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»Du solltest dir braune Hosenklammern kaufen«, sagte sie zu ihm auf Russisch.

Onkel Anton lachte nicht. Um sein Notizbuch war ein strumpf­bandartiges Stück Gummi geschlungen, das er jetzt wie wider­willig löste, während er die offiziellen Lippen befeuchtete. Manchmal hielt Alexandra ihn für einen Polizisten, manchmal für einen verkleideten Priester, manchmal für einen Rechtsan­walt oder Schullehrer und manchmal sogar für eine besondere Art von Arzt. Doch was immer er auch war, er wollte ihr durch das Gummiband und das Notizbuch sowie durch den Ausdruck nervösen Wohlwollens klar zu verstehen geben, daß es da ein Höheres Gesetz gab, für das weder er noch sie persönlich ver­antwortlich waren, daß er nicht ihr Kerkermeister war, daß er sie, wenn schon nicht um ihre Liebe, so doch um Vergebung für die Umstände bat, die ihn zwangen, sie von der Welt abzuschlie­ßen. Und sie sollte auch wissen, daß er traurig war, sogar einsam und ganz sicherlich ihr zugetan und daß er in einer besseren Welt der Onkel gewesen wäre, der ihr getreulich Geburtstagsge­schenke, Weihnachtsgeschenke gebracht, ihr jedes Jahr- >meine Sascha, wie groß du bist< - unters Kinn gegriffen und unauffällig eine ihrer Rundungen betätschelt hätte, um anzudeuten, >meine Sascha, bald bist du reif für den Topf<.

»Wie geht's mit deiner Lektüre vorwärts, Alexandra?« fragte er, während er das vor ihm liegende Notizbuch glattstrich und nach der Liste blätterte. Das war Geplauder. Das war nicht das Hö­here Gesetz. Das war wie ein Gespräch über das Wetter, oder was für ein hübsches Kleid sie trug, oder wie glücklich sie heute aussah, ganz und gar nicht so wie letzte Woche.

»Ich heiße Tatjana und komme vom Mond«, antwortete sie. Onkel Anton tat, als habe sie nichts gesagt, sie hatte also viel­leicht nur zu sich selbst gesprochen, lautlos in Gedanken, wo sie sich eine Menge Dinge erzählte.

»Bist du mit der Novelle von Turgenjew fertig, die ich dir ge­bracht hatte?« fragte er. »Du hast inzwischen wohl die >Früh-lingsströme< gelesen, nehme ich an.«

»Mutter Felicitas liest sie mir vor, aber sie ist zur Zeit heiser«, sagte Alexandra.

»So.«

Das war eine Lüge. Sie hatte ihr Essen auf den Boden geworfen, und um sie zu strafen, las Felicitas-Felicitas ihr nicht mehr vor. Onkel Anton hatte in seinem Notizbuch die Seite mit der Liste gefunden, und auch seinen Kugelschreiber hatte er gefunden, ei­nen Silberstift mit Gleitmine, auf den er ungemein stolz zu sein schien.

»So«, sagte er. »Also dann, Alexandra!«

Plötzlich wollte Alexandra nicht mehr auf seine Fragen antwor­ten. Plötzlich war ihr das unmöglich. Sie überlegte, ob sie ihm nicht die Hosen herunterziehen und ihn verknuspern sollte. Sie überlegte, ob sie nicht wie die Französin in eine Ecke machen sollte. Sie zeigte ihm die blutig gekauten Stellen an ihren Hän­den. Sie wollte ihm durch ihr eigenes göttliches Blut zu verstehen geben, daß sie seine erste Frage nicht hören wollte. Sie stand auf, hielt ihm eine Hand hin, während sie die Zähne in die andere grub. Sie wollte Onkel Anton ein für allemal klarmachen, daß die Frage, die er im Kopf hatte, obszön war, beleidigend, unan­nehmbar und verrückt, und zu dieser Demonstration hatte sie das nächstliegende und beste Beispiel gewählt, das Beispiel Chri­sti: Hing Er nicht an Felicitas' Wand, direkt vor ihr, und Blut lief an seinen Handgelenken herab? Ich hab' das für dich vergossen, Onkel Anton, erklärte sie und dachte jetzt an Ostern, an Felicitas und ihren Gang rund um das Schloß beim Eierpecken. Bitte. Das ist mein Blut, Onkel Anton. Ich hab' es für dich vergossen. Doch die andere Hand hielt sie auf den Mund gepreßt, und alles, was sie mit ihrer Sprechstimme zustande brachte, war ein Schluch­zer. Schließlich setzte sie sich stirnrunzelnd wieder hin, die im Schoß verschränkten Hände bluteten nicht eigentlich, aber sie waren zumindest naß von ihrem Speichel.

Onkel Anton hielt in der Rechten das Notizbuch und in der Lin­ken den Stift. Er war der einzige Linkshänder, den sie kannte, und wenn sie ihm beim Schreiben zusah, fragte sie sich manch­mal, ob er nicht ein Spiegelbild war und sein echtes Ich im Wagen hinter der Scheune von Andreas Gertsch saß. Sie dachte, daß man auf diese Weise glänzend mit dem fertig werden könnte, was Doktor Rüedli eine gespaltene Natur nannte - man schickte eine Hälfte auf einem Fahrrad weg, während die andere Hälfte bei der rothaarigen Frau im Wagen blieb. Felicitas-Felicitas, wenn du mir dein pop-pop Moped leihst, dann setz ich meinen schlechten Teil darauf und schick ihn weg.

Plötzlich hörte sie sich sprechen. Es war ein herrlicher Klang. Ein Klang, den sie an den kräftigen, gesunden Stimmen um sich herum liebte: Politiker im Rundfunk, Ärzte, wenn sie sich über ihr Bett beugten.

»Onkel Anton, wo kommst du bitte her?« hörte sie sich mit ge­messener Neugierde fragen. »Onkel Anton, paß bitte genau auf, während ich jetzt eine Aussage mache. Bevor du mir nicht sagst, wer du bist und ob du wirklich mein Onkel bist, und was für ein Nummernschild dein großer, schwarzer Wagen hat, beantworte ich keine einzige deiner Fragen mehr. Tut mir leid, aber es geht nicht anders. Ich will auch wissen, ob die Rothaarige deine Frau ist oder Felicitas-Felicitas mit gefärbtem Haar, wie Schwester Béatitude immer sagt.«

Doch Alexandras Geist sprach zu oft Wörter, die ihr Mund nicht weitergab, sodaß die Wörter in ihr herumflogen, unfreiwillig von ihr bewacht, so unfreiwillig wie Onkel Anton vorgab, sie selbst zu bewachen.

»Wer gibt dir das Geld, damit du Felicitas-Felicitas für meine Inhaftierung bezahlen kannst? Wer bezahlt Dr. Rüedi? Wer be­stimmt, welche Fragen jede Woche in dein Notizbuch kommen? An wen gibst du die Antworten weiter, die du so gewissenhaft niederschreibst?«

Doch wieder flogen die Wörter in ihr herum wie die Vögel in Krankos Gewächshaus während der Obstzeit, und es gab nichts, womit Alexandra sie bewegen konnte, herauszukommen.

»Also?« sagte Onkel Anton zum drittenmal, mit dem verwa­schenen Lächeln, das Dr. Rüedi aufsetzte, wenn er ihr eine Spritze gab. »Würdest du mir zuerst einmal deinen vollen Na­men nennen, Alexandra?«

Alexandra hielt drei Finger in die Höhe und zählte wie ein braves Kind an ihnen ab. »Alexandra Borisowna Ostrakowa«, sagte sie mit kindlicher Stimme.

»Gut. Und wie hast du dich diese Woche gefühlt, Sascha?« Alexandra lächelte höflich.

»Danke, Onkel Anton. Ich habe mich diese Woche viel besser gefühlt. Dr. Rüedi sagt, daß ich jetzt überm Berg bin.«

»Hast du irgendwie - per Post, Telefon oder mündlich - eine Botschaft von außerhalb bekommen?«

Alexandra hatte nun beschlossen, eine Heilige zu sein. Sie faltete die Hände auf dem Schoß und legte den Kopf auf die Seite und stellte sich vor, sie sei eine von Felicitas-Felicitas' russisch-or­thodoxen Heiligen, die hinter dem Schreibtisch an der Wand hingen. Vera, der Glaube, Liubow, die Liebe; Sofia, Olga, Irina oder Xenia; alle die Namen, die Felicitas sie an jenem Abend lehrte, als sie ihr anvertraute, daß ihr richtiger Name >Hoffnung< sei - während Alexandras Name Alexandra oder Sascha war und nicht, aber schon ganz und gar nicht Tatjana, merk dir das. Alex­andra lächelte Onkel Anton an, und sie wußte, daß ihr Lächeln sublim war und tolerant und weise; und daß sie Gottes Stimme hörte und nicht die Onkel Antons; und Onkel Anton wußte das auch, denn er gab einen langen Seufzer von sich, legte das Notiz­buch beiseite und drückte auf die Klingel, um Mutter Felicitas zur Geldzeremonie herbeizurufen.