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»Sascha! Du mußt sofort aufstehen! Sascha, wach sofort auf! Sa­scha, wach auf! Sascha!«

Sie kam einen Schritt näher. Alexandra fragte sich, ob sie wohl die Decke wegreißen und sie aus dem Bett ziehen würde. Mutter Felicitas konnte, trotz ihres aristokratischen Bluts, rauh sein wie ein Soldat. Sie war kein Tyrann, verstand aber keinen Spaß und war schnell eingeschnappt.

»Sascha, du kommst zu spät zum Frühstück. Die anderen Mäd­chen werden auf dich schauen und lachen und sagen, daß wir dummen Russen immer zu spät dran sind. Sascha? Sascha, willst du die Morgenandacht versäumen? Gott wird sehr böse auf dich sein, Sascha. Er wird traurig sein, und Er wird weinen. Vielleicht muß Er sich auch überlegen, wie Er dich bestrafen soll.«

Sascha, willst du nach Untersee kommen?

Alexandra drückte die Lider noch fester zu. Ich bin sechs Jahre alt, und ich brauche meinen Schlaf, Ehrwürdige Mutter. Gott, mach mich fünf Jahre alt, Gott, mach mich vier. Ich bin drei Jahre alt und brauche meinen Schlaf.

»Sascha, hast du vergessen, daß heute dein besonderer Tag ist? Sascha, hast du vergessen, daß heute dein Besuch kommt?«

Gott, mach, daß ich zwei Jahre alt bin, Gott, mach, daß ich ein Jahr alt bin, Gott, mach, daß ich nichts bin und ungeboren. Nein, ich habe meinen Besuch nicht vergessen, Ehrwürdige Mutter. Ich hab' an meinen Besuch gedacht vor dem Einschla­fen, ich hab' von ihm geträumt, ich hab' an nichts anderes ge­dacht, seit ich wach bin. Aber, Ehrwürdige Mutter, ich will mei­nen Besuch heute nicht und auch an keinem anderen Tag, ich kann nicht, ich kann mein Leben nicht in die Lüge zwingen, ich weiß nicht, wie ich das machen soll, und darum will ich nicht, will ich ganz und gar nicht, daß der Tag beginnt.

Gehorsam kletterte Alexandra aus dem Bett.

»Brav«, sagte Mutter Felicitas und gab ihr einen flüchtigen Kuß» bevor sie den Flur hinuntereilte, wobei sie ständig »Wieder zu spät! Wieder zu spät!« rief und in die Hände klatschte, >husch, husch<, als wolle sie eine Herde dummer Hühner scheuchen.

23

Die Bahnfahrt nach Thun dauerte eine halbe Stunde, und vom Bahnhof aus unternahm Smiley einen Schaufensterbummel, wo­bei er kleine Umwege machte. Manche Burschen kriegen's mit der Heldenhaftigkeit und wollen plötzlich dringend für ihr Va­terland sterben, dachte er ... Bei Erpressung schalten manche Leute auf stur. Er fragte sich, worauf er schalten würde.

Es war ein Tag, an dem alles in düstere Leere getaucht war. Die wenigen Fußgänger glitten wie langsame Schatten durch den Nebel, und die Seedampfer lagen in ihren Fahrrinnen eingefro­ren. Gelegentlich teilte sich die Leere zu einem Durchblick auf eine Burg, einen Baum, ein Stück Stadtmauer. Und schloß sich dann schnell wieder. Schnee lag auf dem Kopfsteinpflaster und im Geäst der Kugelbäume. Die wenigen Autos fuhren mit ange­schalteten   Scheinwerfern,   ihre   Reifen   knirschten   auf  dem Matsch. Die einzigen Farben waren in den Auslagen: goldene Uhren, Skianzüge wie Nationalflaggen. »Kommen Sie frühe­stens um elf,« hatte Toby gesagt. »Selbst elf ist noch zu früh, Ge­orge, sie kommen nicht vor zwölf.« Es war erst zehn Uhr drei­ßig, aber er brauchte die Zeit, er wollte kreisen, bevor er sich niederließ, Zeit, wie Enderby sagen würde, um die Strecke aus­zulegen. Er ging in eine enge Gasse hinein und sah das Schloß di­rekt über sich aufragen. Die Arkade wurde zu einem Gehsteig, dann zu einer Treppe, dann zu einem steilen Abhang, den er hin­aufstieg. Er ging an einem English Tea-Room, einer American-Bar, einem Oasis Night-Club vorbei, alle bebindestricht, alle neonbeleuchtet, alle eine keimfreie Kopie eines verlorenen Ori­ginals. Er kam auf einen Platz und sah die Bank, diejenige wel­che, und direkt gegenüber auf der anderen Straßenseite das kleine Hotel, genau wie Toby es beschrieben hatte, mit seinem Cafe-Restaurant im Erdgeschoß und den Gästezimmern dar­über. Er sah das gelbe Postauto, das kühn unter einem Parkver­botsschild abgestellt war, und er wußte, daß es sich um Tobys statischen Posten handelte. Toby hatte sein Leben lang an Post­autos geglaubt, er stahl sie, wo immer er sich befand, behauptete, daß niemand sie wahrnehme oder sich an sie erinnern könne. Er hatte neue Nummernschilder angebracht, aber sie sahen älter aus, als der Wagen. Smiley ging über den Platz. Ein Anschlag an der Bank besagte: Geöffnet Montag bis Donnerstag von 7 Uhr 45 bis 17 Uhr, Freitag von 7 Uhr 45 bis 18 Uhr 15.

»Grigoriew bevorzugt die Mittagszeit, weil in Thun niemand seine Essenspause für einen Gang auf die Bank verschwenden würde,« hatte Toby erklärt. »Er verwechselt ganz einfach Ruhe mit Sicherheit, George. Leere Räume, volle Aufmerksamkeit, Grigoriew verhält sich so auffällig, daß es schon peinlich ist, George.« Er ging über eine Fußgängerbrücke. Es war zehn vor elf. Er überquerte die Straße und hielt auf das kleine Hotel zu, das freie Sicht auf Grigoriews Bank gewährte. Spannung in ei­nem Vakum, dachte er, und lauschte auf das Stapfen seiner Füße und auf das Gurgeln des Wassers aus den Regentraufen; die Saison war zu Ende, und die Stadt lebte außerhalb der Zeit. Ver­brennen, George, ist immer Glückssache, Wie würde Karla es machen? fragte er sich. Was würde der Absolutist anders machen als wir? Smiley fiel nichts ein, er kam zu keiner eindeutigen Schlußfolgerung. Karla würde die operativen Informationen sammeln, dachte er, und dann auf gut Glück vorgehen. Er öff­nete die Tür des Cafes, und die warme Luft schlug ihm entgegen. Er ging auf einen Fenstertisch zu, den ein Schild als >Reserviert< auswies. »Ich warte auf Herrn Jakobi«, sagte er zu der Kellnerin. Sie nickte mißbilligend und schaute an ihm vorbei. Ihr Gesicht war blaß und völlig ausdruckslos. Er bestellte einen café crême im Glas, aber sie sagte, wenn er im Glas serviert werde, müsse er einen Schnaps dazunehmen.

»Dann in der Tasse«, kapitulierte er.

Warum hatte er ihn zuerst im Glas verlangt?

Spannung in einem Vakuum, dachte er wieder und sah sich um. Das Cafe war in neuantikem Stil eingerichtet. Gekreuzte Pla­stiklanzen hingen an Stuckpfeilern. Verborgene Lautsprecher spielten nichtssagende Musik, die Stücke wurden von einer dis­kreten Stimme in jeweils einer anderen Sprache angekündigt. In einer Ecke spielten vier Männer schweigend Karten. Er schaute zum Fenster hinaus auf den leeren Platz. Ein Junge fuhr auf ei­nem Rad vorbei. Er trug eine rote Wollmütze, und die Mütze bewegte sich die Straße hinunter wie eine Fackel, bis der Nebel sie auslöschte. Der Bankeingang bestand aus einer Doppeltür mit einer elektronischen Lichtschranke. Er sah auf die Uhr. Zehn nach elf. Eine Registrierkasse klingelte. Eine Kaffeema­schine zischte. Einer der Kartenspieler war am Mischen. An den Wänden hingen Holzplatten: tanzende Paare in Nationaltracht. Die Lampen waren aus Schmiedeeisen, doch das Licht kam von kreisförmig an der Decke angebrachten Neonröhren, und es war sehr grell. Er dachte an Hongkong mit seinen bayerischen Bier­kellern im fünfzehnten Stock, und wie damals hatte er das Ge­fühl, auf Erklärungen zu warten, die nie kommen würden. Und dabei geht es heute nur um die Vorbereitung, dachte er: Heute findet nicht einmal der Anstoß statt. Er schaute wieder auf die Bank. Niemand ging hinein, niemand kam heraus. Ihm war, als habe er sein ganzes Leben auf etwas gewartet, das er nicht mehr definieren konnte: Vielleicht könnte man es Entschluß nennen. Er erinnerte sich an Ann und an ihren letzten Spaziergang. Ent­schluß im Vakuum. Er hörte einen Stuhl knarzen, sah die Hand, die Toby ihm nach Schweizer Art zum Schütteln hinhielt, und Tobys strahlendes Gesicht, das glänzte, als komme er von einem Waldlauf.

»Die Grigoriews haben das Haus in Elfenau vor fünf Minuten verlassen«, sagte er ruhig. »Die Grigoriewa fährt. Wahrschein­lich kommen sie sowieso unterwegs um.«