Die letzte Trägerrakete wurde von einem fehlerhaften Sensor aufgehalten und startete zehn Minuten später. Ihre Nutzlast würde nun den Mars erst tausend Jahre nach der übrigen Flotte erreichen, aber dies, wie gesagt, war bei der Planung einkalkuliert worden und konnte sich sogar als vorteilhaft erweisen — als eine Art Neuinjektion irdischer Technologie und irdischen Wissens, nachdem die digitalen und die auf Papier gedruckten Bücher der ursprünglichen Kolonisten längst zu Staub zerfallen waren.
Augenblicke später schaltete die Videoübertragung nach Französisch-Guayana um, zum ehrwürdigen und vielfach ausgebauten Centre National d’Etudes Spatiales in Kourou, wo eine der großen Trägerraketen aus der Aerospatiale-Fabrik etwa dreißig Meter weit aufgestiegen war, dann den Anschub verloren hatte und in einem pilzförmigen Flammenmeer auf die Rampe zurückgekracht war.
Zwölf Menschen fanden den Tod, zehn an Bord der NEP-Arche und zwei auf dem Boden, aber es war die einzige offensichtliche Katastrophe der gesamten Startreihe, und so konnte man, alles in allem genommen, wohl doch von einem glücklichen Ausgang sprechen.
Freilich war das noch nicht das Ende der Übung. Bis Mitternacht — und dies schien mir der bislang deutlichste Indikator für die groteske Kluft zwischen terrestrischer und Spin-Zeit zu sein — würde die menschliche Zivilisation auf dem Mars entweder komplett untergegangen sein oder auf eine Geschichte von annähernd hunderttausend Jahren zurückblicken.
Das war, grob gerechnet, die Zeitspanne zwischen der Entstehung des Homo sapiens als individueller Spezies und gestern Nachmittag.
Es entschied sich also so allerlei, während ich von Perihelion zurück zu meinem gemieteten Heim fuhr. Ganze marsianische Dynastien stiegen auf und vergingen wieder, während ich darauf wartete, dass die Ampel umschaltete. Ich dachte an diese Existenzen — ganz und gar reale Menschenleben, jedes eingezwängt in eine Zeitspanne von weniger als einer Minute auf meiner Armbanduhr — und mir wurde ein wenig schwummrig. Das Spin-Schwindelgefühl. Oder vielleicht ging es auch tiefer.
Ich sah die Ergebnisse, bevor sie öffentlich bekannt gemacht wurden.
Es war eine Woche nach den Prometheus-Starts. Jason war für 10 Uhr 30 in der Praxis angemeldet, vorbehaltlich neuer Nachrichten aus Pasadena. Er sagte den Termin zwar nicht ab, erschien aber eine ganze Stunde später, eine Aktenmappe in der Hand und offensichtlich mit der Absicht, über etwas ganz anderes zu sprechen als seine Medikamente.
»Ich weiß nicht, was ich der Presse sagen soll. Ich komme gerade aus einer Konferenz mit dem ESA-Direktor und ein paar chinesischen Bürokraten. Wir versuchen einen Entwurf für eine gemeinsame Erklärung der Staatsoberhäupter zu formulieren, aber kaum sind mal die Russen mit einer Wendung einverstanden, legen die Chinesen ihr Veto ein, und umgekehrt.«
»Eine Erklärung worüber?«
»Die Satellitendaten.«
»Ihr habt die Ergebnisse?«
Tatsächlich waren sie längst überfällig. Normalerweise gab das JPL seine Fotos schneller heraus und aus Jasons Worten folgerte ich, dass irgendjemand die Daten zurückgehalten hatte. Was wohl bedeutete, dass sie nicht den Erwartungen entsprachen. Schlechte Nachrichten vielleicht.
»Hier, schau.« Jason öffnete die Aktenmappe und entnahm ihr zwei Teleskopbilder. Es waren beides Ansichten vom Mars, aufgenommen aus der Erdumlaufbahn nach den Prometheusstarts. Das erste Foto war atemberaubend, obwohl es sich oberflächlich nicht sehr von dem gerahmten Bild in meinem Wartezimmer zu unterscheiden schien: Ich konnte genug Grün ausmachen, um mich davon zu überzeugen, dass das exportierte Ökosystem noch immer intakt war, noch immer aktiv.
»Sieh ein bisschen genauer hin«, sagte Jason. Er fuhr mit dem Finger an der gewundenen Linie einer Flussebene entlang. Da waren grüne Flecken mit klaren, regelmäßigen Umgrenzungen. Je näher ich hinsah, desto mehr davon. »Landwirtschaft.«
Ich hielt den Atem an und überlegte, was das bedeutete. Jetzt gibt es zwei bewohnte Planeten im Sonnensystem, dachte ich. Nicht nur hypothetisch, sondern wahr und wahrhaftig. Das da waren Orte, wo Menschen lebten, Orte auf dem Mars.
Ich wollte nicht aufhören hinzustarren, aber Jason schob das Bild in seinen Umschlag zurück und zeigte mir das zweite Foto. »Dies hier«, sagte er, »wurde vierundzwanzig Stunden später aufgenommen.«
»Ich verstehe nicht.«
»Von derselben Kamera auf demselben Satelliten aufgenommen. Wir haben parallele Bilder, um das Ergebnis zu bestätigen. Es sah zuerst aus wie ein Fehler in der Bildverarbeitung, bis wir den Kontrast so weit hochgefahren haben, dass wir ein bisschen Sternenlicht erkennen konnten.«
Aber da war nichts zu sehen auf dem Foto. Ein paar Sterne und in der Mitte ein fettes Nichts in Form einer Scheibe. »Was ist das?«
»Eine Spin-Membran«, sagte Jason. »Von außen gesehen. Der Mars hat jetzt auch eine.«
4 x 109 n. Chr.
Von Padang aus reisten wir landeinwärts — so viel begriff ich —, es ging bergauf, über Straßen, die manchmal seidig glatt, manchmal uneben und von Schlaglöchern übersät waren. Irgendwann hielt das Auto vor einem Gebäude, das in der Dunkelheit wie ein Betonbunker aussah, offenbar aber (zu erkennen an dem unter einer grellen Wolframlampe aufgemalten roten Halbmond) eine medizinische Einrichtung war. Der Fahrer war sauer, als er sah, wohin er uns gefahren hatte — ein weiterer Beleg dafür, dass ich krank war, nicht nur betrunken —, doch Diane drückte ihm noch ein paar Geldscheine in die Hand, sodass er schließlich einigermaßen beschwichtigt davonfuhr.
Ich hatte Schwierigkeiten, mich auf den Beinen zu halten, lehnte mich gegen Diane, die mein Gewicht wacker trug, und so standen wir da in der feuchten Nacht auf einer leeren Straße. Mondschein bohrte sich durch die Wolkenfetzen. Vor uns war eine Klinik, auf der anderen Straßenseite eine Tankstelle und sonst nichts als Wald und flache Abschnitte, bei denen es sich um bewirtschaftete Felder handeln mochte. Es gab kein Anzeichen menschlichen Lebens, bis die Eingangstür der Klinik ächzend aufging und eine kleine, korpulente Frau in einem langen Rock und mit einer kleinen weißen Mütze eilig zu uns herauskam.
»Ibu Diane«, sagte die Frau aufgeregt, aber leise, als befürchte sie, man könne sie, selbst zu dieser einsamen Stunde, belauschen. »Willkommen!«
»Ibu Ina«, erwiderte Diane respektvoll.
»Und dies ist wohl…?«
»Pak Tyler Dupree. Von dem ich Ihnen erzählt habe.«
»Zu krank, um zu sprechen?«
»Zu krank, um irgendetwas Vernünftiges zu sagen.«
»Dann sollten wir ihn unbedingt nach drinnen schaffen.«
Diane stützte mich auf der einen Seite und die Frau, die sie Ibu Ina genannt hatte, packte meinen rechten Arm unter der Schulter. Sie war nicht mehr jung, aber bemerkenswert kräftig. Die Haare unter der Mütze waren grau und schon ausgedünnt. Sie roch nach Zimt. Der Art nach zu urteilen, wie sie die Nase rümpfte, roch ich nach etwas Unangenehmerem.
Dann waren wir im Gebäude, gingen an einem leeren, mit Rattan- und billigen Metallstühlen möblierten Wartezimmer vorbei zu einem dem Eindruck nach recht modernen Untersuchungszimmer, wo Diane mich auf einem gepolsterten Tisch ablud und Ina sagte: »Na, dann wollen wir mal sehen, was wir für ihn tun können.« Ich fühlte mich sicher genug, um das Bewusstsein zu verlieren.
Ich erwachte vom Klang eines Gebetsrufes, der von einer fernen Moschee herwehte, und vom Geruch nach frischem Kaffee.
Ich lag nackt auf einer Pritsche in einem kleinen Zimmer mit Betonwänden; durch das Fenster fiel Licht, eine blasse Vorahnung der Morgendämmerung. Es gab einen Türeingang mit einer Art Bambusvorhang, durch den ich hören konnte, wie jemand etwas Energisches mit Tassen und Schüsseln anstellte.