf den Käfigen lie­gen, die bereiften Drahtgitter streifen, er sah die weiß-glänzen­den Baumwipfel hügelan in einen schwarzen Himmel aufsteigen; er sah eine verkehrte Welt, in der alles Helle zu Schatten verdun­kelt war, und alles Dunkle wie Leuchtzeichen aus dem weißen Grund stach. Er sah einen jähen Mond aus den Wolken treten, dessen Strahl ihn in einen Abgrund locken wollte.