Ein geringerer Mann als Enderby - oder ein Mann von geringerer Dickfelligkeit - hätte vielleicht die nächsten paar Seiten übersprungen, denn sie bestätigten größtenteils, wie recht Connie Sachs und Smiley gehabt hatten, als sie vor drei Jahren auf eine Durchleuchtung der Leipzig-Kirow-Verbindung drängten.
»Kirow klappert pflichtschuldigst die Emigranten ab, aber ohne Erfolg«, verkündete Enderby, als lese er die Untertitel im Kino vor. »Karla mahnt Kirow zu größerem Eifer, Kirow verdoppelt seine Anstrengungen, wieder Fehlanzeige.«
Enderby brach ab und blickte Smiley an, diesmal sehr direkt.
»Kirow taugte nichts, wie, George?« sagte er.
»Nein«, sagte Smiley.
»Karla konnte seinen eigenen Leuten nicht trauen, darauf wollen Sie doch hinaus. Er mußte sich unterm Fußvolk umsehen und einen so unsicheren Kantonisten wie Kirow anwerben.«
»Ja.«
»Einen Tölpel. Der nie und nimmer Sarratt geschafft hätte.«
»Genau.«
»Mit anderen Worten: Nachdem er seinen eigenen Apparat aufgezogen und ihm seine eisernen Regeln antrainiert hat, wagte er nicht, ihn in dieser speziellen Sache einzusetzen. Wollen Sie darauf hinaus?«
»Ja«, sagte Smiley. »Darauf will ich hinaus.«
Als Kirow nun im Flugzeug nach Wien ach so zufällig Leipzig wiedersah - Enderby gab nun den Inhalt von Kirows Bericht in seiner eigenen Formulierung wieder-, erschien Otto ihm wie ein Geschenk des Himmels. Was tat's, daß Ottos Sitz in Hamburg war, was tat's, daß damals in Riga manch Unschönes passierte: Otto war Emigrant, hatte Kontakt mit den Emigrantengruppen, Otto der Goldjunge. Kirow jagte eine Meldung an Karla und schlug vor, daß Leipzig als Emigranten-Quelle und Talentsucher angeheuert werde. Karla gab seine Zustimmung.
»Auch eine kuriose Sache, wenn man's bedenkt«, bemerkte Enderby. »Herrje, ich meine, wie kann ein Mensch, der seine fünf Sinne beisammen hat, auf einen Gaul mit Leipzigs Ruf setzen?
Noch dazu für einen solchen Job?«
»Karla war im Druck«, sagte Smiley. »Kirow sagte das aus, und es wird auch von anderer Seite bestätigt. Er war in Eile. Er mußte Risiken eingehen.«
»Leute umlegen, zum Beispiel?«
»Das war erst kürzlich«, sagte Smiley in so begütigendem Ton, daß Enderby ihm einen scharfen Blick zuwarf.
»In letzter Zeit sind Sie verdammt nachsichtig, wie, George?« sagte Enderby argwöhnisch.
»Tatsächlich?« Smiley schien durch die Frage verwirrt. »Wenn Sie es sagen, Saul.«
»Und verdammt sanftmütig obendrein.« Er wandte sich wieder der Tonbandabschrift zu. »Seite einundzwanzig, dann ist Feierabend.« Er las langsam, um der Stelle besonderes Gewicht zu verleihen. »Seite einundzwanzig«, wiederholte er. »>Im Anschluß an die erfolgreiche Anwerbung der Ostrakowa und die amtliche Ausstellung eines französischen Visums für ihre Tochter Alexandra erhielt ich den Auftrag, ab sofort monatlich zehntausend US-Dollar aus dem Pariser Spesenfonds für die Bedienung dieser neuen Tiefenagentin abzuzweigen, die unter dem Arbeitsnamen KOMET geführt werde. Die Agentin KOMET erhielt außerdem die höchste Geheimhaltungsstufe innerhalb des Direktoriums, so daß alle sie betreffenden Meldungen dem Leiter persönlich unter Benutzung des Absender-Empfänger-Codes und ohne Mittelsperson zugehen mußten. Wenn irgend möglich, sollten solche Mitteilungen per Kurier reisen, da Karla strikter Gegner unnötiger Funkkontakte ist.< Ist da etwas Wahres dran, George?« fragte Enderby leichthin.
»Auf diese Weise haben wir ihn damals in Indien geschnappt«, sagte Smiley, ohne den Kopf zu heben. »Wir haben seine Codes geknackt, und daraufhin schwor er, nie wieder Funk zu benutzen. Wie die meisten Schwüre wurde auch dieser nur bedingt gehalten.«
Enderby biß ein Streichholzende ab und schmierte es auf seinen Handrücken. »Möchten Sie nicht den Mantel ablegen, George?« fragte er. »Sam, fragen Sie ihn, was er trinken möchte.«
Sam fragte, aber Smiley war so sehr in die Tonbandabschrift vertieft, daß er nicht antwortete.
Enderby nahm seine Vorlesung wieder auf. »>Ferner erhielt ich Anweisung, dafür zu sorgen, daß in den Jahresabrechnungen für Westeuropa, die ich als Revisor abzeichnen und Karla zur Vorlage beim Collegium der Moskauer Zentrale am Ende eines jeden Geschäftsjahres übermitteln mußte, kein Hinweis auf KOMET zu finden sein würde . . . Nein, ich bin der Agentin KOMET nie persönlich begegnet und weiß auch nicht, was aus ihr geworden ist oder in welchem Land sie operiert. Ich weiß nur, daß sie unter dem Namen Alexandra Ostrakowa lebt, Tochter in Frankreich naturalisierter Eltern . . .<« Weiteres Umblättern. »>Die monatliche Summe von zehntausend Dollar wurde nicht durch mich direkt ausbezahlt, sondern an eine Bank in Thun, im schweizerischen Kanton Bern, überwiesen. Die Überweisung geschieht per Dauerauftrag zu Gunsten eines Dr. Adolf Glaser. Glaser ist nomineller Konto-Inhaber, aber ich glaube, Glaser ist nur der Arbeitsname eines Karla-Mannes an der Sowjetbotschaft in Bern, dessen richtiger Name Grigoriew lautet. Zu dieser Annahme gelangte ich aus folgendem Grund: Bei einer dieser Geldsendungen nach Bern unterlief der überweisenden Bank ein Irrtum, und das Geld traf nicht in Bern ein. Als Karla davon erfuhr, trug er mir auf, sofort denselben Betrag nochmals und zwar an Grigoriew persönlich zu überweisen, während die Bank der Sache nachging. Ich führte den Befehl aus und erhielt später die doppelt bezahlte Summe zurück. Das ist alles, was ich weiß. Otto, mein Freund, ich flehe dich an, behalte diese vertraulichen Informationen für dich, sie könnten mein Tod sein.< Womit er verdammt recht hat. Waren sie.« Enderby warf das Protokoll auf einen Tisch, wo es mit lautem Klatschen landete. »Kirows Testament und Letzter Wille, könnte man sagen. Das wär's. George?«
»Ja, Saul?«
»Wirklich nichts zu trinken?«
»Danke, ich bin ganz zufrieden.«
»Ich bin noch immer am Ausklamüsern, bei mir geht's nicht so schnell. Rechnen wir mal gemeinsam nach. Im Kopfrechnen sind Sie mir um Längen voraus. Also, Zug um Zug.« Er erinnerte an Lacon, als er eine weiße Hand hochhielt und die Finger spreizte, an denen er sodann abzählte.
»Nummer eins: Die Ostrakowa schreibt an Wladimir. Ihr Brief rührt alte Geschichten wieder auf. Vermutlich hat Mikhel ihn abgefangen und gelesen, aber das werden wir nie erfahren. Wir könnten ihn in den Schwitzkasten nehmen, aber das würde vermutlich nicht nur nichts nützen, sondern höchstwahrscheinlich in Karlas Taubenschlag Großalarm auslösen.« Er packte einen zweiten Finger. »Nummer zwei: Wladimir schickt eine Kopie des Briefes an Otto Leipzig mit der dringenden Bitte, er möge umgehend seine Freundschaft mit Kirow aufwärmen. Nummer drei: Leipzig braust nach Paris, besucht die Ostrakowa, läuft seinem lieben alten Kumpel Kirow über den Weg, lockt ihn nach Hamburg - wohin Kirow schließlich ohne weiteres mitdarf, denn Leipzig steht bei Karla immer noch als Kirows Agent auf der Liste. Aber jetzt frage ich mich etwas, George.«
Smiley wartete.
»In Hamburg zieht Leipzig seinem Freund Kirow die Würmer aus der Nase. Ja? Beweis liegt hier in unseren Schwitzhändchen.