Aber ich frage mich - wie?«
Vermochte Smiley wirklich nicht zu folgen oder lag ihm daran, Enderby noch ein bißchen Kopfarbeit leisten zu lassen. Jedenfalls zog er es vor, Enderbys Frage als rhetorisch zu betrachten. »Wie erpreßt Leipzig ihn genau?« bohrte Enderby. »Was ist das Druckmittel? Sex-Fotos? Schön, okay. Karla ist Puritaner, Kirow auch. Aber ich meine, Herrgott, wir leben nicht mehr in den fünfziger Jahren, wie? Heutzutage kann jeder sich ein bißchen Fleischeslust erlauben, was?«
Smiley lieferte keinen Kommentar zu russischen mores; aber zum Thema Druckmittel äußerte er sich so präzise, wie Karla es vermutlich getan hätte. »Ihre Ethik ist anders als die unsrige. Sie duldet keine Dummköpfe. Wir halten uns immer für leichter erpreßbar als die Russen. Das stimmt nicht. Das stimmt ganz einfach nicht.« Er schien in diesem Punkt sehr sicher zu sein. Er schien in letzter Zeit reichlich darüber nachgedacht zu haben: »Kirow war unfähig und indiskret. Allein seiner Indiskretion wegen hätte Karla ihn vernichtet. Leipzig besaß den Beweis dafür. Vielleicht erinnern Sie sich, als wir die ersten Recherchen über Kirow anstellten: Damals hatte Kirow sich betrunken und höchst unklug über Karla ausgepackt. Hat Leipzig erzählt, Karla habe ihm befohlen, die Legende für eine Agentin aufzubauen. Damals mißtrauten Sie der Geschichte, aber sie stimmte.«
Enderby war kein Mann, der errötete, aber er hatte tatsächlich soviel Anstand, ein schiefes Grinsen zu zeigen, ehe er in seiner Tasche nach einem weiteren Streichholz fischte.
»Und wer einen Stein wälzt, auf den rollt er zurück«, zitierte er befriedigt, ob er allerdings auf sein eigenes Versäumnis anspielte oder auf Kirows Achtlosigkeit, blieb unklar. »>Erzähl uns den Rest, Kumpel, oder ich erzähle Karla, was du mir schon alles erzählt hast<, sagt Klein Otto zu der Fliege. Herrje, Sie haben recht, er hatte Kirow wirklich am Wickel!«
Sam Collins riskierte eine vermittelnde Bemerkung. »Ich glaube, was George sagt, paßt ziemlich genau zu dem Hinweis auf Seite zwei, Chef«, sagte er. »An dieser Stelle erwähnt Leipzig tatsächlich >unsere Gespräche in Paris<. Da hat er schon das Karla-Messer angesetzt, keine Frage. Stimmt's, George?«
Aber was die Aufmerksamkeit anging, die Smiley und Enderby ihm zollten, hätte Sam Collins ebenso gut im Nebenzimmer sprechen können.
»Leipzig hatte auch den Brief der Ostrakowa«, ergänzte Smiley.
»Der Inhalt sprach nicht gerade für Kirow.«
»Noch etwas«, sagte Enderby.
»Ja, Saul?«
»Vier Jahre, ja? Es ist volle vier Jahre her, seit Kirow seinen ersten Versuch bei Leipzig gemacht hat. Plötzlich reißt er die Ostrakowa auf und probiert die gleiche Masche. Vier Jahre später. Wollen Sie sagen, er sei die ganze Zeit über mit ein und demselben Auftrag Karlas schwanger gegangen, ohne mit einem Resultat niederzukommen?«
Smileys Antwort war seltsam bürokratisch. »Man kann nur vermuten, daß Karlas Bedarf nicht mehr gegeben war und später wieder akut wurde«, erwiderte er steif, und Enderby war klug genug, nicht weiter in ihn zu dringen.
»Kurz und gut: Leipzig erpreßt Kirow nach Strich und Faden und macht Wladimir davon Mitteilung«, faßte Enderby zusammen, und hob abermals zählend die gespreizten Finger. »Wladimir schickt Willem als Kurier los. Inzwischen hat Karla auf seiner Ranch in Moskau Lunte gerochen, oder Mikhel hat gepfiffen, vermutlich letzteres. Wie dem auch sei, Karla beordert Kirow unter dem Vorwand einer Beförderung nach Hause und hängt ihn an den Ohren auf. Kirow singt sofort, hätte ich auch getan. Karla versucht, die Zahnpasta wieder in die Tube zu drücken. Tötet Wladimir, der mit dem Brief der Ostrakowa auf dem Weg zu unserem Treff ist. Tötet Leipzig. Macht einen gemeinen Mordanschlag auf die alte Dame, aber es klappt nicht. Wie ist ihm jetzt zu Mute?«
»Er sitzt in Moskau und wartet, daß Holmes oder Kapitän Ahab bei ihm auftauchen«, scherzte Sam Collins mit seiner Samtstimme und zündete sich seine soundsovielte Zigarette an.
Enderby mußte nicht lachen. »Und warum buddelt Karla seinen Schatz nicht wieder aus, George? Deponiert ihn anderswo? Wenn Kirow Karla beichtete, was er Leipzig gebeichtet hat, dann mußte Karla als erstes alle Spuren verwischen!«
»Vielleicht ist der Schatz nicht zu transferieren«, erwiderte Smiley. »Vielleicht sind Karlas Möglichkeiten erschöpft.«
»Aber es wäre heller Wahnsinn, dieses Bankkonto stehenzulassen!«
»Es war auch heller Wahnsinn, einen Idioten wie Kirow einzusetzen«, sagte Smiley. »Es war Wahnsinn, ihn Leipzig anwerben zu lassen, Wahnsinn, sich an die Ostrakowa heranzumachen, und Wahnsinn zu glauben, durch drei Morde könne er das Leck stopfen. Die Voraussetzung voller Zurechnungsfähigkeit ist daher nicht gegeben. Warum auch?« Er schwieg eine Weile. »Und Karla glaubt es offenbar immer noch, sonst würde Grigoriew nicht nach wie vor in Bern sein. Das ist er doch, wenn ich Sie recht verstanden habe?« Nur die Andeutung eines Seitenblicks zu Collins.
»Bis dato sitzt er noch brav im alten Nest«, sagte Collins mit seinem Allwetter-Lächeln.
»Dann wäre ein Transfer des Bankkontos kaum ein logischer Schritt«, bemerkte Smiley. Und er fügte hinzu: »Nicht einmal für einen Wahnsinnigen.«
Und es war seltsam - das äußerten Collins und Enderby später übereinstimmend im engsten Kreis -, daß alles, was Smiley sagte, wie ein kalter Hauch durch den Raum zu wehen schien, daß sie beide, ohne zu begreifen, wie es zuging, sich in eine höhere Sphäre menschlichen Verhaltens versetzt sahen, für die sie nicht gebaut waren.
»Wer ist also seine Dunkle Dame?« fragte Enderby. »Wer ist ihm zehntausend pro Monat und seine ganze verdammte Karriere wert? Bringt ihn soweit, daß er Gimpel ausschickt, statt seiner eigenen regulären Halsabschneider? Muß eine bemerkenswerte Puppe sein.«
Wiederum kann man nur raten, warum Smiley beschlossen hatte, diese Frage nicht direkt zu beantworten. Vielleicht liegt die Erklärung in seiner eisernen Unzugänglichkeit; oder vielleicht haben wir es mit der hartnäckigen Weigerung des geborenen Agenten zu tun, seinem Vorgesetzten irgendetwas zu offenbaren, was für die Zusammenarbeit nicht unbedingt notwendig ist. Ganz bestimmt hatte sein Entschluß einen philosophischen Grund. Schon war Smiley überzeugt, niemandem außer sich selber verantwortlich zu sein: Warum sollte er handeln, als wäre dies nicht der Fall? »Alle Fäden führen in mein eigenes Leben!« mag er argumentiert haben. »Warum meinem Gegenspieler die Enden in die Hand geben, nur damit er mich daran gängeln kann?« Oder aber, er dachte -- und vermutlich zu recht -, daß Enderby die Wirrungen von Karlas Lebensweg ebenso bekannt waren wie Smiley; und daß er, falls dem nicht so gewesen sein sollte, seine Rußland-Spezialisten die ganze Nacht hindurch hatte wühlen lassen, bis sie auf die Antworten gestoßen waren, die ihm fehlten.
Was immer zutreffen mag, fest steht, daß Smiley sein Wissen für sich behielt.
»George?« sagte Enderby nach langer Pause.
Ein Flugzeug donnerte im Tiefflug über das Haus.
»Die Frage ist ganz einfach, ob Sie das Produkt haben möchten«, antwortete Smiley schließlich. »Ich sehe sonst nichts, was letztlich von großer Bedeutung wäre.«
»Ach, Sie sehen sonst nichts!« sagte Enderby, zog die Hand vom Mund und damit das Streichholz. »Oh doch, ich möchte ihn haben«, fuhr er fort, als sei dies nur ein Teil des Ganzen. »Ich möchte die Mona Lisa haben und den Vorsitzenden der Volksrepublik China und den Sieger des nächstjährigen Irish Sweep, Ich möchte Karla in Sarratt auf dem heißen Stuhl haben, wo er vor den Inquisitoren seine Lebensgeschichte ausspuckt. Ich möchte, daß mir die amerikanischen Vettern noch jahrelang aus der Hand fressen. Ich möchte alle Trümpfe haben, klar, daß ich das möchte. Aber das hilft mir nicht aus dem Schlamassel.«