Ich öffnete einen der Umschläge, zog den vergilbten Bogen Papier heraus und faltete ihn auseinander.
Es war unliniertes Papier, aber die Handschrift zog sich dennoch in kurzen, sehr ordentlichen Parallelen über die Seite. Liebe Bel, las ich. Ich dachte, gestern Abend am Telefon hätte ich bereits alles gesagt, aber ich kann nicht aufhören, an Dich zu denken. Dies zu schreiben ist so, als seist du mir näher, wenn auch nicht so nahe, wie ich mir wünschen würde. Nicht so nahe wie im letzten August! Jede Nacht, in der ich mich nicht neben dich legen kann, spiel ich mir diese Erinnerung vor wie ein Videoband.
Es folgte noch mehr, aber ich las nicht weiter. Ich faltete den Brief zusammen und steckte ihn in seinen Umschlag zurück, machte den Karton zu und stellte ihn dahin, wo er hingehörte.
Am nächsten Morgen klopfte es an der Tür. Ich öffnete sie in der Erwartung, Carol oder einen Bediensteten aus dem Großen Haus vor mir zu sehen.
Aber es war nicht Carol. Es war Diane. Diane in einem mitternachtsblauen bodenlangen Rock und einer Bluse mit hohem Kragen. Sie rang die Hände unter der Brust und sah mich mit funkelnden Augen an. »Es tut mir so Leid«, sagte sie. »Ich bin sofort gekommen, als ich davon hörte.«
Aber zu spät. Zehn Minuten vorher hatte das Krankenhaus angerufen. Belinda Dupree war gestorben, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben.
Bei der Trauerfeier hielt E. D. eine kurze, eher verlegene Ansprache und sagte nichts von Bedeutung. Ich sprach, Diane sprach, Carol wollte eigentlich sprechen, war aber am Ende zu sehr in Tränen aufgelöst oder zu alkoholisiert, um die Kanzel zu besteigen.
Dianes Rede war die bewegendste, angemessen und von Herzen kommend, ein Katalog der Freundlichkeiten, die meine Mutter über den Rasen exportiert hatte wie Geschenke aus einem reicheren, liebevolleren Land. Ich war ihr dankbar. Der Rest der Zeremonie wirkte im Vergleich dazu mechanisch: flüchtig bekannte Gesichter lösten sich aus der Menge, um Erbauliches oder Halbwahres aufzusagen, und ich dankte ihnen und lächelte, dankte ihnen und lächelte, bis es Zeit war, zum Grab zu gehen.
Die Feier wurde am Abend mit einem Empfang im Großen Haus fortgesetzt, wo ich Beileidsbekundungen von E. D.s Geschäftspartnern, die ich alle nicht kannte, die aber zum Teil meinen Vater gekannt hatten, sowie von den Hausbediensteten entgegennahm, deren Trauer echter und schwerer zu ertragen war.
Partyserviceleute schlängelten sich mit gefüllten Weingläsern auf Silbertabletts durch die Menge und ich trank mehr, als mir gut tat, bis Diane, die ebenfalls geschmeidig durch die Gästeschar geglitten war, mich von einer weiteren Runde »herzlicher Anteilnahme für Ihren schmerzlichen Verlust« fortzog und sagte: »Du brauchst frische Luft.«
»Es ist kalt draußen.«
»Wenn du so weitertrinkst, wirst du unleidlich. Bist schon auf dem besten Weg dazu. Komm, Ty. Nur ein paar Minuten.«
Also raus auf den Rasen. Den braunen Mittwinterrasen. Den gleichen Rasen, auf dem wir vor fast zwanzig Jahren die Anfangsmomente des Spins erlebt hatten. Wir schritten den Umkreis des Großen Hauses ab, schlenderten eigentlich eher, trotz der steifen Märzbrise und des körnigen Schnees, der sich auf allen geschützten und schattigen Stellen gehalten hatte.
Alles Naheliegende hatten wir bereits gesagt. Wir hatten biografische Daten abgeglichen: meine berufliche Laufbahn, der Umzug nach Florida, meine Arbeit bei Perihelion; ihr Leben mit Simon, der allmähliche Übergang von NK zu einer milderen Orthodoxie, die der Entrückung mit Frömmigkeit und Selbstzucht entgegensah. (»Wir essen kein Fleisch«, hatte sie mir anvertraut. »Wir tragen keine Kunstfasern.« Und wie ich so, ein bisschen benommen, neben ihr ging, fragte ich mich, ob ich in ihren Augen abscheulich oder abstoßend geworden war, ob sie die Schinken-und-Käse-Beimischung meines Atems registrierte, oder die Baumwoll/Polyester-Jacke, die ich trug.) Sie hatte sich nicht sehr verändert, war allerdings etwas dünner als früher, dünner vielleicht als zuträglich, denn ihre Kinnlinie zeichnete sich doch recht schroff vor dem hohen, engen Kragen ab.
Ich war noch nüchtern genug, ihr dafür zu danken, dass sie mich nüchtern machen wollte.
»Ich musste da auch dringend weg. All diese Leute, die E. D. eingeladen hat. Keiner von denen hat deine Mutter in irgendeiner relevanten Weise gekannt, kein einziger. Die unterhalten sich alle über Mittelzuweisungen oder Nutzlasttonnagen. Schließen Geschäfte ab oder bereiten sie vor.«
»Vielleicht ist das E. D.s Art, ihr Ehre zu erweisen. Den Leichenschmaus mit politischer Prominenz würzen.«
»Das ist eine sehr großmütige Interpretation.«
»Er macht dich immer noch wütend.« Und so leicht, dachte ich.
»E. D.? Natürlich. Obwohl es gütiger wäre, ihm zu vergeben. Was du anscheinend getan hast.«
»Ich habe ihm weniger zu vergeben. Er ist ja nicht mein Vater.«
Ich hatte das ganz ohne Hintergedanken, ja ohne Absicht, ausgesprochen. Aber noch immer spukte das, was Jason mir vor einigen Wochen erzählt hatte, in meinen Gedanken herum. Ich verschluckte mich an der Bemerkung, wollte sie schon zurücknehmen, bevor ich sie ganz ausgesprochen hatte, wurde rot, als sie heraus war. Diane sah mich erst verständnislos an, dann weiteten sich ihre Augen und ein Ausdruck trat in ihr Gesicht, in dem sich Zorn und Verlegenheit so deutlich mischten, dass ich ihn trotz der trüben Lichtverhältnisse ohne Schwierigkeiten interpretieren konnte.
»Du hast mit Jason gesprochen«, sagte sie kalt.
»Tut mir Leid…«
»Wie muss man sich das genau vorstellen? Ihr beiden sitzt zusammen und macht euch über mich lustig?«
»Natürlich nicht. Er… Was Jason gesagt hat, das kam alles von den Medikamenten.«
Ein weiterer grotesker Fauxpas. Sie sprang sofort darauf an: »Was für Medikamente?«
»Ich bin sein praktischer Arzt. Manchmal verschreib ich ihm etwas. Ist das irgendwie wichtig?«
»Was sind das für Medikamente, die dich veranlassen, ein Versprechen zu brechen, Tyler? Er hat versprochen, dir nie etwas davon zu sagen… Ist Jason krank? Ist er deshalb nicht zur Beerdigung gekommen?«
»Er hat viel zu tun. Es sind nur noch wenige Tage bis zu den ersten Raketenstarts.«
»Aber aus irgendeinem Grund ist er bei dir in Behandlung.«
»Ich kann mich hier nicht über seine Krankengeschichte auslassen, das würde gegen die ärztliche Schweigepflicht verstoßen«, sagte ich, obwohl mir klar war, dass ich damit erst recht ihr Misstrauen erregen würde. Ich verriet sein Geheimnis gerade dadurch, dass ich darauf bestand, es zu wahren.
»Das wäre typisch für ihn, krank zu werden und keinem von uns etwas zu sagen. Er ist so, so hermetisch verschlossen…«
»Vielleicht solltest du die Initiative ergreifen. Ruf ihn einfach mal an.«
»Glaubst du denn, das tue ich nicht? Hat er dir das auch erzählt? Eine Zeit lang hab ich ihn jede Woche angerufen. Aber er hat dann einfach diesen hohlen Charme angeknipst und sich geweigert, irgendwas von Bedeutung zu sagen. Wie geht’s, mir geht’s gut, was gibt’s Neues, nichts. Er will nichts von mir hören, Tyler, er ist voll auf E. D.s Seite. Ich bin ihm nur peinlich.« Sie machte eine kurze Pause. »Es sei denn, daran hätte sich etwas geändert.«
»Ich weiß nicht, was sich geändert hat. Aber vielleicht solltest du ihn besuchen, direkt mit ihm reden.«
»Wie sollte ich das anfangen?«