Er sah eine schwarze Gestalt mit Gummistiefeln und Kopftuch den Weg entlanglaufen und erkannte, daß es Hilary war; sie mußte, von ihm unbemerkt, hinausgeschlüpft sein. Er entsann sich, daß er eine Tür hatte zufallen hören. Er ging wieder zu Connie und setzte sich neben sie, auf das Sofa. Connie weinte und redete wirres Zeug, sprach von Liebe. Die Liebe ist eine absolute Macht, sagte sie vage - fragen Sie Hils. Aber Hilary war nicht da, er konnte sie nicht fragen. Die Liebe sei ein Stein, den man ins Wasser wirft, und wenn es genügend Steine gäbe und wir alle zusammen liebten, so würden eines Tages die Wellenkreise stark genug sein, um über das Meer zu reichen und die Hasser und Zyniker zu ertränken - »sogar diesen Schuft Karla, Darling«, versicherte sie ihm. »Das sagt Hils immer. Quatsch, wie? Es ist Quatsch, Hils!« kreischte sie.
Dann schloß Connie die Augen aufs neue, und nach einer Weile schien sie, nach ihrem Atmen zu schließen, einzudösen. Oder vielleicht tat sie nur so, um die Qual des Abschieds zu vermeiden. Auf Zehenspitzen trat Smiley in die kalte Nacht hinaus. Der Motor seines Wagens sprang wunderbarerweise an; Smiley fuhr langsam den Weg hinauf und hielt dabei nach Hilary Ausschau. Er bog um eine Kurve und sah sie im Scheinwerferlicht. Sie kauerte unter den Bäumen, wartete, daß er verschwinde, ehe sie wieder zu Connie zurückging. Wieder hatte sie die Hände vors Gesicht geschlagen, und er glaubte, Blut zu sehen; vielleicht hatte sie sich mit den Fingernägeln zerkratzt. Er fuhr vorbei und sah sie im Autorückspiegel, wie sie ihm im Rot seiner Rücklichter nachstarrte, und einen Augenblick lang verkörperte sie für ihn alle jene schlammigen Gespenster, die wahren Opfer der Konflikte: die aus dem Rauch des Krieges taumeln, verschmutzt und verhungert und um alles gebracht, was sie je besaßen. Er wartete, bis er sie wieder hügelabwärts laufen sah, auf die Lichter der Datscha zu.
Ich habe mein eigenes Gedächtnis konsultiert, dachte er, und vorgegeben, ich konsultierte das ihre.
Am Flughafen Heathrow kaufte er sein Ticket für den nächsten Morgen, dann lag er auf seinem Hotelbett - und für ihn war es das gleiche wie damals, obwohl die Wände kein Schottenmuster hatten. Das Hotel blieb die ganze Nacht über wach und Smiley mit ihm. Er hörte das Tosen der Wasserleitungen, das Klingeln der Telefone und das Gebumse von Liebespaaren, die nicht schlafen wollten oder konnten.
Max, hören Sie uns noch ein einziges Mal an - klang es ihm in den Ohren -, der Sandmann persönlich hat Kirow zu den Emigranten geschickt, um die Legende zu suchen.
16
Smiley kam in Hamburg Mitte des Vormittags an und fuhr mit dem Flughafenbus ins Stadtzentrum. Es war neblig und sehr kalt. Am Bahnhofsplatz fand er nach einigen >Bedauere, ausgebucht< ein schmalbrüstiges Hotel mit einem Lift, den, laut Vorschrift, nur jeweils drei Personen benutzen durften. Er trug sich als Standfast ein und ging dann zu einer Autovermietung, wo er sich einen kleinen Opel aussuchte, den er in einer mit gedämpfter Beethovenmusik berieselten Tiefgarage parkte. Der Wagen war seine Hintertüre. Er wußte nicht, ob er ihn benötigen würde, aber es war nötig, daß er da war. Er machte sich wieder zu Fuß auf den Weg in Richtung Alster, wobei er alles mit besonderer Schärfe wahrnahm: Den irren Verkehr und die Spielzeugläden für Millionärskinder. Der Stadtlärm sprang ihn wie ein Sturm an und ließ ihn die Kälte vergessen. Deutschland war seine zweite Natur, ja seine zweite Seele. In seiner Jugend war die deutsche Literatur seine Leidenschaft und sein Studienfach gewesen. Er konnte die deutsche Sprache anlegen wie eine Uniform und sich kühn darin bewegen. Und doch hatte er das Gefühl, daß jeder Schritt, den er tat, Gefahr bedeutete, denn Smiley hatte hier als junger Mann den halben Krieg in der einsamen Angst des Spions verbracht, und das Bewußtsein, in Feindesland zu sein, war unausrottbar in ihm verwurzelt. In seiner Kindheit hatte er Hamburg als eine reiche und elegante Hafenstadt kennengelernt, die ihre flatterhafte Seele unter einem Mantel von Englischtümelei verbarg; im Erwachsenenalter, als eine Stadt, die durch Luftangriffe von tausend Flugzeugen in mittelalterliche Finsternis zurückgebombt wurde. Er hatte sie in den ersten Friedensjahren gesehen, eine endlose, schwelende Ruinenstätte, in der die Überlebenden den Schutt wie Felder bearbeiteten. Und er sah sie heute, auf der Flucht in die Anonymität von Konservenmusik, Betontürmen und getöntem Glas.
An der Alster ging er den anmutigen Fußweg hinunter zum Landungssteg, wo Willem das Schiff bestiegen hatte. An Wochentagen fuhr, wie er feststellte, das erste Boot um 7 Uhr 10, das letzte um 20 Uhr 15, und Willem war an einem Wochentag hiergewesen. Das nächste Schiff war in fünfzehn Minuten fällig. Während er darauf wartete, beobachtete er die Ruderboote und die roten Eichhörnchen, genau wie Willem dies getan hatte, und als das Schiff ankam, setzte er sich ins Heck, wo Willem gesessen hatte, im Freien unter dem Schutzdach. Seine Mitpassagiere waren eine Horde Schulkinder und drei Nonnen. Er kniff vor der blendenden Helle die Augen halb zu und lauschte dem Geschnatter der Kinder. Auf halber Strecke stand er auf, schritt durch die Kabinen zum vorderen Fenster und sah hinaus, offensichtlich um etwas zu überprüfen, schaute auf die Uhr, kehrte dann wieder zu seinem Platz zurück und blieb sitzen bis zum Jungfernstieg, wo er an Land ging.
Willems Geschichte stimmte. Smiley hatte es nicht anders erwartet, aber in einer Welt beständigen Zweifels war ein zusätzlicher Beweis immer willkommen.
Er aß zu Mittag, ging dann zur Hauptpost und studierte eine Stunde lang alte Telefonbücher, wie damals die Ostrakowa in Paris, wenn auch aus anderen Gründen. Nach Beendigung seiner Nachforschungen ließ er sich zufrieden in der Halle des Hotels Vier Jahreszeiten nieder und las Zeitungen bis zum Abend.
In einem Hamburger Vergnügungsführer war das >Blue Diamond< nicht unter Nachtklubs angeführt, sondern unter >L'amour< und mit drei Sternen ausgezeichnet wegen seiner Exklusivität und seiner hohen Preise. Es lag in Sankt Pauli, doch diskret abseits vom Touristenrummel, in einer leicht abfallenden, gepflasterten Straße, die dunkel war und nach Fisch roch. Smiley drückte auf die Klingel, und ein elektrischer Türöffner summte. Er trat ein und stand unmittelbar in einem gepflegten Vorraum, voll grauer Apparaturen, die von einem smarten jungen Mann in grauem Anzug bedient wurden. An der Wand drehten sich langsam graue Tonbandspulen, doch die Musik, die sie spielten, war anderswo zu hören. Am Empfangspult flackerte und tickte eine mit den letzten Raffinessen ausgestattete Telefonanlage.
»Ich möchte einige Zeit hier verbringen«, sagte er.
Von hier aus haben sie auf meinen Telefonanruf geantwortet, dachte er, als ich Wladimirs Hamburger Gesprächspartner zu erreichen suchte.
Der smarte junge Mann zog ein Formular aus seinem Pult und erklärte in vertraulichem Gemurmel die Prozedur, wie ein Rechtsanwalt, der er wahrscheinlich tagsüber hauptberuflich war. Mitgliedsbeitrag einhundertfünfundsiebzig Mark, sagte er leise. Dies sei eine einmalige Beitrittsgebühr, die Smiley ein volles Jahr zu freiem Eintritt berechtige, sooft er wolle. Das erste Getränk würde ihn weitere fünfundzwanzig Mark kosten, und danach seien die Preise hoch, aber nicht übermäßig. Das erste Getränk sei obligatorisch und, wie der Mitgliedsbeitrag, vor Eintritt zu bezahlen. Alle anderen Arten der Unterhaltung seien gebührenfrei, doch nähmen die Mädchen Zuwendungen dankend entgegen. Smiley solle das Formular mit einem Namen seiner Wahl unterschreiben. Es würde von dem jungen Mann hier höchstpersönlich abgelegt werden. Bei seinem nächsten Besuch brauche er sich dann nur an seinen Beitrittsnamen zu erinnern, und er würde dann ohne weitere Formalitäten eingelassen werden.