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So hatte Georges Stimme bisher nur ein einzigesmal geklungen, sagte Guillam, der es im Nachhinein mit Sicherheit zu wissen glaubte - in jener Nacht nämlich, in der er Bill Haydon als Karlas Maulwurf und zugleich als Anns Liebhaber entlarvt hatte.

Auch die Ostrakowa hatte rückblickend kaum eine zusammen­hängende Erinnerung an diese Nacht, weder an die Autofahrt, auf der sie endlich Schlaf fand, noch an das geduldige, aber hart­näckige Verhör, dem der pummelige Mann sie unterzog. Viel­leicht hatte sie überhaupt vorübergehend ihre Wahrnehmungs­kraft - und entsprechend auch das Erinnerungsvermögen - ein­gebüßt. Sie beantwortete seine Fragen, sie war ihm dankbar, sie gab ihm - ohne die Zusätze oder »Ausschmückung« - dieselbe Information, die sie auch dem Magier gegeben hatte, obgleich der dicke Mann das meiste bereits zu wissen schien. »Der Ma­gier«, sagte sie einmal. »Tot. Mein Gott.«

Sie fragte nach dem General, achtete jedoch kaum auf Smileys unverbindliche Antwort. Sie dachte, Ostrakow, dann Glikman und jetzt der Magier - und nie sollte sie seinen Namen erfahren. Ihr Gastgeber und dessen Frau waren gleichfalls freundlich zu ihr, prägten sich jedoch ihrem Bewußtsein nicht ein. Es regnete, und sie konnte die fernen Felder nicht sehen.

Gleichwohl begann die Ostrakowa allmählich, während Woche um Woche verging, sich in ihrem Winterquartier wohlzufühlen. Die große Kälte kam früh in diesem Jahr, und sie ließ sich behag­lich einschneien; sie machte kurze Spaziergänge, dann sehr aus­gedehnte, ging früh zu Bett und sprach wenig, und im gleichen Maß, wie ihr Körper sich erholte, genaß auch ihr Geist. Anfangs herrschte verzeihliche Wirrnis in ihrem Kopf, und sie ertappte sich dabei, daß sie in denselben Ausdrücken an ihre Tochter dachte, mit denen der rothaarige Mann sie beschrieben hatte: staatsfeindliche Ausreißerin und starrsinnige Rebellin. Dann dämmerte ihr langsam die Logik der ganzen Geschichte. Ir­gendwo, so argumentierte sie, gab es die echte Alexandra, die lebte und ihr Dasein führte, wie vordem. Oder, auch wie vor­dem, nicht lebte. In jedem Fall bezogen sich die Lügen des rot­haarigen Mannes auf ein ganz anderes Mädchen, eines, das »sie« eigens für ihre Zwecke erfunden hatten. Die Ostrakowa brachte es sogar fertig, sich mit dem Gedanken zu trösten, daß ihre Tochter, wenn überhaupt, in völliger Unkenntnis dieser Ma­chenschaften lebte.

Vielleicht bewirkten die Wunden, die ihr an Geist und Körper zugefügt worden waren, was jahrelange Gebete und Ängste nicht vermocht hatten, und befreiten sie von ihren Schuldgefüh­len gegenüber Alexandra. Sie trauerte aus tiefstem Herzen um Glikman, sie war sich klar darüber, daß sie allein in der Welt stand, doch auf dem winterlichen Land war ihr diese Einsamkeit nicht unlieb. Ein pensionierter brigadier machte ihr einen Hei­ratsantrag, aber sie lehnte ab. Später stellte sich heraus, daß er allen weiblichen Wesen Heiratsanträge machte. Peter Guillam be­suchte sie mindestens jede Woche, und manchmal gingen sie ein paar Stunden miteinander spazieren. Er plauderte in fehlerfreiem Französisch mit ihr, vorwiegend über Landschaftsgärtnerei, ein Gebiet, auf dem er schier unerschöpfliche Kenntnisse besaß. Das war das Leben der Maria Ostrakowa, soweit es mit dieser Ge­schichte zu tun hat. Und es wurde in völliger Unkenntnis der Geschehnisse zu Ende gelebt, die ihr erster Brief an den General ins Rollen gebracht hatte.

19

»Wissen Sie, daß er tatsächlich Ferguson heißt?« knautschte Saul Enderby in besonders breitem Belgravia-Cockney, der letzten Unsitte der englischen Oberklasse.

»Ich habe nie daran gezweifelt«, sagte Smiley.

»Er ist ungefähr alles, was von diesem ganzen Pfadfinder-Stall übrig ist. Die Weisen sind heutzutage nicht für Inlands-Aufklä­rung. Parteiwidrig oder sonst ein Käse.« Enderby konzentrierte sich wieder auf das umfangreiche Dokument, das er in der Hand hielt. »Und wie heißen Sie, George Smiley? Sherlock Holmes, der seinen armen alten Moriarty hetzt? Kapitän Ahab, der seinen großen weißen Wal jagt? Wer sind Sie?«

Smiley antwortete nicht.

»Ehrlich gesagt, möchte ich gern einen Feind haben«, bemerkte Enderby und blätterte ein paar Seiten um. »Bin schon seit Olims Zeiten auf der Suche. Oder, Sam?«

»Tag und Nacht, Chef«, pflichtete Sam Collins munter bei und bedachte seinen Meister mit einem vertraulichen Grinsen.

Bei Ben waren die rückwärtigen Räumlichkeiten eines dunklen Hotels in Knightsbridge, und dort hatten die drei Männer sich vor einer Stunde getroffen. An der Tür hing ein Schild »Ge­schäftsleitung, nur privat«, und dahinter war ein Vorraum mit Garderobe und WC, und dahinter lag das Allerheiligste, ange­füllt mit Büchern und Moschusduft, das hinwiederum Zugang gewährte zu einem kleinen ummauerten Gartengeviert - vom Park abgezwackt -, mit einem Fischteich und einem Marmoren­gel und einem Pfad zu sinnendem Umherwandeln. Bens Identi­tät war, falls er jemals eine besessen hatte, in den ungeschriebe­nen Archiven der Circus-Mythologie abgelegt. Aber diese nach ihm benannte Stätte war geblieben, als nicht registriertes Zubehör von Enderbys - und vor ihm von Smileys - Posten und als Stelldichein für Treffen, die später nie stattgefunden hatten. »Ich möchte es nochmals durchgehen, wenn's Ihnen recht ist«, sagte Enderby. »Bin um diese Tageszeit ein bißchen langsam von Begriff.«

»Wäre sicher riesig hilfreich, Chef«, sage Collins.

Enderby rückte an seiner Halb-Brille, aber nur, um darüber hinwegzublicken, und Smiley war insgeheim überzeugt, daß sie ohnehin aus Fensterglas bestand.

»Kirow ist also der Sprecher. Nachdem Leipzig ihm die Dau­menschrauben angesetzt hat, stimmt's, George?« Smiley nickte zerstreut. »Die beiden sitzen immer noch in Unterhosen in die­sem Puff, aber es ist fünf Uhr morgens, und die Mädchen wur­den heimgeschickt. Zunächst kommt Kirows tränenreiches Wie-konntest-du-mir-das-antun? >Ich hielt dich für meinen Freund, Otto!< sagt er. Herrgott, wie man sich doch täuschen kann! Dann folgt seine Aussage, von den Übersetzern in schlechtes Englisch gebracht. Sie haben eine Konkordanz ange­fertigt - ist dies das richtige Wort, George? Die >Ähs< und >Ehems< ausgelassen?«

Smiley ließ dahingestellt, ob es das richtige Wort war oder nicht. Vielleicht wurde auch keine Antwort erwartet. Er saß sehr still in einem Lederfauteuil, über die gefalteten Hände gebeugt, und er hatte seinen braunen Tweedmantel nicht ausgezogen. Ein Ex­emplar der Kirow-Umschrift lag in Reichweite. Er sah mitge­nommen aus, und Enderby äußerte später, er habe damals offen­bar eine Hungerkur gemacht. Sam Collins, oberster Einsatzlei­ter, saß buchstäblich in Enderbys Schatten; ein eleganter Mann mit dunklem Lippenbärtchen und einem strahlenden Lächeln

zum An- und Ausknipsen. Früher einmal war Collins der harte Mann des Circus gewesen, der in jahrelangen Außeneinsätzen die Liebedienerei der fünften Etage verachten gelernt hatte. Jetzt war aus dem Wildschützen ein Forstgehilfe geworden, der für seine eigene Rente und Sicherheit Sorge trug, so wie er einst für seine Netze Sorge getragen hatte. Er enthielt sich jeder eigenen Meinung; er rauchte seine braunen Zigaretten bis zur Hälften­markierung, dann drückte er sie in einer zersprungenen Muschel aus, und sein treuer Hundeblick ruhte unverwandt auf Enderby, seinem Herrn. Enderby lehnte am Mittelrahmen einer Fenster­tür, so daß seine Gestalt sich dunkel vor dem Licht von draußen abhob, und stocherte mit einem abgebrochenen Streichholz in den Zähnen. Aus seinem linken Ärmel lugte ein seidenes Ta­schentuch, und er hatte ein Knie vorgeschoben und leicht ge­beugt, als befände er sich hinter der Prominenten-Barriere in As­cot. Über dem Rasen im Garten lagen Nebelschleier wie dünne Gaze. Enderby legte den Kopf zurück und hielt das Dokument mit ausgestrecktem Arm, wie eine Speisenkarte.