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»Und was tun sie nach dem Mittagessen?«

Toby nickte heftig, als bedürfe die Frage keiner Klärung.

»Natürlich«, sagte er. »Genau das. George, nur Mut. Der Bur­sche wird gefügig sein, glauben Sie mir. Sie haben nie eine derar­tige Frau gehabt. Und Natascha ist ein süßes Kind.« Er senkte die Stimme. »Karla ist sein Nährvater. So einfach ist das. Aber die einfachen Dinge verstehen Sie nicht immer, George. Glauben Sie, die Grigoriewa wird zulassen, daß er die neue Wohnung aufgibt? Den Mercedes?«

Alexandras allwöchentlicher Besuch kam, wie immer, pünkt­lich, wie immer um dieselbe Zeit, am Freitag nach der Mittags­ruhe. Gegessen wurde um ein Uhr, und freitags gab es kalten Braten, Rösti und Apfelkompott oder vielleicht Pflaumen, je nach der Jahreszeit, aber sie konnte nichts essen, und manchmal würgte sie so lange, bis sie sich übergab, oder sie rannte auf die Toilette oder rief Felicitas-Felicitas und beklagte sich in den ge­meinsten Ausdrücken über die Qualität der Mahlzeiten. Die Oberin zeigte sich immer sehr betroffen darüber. Das Heim war stolz darauf, das Obst aus eigenem Anbau zu beziehen, und die Werbebroschüren in Felicitas-Felicitas' Büro enthielten viele Fotos von Früchten und blühenden Bäumen und Alpenbächen und Bergen, alles bunt durcheinandergewürfelt, als ob der Liebe Gott oder die Schwestern oder Dr. Rüedi diese ganze Pracht ei­gens für die Heiminsassinnen geschaffen hätten. Nach dem Mit­tagessen kam eine Ruhestunde, und freitags empfand Alexandra diese Stunde als ganz besonders schlimm, die schlimmste der ganzen Woche, wenn sie sich auf die weiße Bettstatt legen muß­te, angeblich, um sich zu entspannen, während sie den nächstbe­sten Gott anrief und ihn bat, er möge Onkel Anton überfahren oder einen Herzanfall erleiden oder am allerbesten ganz und gar verschwinden lassen - wegsperren mit ihrer eigenen Vergangen­heit, ihren Geheimnissen und ihrem Namen Tatjana. Sie dachte an seine randlose Brille, und in ihrer Phantasie trieb sie ihm diese Brille in den Schädel, so daß sie auf der anderen Seite wieder her­auskam zusammen mit seinen Augen, und Alexandra, statt sei­nem wäßrigen Blick zu begegnen, direkt durch ihn hindurch auf die Welt draußen schauen konnte.

Und jetzt war die Ruhezeit wenigstens vorbei, und Alexandra stand, sonntäglich angezogen, in dem leeren Speiseraum und blickte durch das Fenster auf das Pförtnerhaus, während zwei dienende Nonnen den gefliesten Boden schrubbten. Ihr war Übel. Klump, dachte sie. Fahr dein blödes Rad zu Klump und dich dazu. Andere Mädchen bekamen auch Besuch, aber nur samstags, und keine hatte einen Onkel Anton, nur wenige be­kamen männlichen Besuch irgendwelcher Art, meist kamen bläßliche Tanten und gelangweilte Schwestern. Und keiner wurde Felicitas-Felicitas' Arbeitszimmer zur Verfügung gestellt, damit sie den Besucher hinter verschlossener Tür allein empfan­gen könne. Das war ein Privileg, das allein Alexandra und Onkel Anton genossen, wie Schwester Béatitude nicht müde wurde zu betonen. Doch Alexandra hätte diese Vergünstigung und noch etliche dazu liebend gern für das Privileg eingetauscht, keinerlei Besuch von Onkel Anton zu erhalten.

Das Tor am Pförtnerhaus ging auf, und sie fing absichtlich an zu zittern, schüttelte ihre Hände in den Gelenken, als habe sie eine Maus, eine Spinne oder einen nackten Mann vor sich gese­hen. Eine rundliche Gestalt in einem braunen Anzug radelte die Anfahrt herauf. Aus seiner Bemühtheit konnte sie schließen, daß er kein geübter Radfahrer war. Er kam nicht von weit und brachte auch keine Frische von draußen mit. Es mochte brü­tend heiß sein, Onkel Anton schwitzte nicht und kochte nicht. Es mochte in Strömen regnen, Onkel Antons Mackintosh und Hut würden, wenn er am Haupttor ankam, kaum naß sein, und seine Schuhe waren nie schmutzig. Nur vor drei Wochen, oder war's vor drei Jahren, als gewaltige Massen von Schnee gefallen waren und einen zusätzlichen Wall von einem Meter Höhe um das tote Schloß gezogen hatten, sah Onkel Anton annähernd wie ein echter Mensch aus, der aus echten Elementen kam: Wie er so in seinen dicken Stiefeln, seinem Anorak und seiner Pelz­kappe an den Tannen entlang den Pfad heraufstapfte, trat er ge­radewegs aus Erinnerungen, von denen sie nie sprechen durfte. Und als er sie umarmte, sie »mein Töchterchen« nannte, seine großen Handschuhe auf Felicitas-Felicitas' glänzend polierten Tisch knallte, da spürte sie ein Gefühl der Verwandtschaft und eine Hoffnung in sich hochsteigen, so übermächtig, daß sie sich noch Tage später dabei ertappte, wie sie in der Erinnerung daran lächelte.

»Er war so warm«, vertraute sie Schwester Béatitude in ihrem bißchen Französisch an. »Er hat mich im Arm gehalten, wie ei­nen Freund! Warum macht der Schnee ihn so zärtlich?«

Doch heute sah man nur Matsch und Nebel und große, weiche Flocken, die auf dem gelben Kies nicht liegenbleiben würden. Er kommt in einem Wagen, Sascha - hatte Schwester Beatitude einmal zu ihr gesagt -, mit einer Frau, Sascha. Beatitude hatte sie gesehen. Zweimal. Sie natürlich als gute Schweizerin beobach­tet. Sie hatten Fahrräder auf das Autodach geschnallt, auf den Kopf gestellt, und die Frau saß am Steuer, eine große, starke Frau, ein bißchen wie Mutter Felicitas, bloß nicht so christlich, mit Haaren, die rot genug waren, um einen Stier zu reizen. Wenn sie am Dorfrand ankamen, parkten sie den Wagen hinter der Scheune von Andreas Gertsch, und Onkel Anton nahm sein Fahrrad herunter und fuhr zum Pförtnerhaus. Doch die Frau blieb im Wagen, rauchte und las die Schweizer Illustrierte, manchmal schimpfte sie in den Rückspiegel, und ihr Rad blieb, während sie las, immer auf dem Dach, wie eine Sau, die auf dem Rücken liegt! Und stell dir vor! Onkel Antons Fahrrad war ge­setzeswidrig !Das Rad - als gute Schweizerin hatte Schwester Beatitude hierauf ganz selbstverständlich ihr Augenmerk gerich­tet -, Onkel Antons Rad hatte kein Schild, keine Zulassung, er machte sich strafbar, wie seine Frau, aber die war wahrscheinlich zu dick, um zu radeln!

Doch Alexandra ließen gesetzeswidrige Fahrräder kalt. Was sie interessierte, war das Auto. Welche Marke? Welche Farbe? Und vor allem, woher kam es? Aus Moskau? Aus Paris? Woher? Doch Schwester Beatitude war vom Lande und schlichten Ge­müts, für sie war in der Welt hinter den Bergen eine Stadt wie die andere. Was waren denn für Buchstaben auf dem Nummern­schild, um Himmels willen, du Dummkopf, schrie Alexandra. Schwester Beatitude hatte keine Ahnung. Schwester Béatitude schüttelte den Kopf, wie das tumbe Milchmädchen, das sie war. Von Fahrrädern und Kühen verstand sie etwas. Autos gingen über ihren Horizont.

Alexandra beobachtete, wie Grigoriew näherkam, sie wartete auf den Augenblick, wo er den Kopf nach vorne über die Lenk­stange neigen, sein ausladendes Hinterteil lüpfen und ein Bein­chen über den Sattel schwingen würde, als klettere er von einer Frau herunter. Sie sah, daß die kurze Fahrt sein Gesicht gerötet hatte, sie verfolgte, wie er die Mappe aus dem Gepäckträger über dem Hinterrad zog. Sie lief zur Tür und versuchte ihn zu küssen, zuerst auf die Wange und dann auf die Lippen, denn sie hatte sich vorgenommen, ihre Zunge als Willkommensgruß in seinen Mund zu stecken, doch er schusselte mit gesenktem Kopf an ihr vorbei, als sei er schon wieder auf dem Rückweg zu seiner Frau. »Grüß dich, Alexandra Borisowna«, hörte sie ihn aufgeregt flü­stern. Er sprach ihren Vaternamen aus, als sei er ein Staatsge­heimnis.

»Grüß dich, Onkel Anton«, antwortete sie, als Schwester Béati­tude sie grob am Arm packte und flüsterte, sie solle sich beneh­men, denn sonst . . .

Das Arbeitszimmer von Mutter Felicitas war bescheiden und prächtig zugleich. Es war klein und karg und sehr hygienisch, die Nonnen schrubbten und polierten es täglich, so daß es wie in ei­nem Schwimmbad roch. Doch ihre kleinen russischen Dinge glänzten wie Geschmeide. Sie besaß Ikonen und reich gerahmte Sepiafotografien von Prinzessinnen, die sie geliebt, und Bischö­fen, denen sie gedient hatte, und an ihrem Namenstag - oder war es ihr Geburtstag oder der des Bischofs? - brachte sie das alles nach unten und machte daraus eine Schaubühne mit Kerzen, ei­ner Jungfrau und dem Christkind. Alexandra wußte das, denn Felicitas hatte sie kommen lassen und neben sich gesetzt, ihr laut alte russische Gebete vorgelesen und Stücke aus der Liturgie im Marschrhythmus vorgesungen, ihr Plätzchen und Punsch gege­ben, nur um russische Gesellschaft zu haben an ihrem Namens­tag- oder war es Ostern oder Weihnachten gewesen? Die Russen sind die besten Menschen der Welt, hatte sie gesagt. Trotz der vielen Pillen, die sie genommen hatte, wurde Alexandra allmäh­lich klar, daß Felicitas-Felicitas stockbetrunken war. Sie hob ihr die Beine hoch, legte ein Kissen für sie zurecht, küßte sie aufs Haar und ließ sie auf dem Tweedsofa einschlafen, auf dem die El­tern saßen, wenn sie neue Patienten anmeldeten. Es war dasselbe Sofa, auf dem Alexandra nun saß und auf Onkel Anton starrte, der das kleine Notizbuch aus der Tasche zog. Sie bemerkte, daß er seinen braunen Tag hatte: brauner Anzug, braune Krawatte, braunes Hemd.