Aber ganz so einfach war es natürlich auch nicht. Nach wie vor sprachen fast fünf Prozent der diagnostizierten MS-Fälle nicht auf Sklerostatine oder andere Therapien an. Kliniker gingen dazu über, solche Fälle als »polimedikationsresistente MS« zu bezeichnen, ja in ihr sogar eine gesonderte Krankheit mit gleicher Symptomatik zu sehen.
Jasons Erstbehandlung allerdings war wie erwartet verlaufen. Ich hatte ihm eine minimale Dosis Tremex verordnet, und seither befand er sich in vollständiger Remission. Jedenfalls bis zu der Woche, in der E. D. mit der Subtilität eines Tropensturms eintraf und parlamentarische Berater und Presseattachés wie zerfleddertes Altpapier durch die Flure wehte.
E. D. war Washington, wir waren Florida; er war Geschäftsführung, wir waren Wissenschaft und Technik. Jason balancierte ein wenig heikel zwischen den beiden Polen. Grundsätzlich war es seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die Vorgaben des Lenkungsausschusses umgesetzt wurden, aber er war den Bürokraten oft genug auch entgegengetreten, sodass die Wissenschaftsleute aufgehört hatten, von Nepotismus zu sprechen, und dazu übergegangen waren, ihm Drinks zu spendieren. Das Problem bestand laut Jason darin, dass E. D. sich nicht damit zufrieden gab, das Mars-Projekt auf den Weg zu bringen, nein, er wollte es auch in allen Einzelheiten steuern, oft aus politischen Gründen, wenn er etwa Aufträge an zweifelhafte Anbieter vergab, um sich auf diese Weise die Unterstützung des Kongresses zu kaufen. Die Belegschaft spottete gern über ihn, schüttelte ihm aber auch ebenso gern die Hand, wenn er vor Ort war. Die diesjährige Stippvisite gipfelte in einer Ansprache im Perihelion-Auditorium. Wir fanden uns alle ein, folgsam wie Schulkinder, aber mit größerer, durchaus plausibler Begeisterung, und sobald das Publikum seine Plätze eingenommen hatte, erhob sich Jason, um seinen Vater vorzustellen. Ich sah genau hin, als er die Stufen zur Bühne erklomm und vor das Mikrofon trat. Ich beobachtete, wie er die linke Hand schlaff auf Taillenhöhe hielt, wie er sich, etwas unbeholfen auf dem Absatz drehend, seinem Vater zuwandte und ihm die Hand schüttelte. Er führte seinen Vater kurz, aber liebenswürdig ein, dann mischte er sich unter die Schar der Würdenträger, die am hinteren Ende der Bühne saßen. E. D. trat nach vorn. Er war in der Woche vor Weihnachten sechzig geworden, ging aber ohne Weiteres als vitaler Fünfziger durch: der Bauch unter dem dreiteiligen Anzug war flach, das schüttere Haar zu einem schneidigen Militärschnitt gestutzt. Was er vortrug, konnte man durchaus als Wahlkampfrede verstehen: Er pries die Regierung Clayton für ihren Weitblick, die versammelte Belegschaft für das Engagement, mit der sie die »Perihelion-Vision« verfolgte, seinen Sohn für seine »inspirierende Leitungstätigkeit« und die Ingenieure und Techniker dafür, dass sie »einen Traum zum Leben« erweckten und, »wenn es uns gelingt«, das Leben auf einen sterilen Planeten trugen, damit »neue Hoffnung für diese Welt, die wir noch immer als unsere Heimat bezeichnen«, sprießen ließen. Beifall, Winken, ein wildes Grinsen, und dann war er wieder verschwunden, weggezaubert von der Horde seiner Leibwächter.
Ich erwischte Jason eine Stunde später in der Managerkantine, wo er an einem kleinen Tisch saß und vorgab, in einem Sonderdruck der Astrophysics Review zu lesen.
Ich setzte mich auf den Stuhl ihm gegenüber. »Wie schlimm ist es denn?«
Er lächelte schwach. »Du meinst nicht etwa den Wirbelwindbesuch meines Vaters?«
»Du weißt, was ich meine.«
Er senkte die Stimme. »Ich habe die Medikamente brav genommen. Regelmäßig, jeden Morgen, jeden Abend. Aber es ist wieder da. Seit heute Morgen. Kribbeln im linken Arm, im linken Bein. Und es wird schlimmer. Fast stündlich. Schlimmer als je zuvor. Es ist, als würde Strom durch eine Seite meines Körpers laufen.«
»Hast du Zeit, in die Ambulanz zu kommen?«
»Zeit hab ich, aber…« Seine Augen glitzerten. »Ich weiß nicht, ob ich in der Lage bin. Ich will dich nicht erschrecken, aber ich bin froh, dass du hergekommen bist. Im Moment bin ich mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt laufen kann. Nach E. D.s Rede hab ich es noch bis hierher geschafft. Doch ich glaube, ich würde umfallen, wenn ich jetzt versuche aufzustehen. Gehen kann ich bestimmt nicht. Ty — ich kann nicht gehen.«
»Ich hol Hilfe.«
Er straffte sich. »Das tust du auf keinen Fall. Falls nötig, kann ich hier sitzen, bis niemand mehr da ist außer dem Nachtwächter.«
»Das ist doch absurd.«
»Oder du kannst mir diskret helfen, aufzustehen. Wie weit ist die Ambulanz weg, zwanzig, dreißig Meter? Wenn du mich am Arm nimmst und ein heiter freundliches Gesicht machst, schaffen wir es vielleicht bis dahin, ohne allzu viel Aufmerksamkeit zu erregen.«
Letzten Endes erklärte ich mich damit einverstanden, nicht, weil ich die Scharade guthieß, sondern weil es offenbar die einzige Möglichkeit war, ihn in mein Büro zu bekommen. Ich ergriff seinen linken Arm, er stützte seine rechte Hand auf die Tischkante und stemmte sich hoch. Es gelang uns, ohne größeres Schwanken durch die Cafeteria zu kommen, obwohl Jason den linken Fuß auf kaum zu übersehende Weise nachzog — zum Glück blickte niemand genauer hin. Im Korridor gingen wir dicht an der Wand entlang, wo das Schlurfen weniger auffällig war. Als plötzlich einer der Manager auftauchte, flüsterte Jason »Stopp!«, und wir stellten uns wie in beiläufiger Unterhaltung auf; Jason lehnte gegen einen Schaukasten, klammerte sich mit der rechten Hand so krampfhaft an dem Stahlregal fest, dass das Blut aus seinen Fingerknöcheln wich und ihm Schweißperlen auf die Stirn traten. Der Manager ging mit einem stummen Kopfnicken an uns vorbei.
Als wir schließlich den Eingang der Ambulanz erreichten, musste ich ihn bereits mehr oder weniger tragen. Zum Glück war Molly Seagram nicht am Platz — sobald ich die Tür geschlossen hatte, waren wir allein. Ich half Jason auf eine Liege in einem der Untersuchungszimmer, dann ging ich noch mal zum Empfang und hinterließ eine Notiz für Molly, damit gewährleistet war, dass wir ungestört blieben.
Als ich ins Untersuchungszimmer zurückkehrte, weinte Jason. Nicht laut heraus, aber ihm waren Tränen übers Gesicht gelaufen und hingen jetzt an seinem Kinn. »Es ist so furchtbar.« Er wollte mir nicht in die Augen sehen. »Ich konnte nichts machen. Tut mir so Leid, aber ich konnte nichts dagegen machen.«
Er hatte die Kontrolle über seine Blase eingebüßt.
Nachdem ich ihm in einen Krankenhauskittel geholfen hatte, spülte ich seine Kleidung im Waschbecken des Sprechzimmers aus und legte sie zum Trocknen an ein sonniges Fenster im nur selten benutzten Lagerraum hinter den Arzneischränken. Da heute kein großer Betrieb herrschte, hatte ich eine passende Begründung, um Molly für den Rest des Nachmittags frei zu geben.
Jason gewann seine Fassung halbwegs zurück, wenn er in dem Papierkittel auch einigermaßen kläglich aussah. »Du hast gesagt, es sei eine heilbare Krankheit. Was ist falsch gelaufen?«
»Man kann die Krankheit behandeln. Meistens, bei der Mehrzahl der Patienten. Aber es gibt Ausnahmen.«
»Wie, und ich bin eine davon? Ich habe in der Arschkartenlotterie gewonnen?«
»Du hast einen Rückfall. Das ist typisch für die Krankheit — Phasen starker Behinderung, gefolgt von Abschnitten der Remission. Vielleicht sprichst du nur langsam auf die Behandlung an. In einigen Fällen muss das Medikament erst einen gewissen Pegel im Körper erreicht haben, bevor es richtig wirken kann.«
»Es ist sechs Monate her, seit du das Rezept ausgeschrieben hast. Und es geht mir schlechter, nicht besser.«
»Wir können dich auf ein anderes Sklerostatin setzen und sehen, ob das besser wirkt. Die sind aber chemisch alle sehr ähnlich.«