Das hieß, dass die Beobachtungssatelliten nur wenige Wochen nach der Saatgutarmada gestartet werden mussten, und die bemannten NEP-Schiffe, falls die Ergebnisse verheißungsvoll aussahen, unmittelbar danach.
Ich erhielt einen weiteren spätabendlichen Anruf von Diane, einen Tag nachdem die Beobachtungssatelliten aufgestiegen waren (ihre Datenpakete waren nach wenigen Stunden geborgen worden, befanden sich aber noch auf dem Weg nach Pasadena, um dort im JPL, dem »Labor für Düsenantrieb«, analysiert zu werden). Sie wirkte bedrückt, und als ich nachbohrte, gestand sie, dass sie vorübergehend entlassen worden war, mindestens bis Juni. Sie und Simon waren dadurch mit ihrer Miete in Rückstand geraten. E. D. konnte sie nicht um Geld bitten, und mit Carol zu reden, war unmöglich. Im Moment versuchte sie Mut zu sammeln, um Jason anzusprechen, aber die damit verbundene Demütigung machte sie auch nicht fröhlicher.
»Um was für eine Summe geht es denn, Diane?«
»Tyler, ich wollte nicht…«
»Ich weiß. Du hast nicht gefragt. Ich mache ein Angebot.«
»Na ja… in diesem Monat, also, fünfhundert Dollar würden uns schon sehr weiterhelfen.«
»Das Pfeifenstielvermögen ist also aufgebraucht.«
»Simons Treuhandfonds ist ausgelaufen. Es ist schon noch Familienvermögen da, aber Simons Familie spricht nicht mit ihm.«
»Wenn ich dir einen Scheck schicke, würde er mitkriegen, was läuft?«
»Es würde ihm nicht gefallen. Ich hab mir gedacht, ich erzähl ihm, ich hätte eine alte Versicherungspolice gefunden und zu Geld gemacht. So was in der Richtung. Die Sorte Lüge, die nicht als Sünde zählt. Hoffe ich.«
»Ihr seid noch immer unter der Collier-Street-Adresse zu erreichen?« An die ich jedes Jahr eine höflich neutrale Weihnachtskarte schickte und von wo ich jedes Mal eine mit typischen Winter-Motiven zurückbekam, unterzeichnet mit Alles Gute und Gottes Segen, Simon und Diane Townsend.
»Ja«, sagte sie. Und dann: »Danke, Tyler. Vielen, vielen Dank. Weißt du, das ist unglaublich beschämend.«
»Es sind schwere Zeiten für viele.«
»Dir geht’s aber gut?«
»Ja, mir geht’s gut.«
Ich schickte ihr sechs Schecks, jeder auf den fünfzehnten des Monats vordatiert, Geld für ein halbes Jahr. Ich war mir nicht sicher, ob es unsere Freundschaft festigen oder vergiften würde. Oder ob es überhaupt eine Rolle spielte.
Die Messdaten zeugten von einer Welt, die noch immer trockener war als die Erde, aber bedeckt von Seen, die glänzenden türkisfarbenen Kupfertischintarsien ähnelten; ein von Wolkenbändern sanft umspielter Planet mit stürmischen Niederschlägen, die auf die dem Wind zugewandten Hänge uralter Vulkane gepeitscht wurden und Flussbecken ebenso speisten wie schlammige Flachlanddeltas, so grün wie ein gepflegter Vorstadtrasen.
Die großen Trägerraketen standen aufgetankt auf ihren Plattformen; auf Startplätzen und Kosmodromen rund um die Welt bestiegen annähernd achthundert Menschen die Abschussrampen, um sich in schrankgroße Kammern einzuschließen und einem Schicksal ins Auge zu blicken, das alles andere als gewiss war. Die auf diesen Trägerraketen installierten NEP-Archen enthielten (zusätzlich zu den Astronauten) im Embryostadium befindliche Schafe, Rinder, Pferde, Schweine und Ziegen sowie die Mutterschöße aus Stahl, aus denen sie, mit etwas Glück, ins Leben geholt werden konnten; die Samen von zehntausend Pflanzen, die Larven von Bienen und anderen nützlichen Insekten, biologisches Frachtgut, das die Reise und die Härten der Wiedergeburt überstehen würde oder auch nicht; Archive menschlichen Wissens sowohl in digitaler Form (inklusive der Technik, es zu lesen) als auch auf eng bedrucktem Papier; und schließlich Bauteile und Vorräte für einfache Behausungen, Solarstromgeneratoren, Treibhäuser, Wasserreinigungsanlagen, Feldlazarette. In einem Best-Case-Szenario würden alle Schiffe innerhalb einer Zeitspanne von wenigen Jahren, je nach Durchquerung der Spin-Membran, in etwa die gleichen Äquatorialebenen erreichen; im schlechtesten Fall könnte sogar ein einziges Schiff, sofern es in einigermaßen intaktem Zustand landete, seiner Mannschaft die Mittel in die Hand geben, die Akklimatisierungszeit zu überstehen.
Also ging es einmal mehr ins Perihelion-Auditorium, zusammen mit all denen, die nicht an die Küste gefahren waren, um das Ereignis live mitzuerleben. Ich saß ganz vorn neben Jason, und wir reckten die Hälse, um die Videoeinspielung der NASA sehen zu können, eine spektakuläre Totale der Startrampen vor der Küste, Stahlinseln, durch gewaltige Gleisbrücken verbunden, zehn riesige Prometheus-Trägerraketen (»Prometheus« genannt, soweit sie von Boeing oder Lockheed-Martin gebaut worden waren; die Russen, die Chinesen und die Europäer verwendeten die gleichen Schablonen, nannten sie aber anders und strichen sie anders an), in Scheinwerferlicht getaucht und wie weiß getünchte Zaunpfähle in den blauen Atlantik hineingestellt. Viel war für diesen Augenblick geopfert worden: Steuern und Schätze, Küstenlinien und Korallenriffe, Karrieren und manch ein Menschenleben (am Fuße jeder Rampe vor Canaveral befand sich eine Tafel mit den Namen der fünfzehn Bauarbeiter, die während der Montage ums Leben gekommen waren). Jasons Fuß klopfte einen wilden Rhythmus, während der Countdown in die letzte Minute ging, und ich fragte mich schon, ob es symptomatisch sei, doch er fing meinen Blick auf und sagte: »Ich bin nur aufgeregt. Du etwa nicht?«
Es hatte bereits Probleme gegeben. Weltweit waren achtzig dieser großen Trägerraketen montiert und für einen aufeinander abgestimmten Start präpariert worden, und da es sich um eine Neukonstruktion handelte, traten hier und da noch Fehler auf. Für vier Raketen war der Start schon wegen technischer Schwierigkeiten abgeblasen worden, und drei hatten ihren Countdown — für einen Start, der eigentlich weltweit zur gleichen Zeit erfolgen sollte — aus den üblichen Gründen unterbrochen: unsichere Treibstoffleitungen, störungsanfällige Software. So etwas war unvermeidlich und in der Planung auch einkalkuliert worden, dennoch wirkte es wie ein schlechtes Vorzeichen.
So vieles musste in so kurzer Zeit geschehen. Was wir diesmal verpflanzten, das war ja keine Biologie, sondern menschliche Geschichte, und diese menschliche Geschichte, hatte Jason gesagt, brannte wie ein Feuer im Vergleich zum trägen Gang der Evolution. (Als wir noch viel jünger waren, nach Beginn des Spins, aber noch bevor er das Große Haus verließ, hatte Jason diesen Gedanken gern mit Hilfe einer kleinen Vorführung veranschaulicht. »Streck die Arme aus«, pflegte er zu sagen, »zu beiden Seiten«, und wenn man dann in der gewünschten Kreuzhaltung dastand, fuhr er fort: »Vom linken Zeigefinger quer über dein Herz hinüber bis zum rechten Zeigefinger, das ist die Geschichte der Erde. Weißt du, was die menschliche Geschichte ist? Die Geschichte der Menschheit ist der Nagel auf deinem rechten Zeigefinger. Und nicht mal der ganze Nagel. Nur das kleine weiße Stück. Das Stück, das du abschneidest, wenn es zu lang wird. Das ist die Entdeckung des Feuers und die Erfindung der Schrift und Galileo und Newton und die Mondlandung und der 11. September und letzte Woche und heute Morgen. Gemessen an der Evolution sind wir Neugeborene. Gemessen an der Geologie existieren wir noch kaum.«)
Dann verkündete die NASA-Stimme: »Zündung«, und Jason saugte Luft durch die Zähne ein und wandte den Kopf halb ab, als neun von zehn Trägerraketen — hohle, mit explosiver Flüssigkeit gefüllte Röhren, höher als das Empire State Building — entgegen aller Logik der Schwerkraft und Trägheit himmelwärts explodierten, Tonnen von Treibstoff verbrannten, um die ersten Zentimeter Höhe zu gewinnen, und Meerwasser verdampften, um einen Schallwirbel abzupuffern, der sie andernfalls in Stücke gesägt hätte. Und dann war es, als hätten sie sich Leitern aus Dampf und Rauch gebaut und erkletterten diese mit inzwischen deutlich wahrzunehmender Geschwindigkeit, während Feuerfedern die rotierenden Wolken überholten, die sie erzeugt hatten. Auf und davon, wie jeder andere erfolgreiche Start: schnell und lebhaft wie ein Traum, dann auf und davon.