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Ich blickte auf und sah die Silhouette von Ens Kopf, der vor dem Fenster schwebte wie ein neuer Planet. »Pak Tyler«, flüsterte er.

»En! Du hast mich ganz schön erschreckt.« Tatsächlich waren mir vor Schreck sogar die Beine weich geworden — ich musste mich gegen die Wand lehnen, um nicht umzufallen.

»Lassen Sie mich rein!«

Also tappte ich barfuß los und entriegelte die Seitentür. Die hereinrauschende Brise war warm und feucht. En rauschte hinterher. »Ich muss mit Ibu Ina sprechen!«

»Sie ist nicht da. Was ist los, En?«

Er war äußerst beunruhigt. Er stieß seine Brille über den Nasenhöcker nach oben. »Aber ich muss mit ihr sprechen!«

»Sie ist heute über Nacht zu Hause. Du weißt, wo sie wohnt?«

Er nickte unglücklich. »Aber sie sagte, ich soll hierher kommen und ihr Bescheid sagen.«

»Was? Ich meine, wann hat sie das gesagt?«

»Wenn ein Fremder nach der Klinik fragt, soll ich herkommen und ihr Bescheid sagen.«

»Aber sie ist nicht…« Jetzt erst durchstieß die Bedeutung seiner Worte den Nebel des beginnenden Fiebers. »En, ist jemand in der Stadt, der sich nach Ibu Ina erkundigt?«

Stück für Stück entlockte ich ihm die Geschichte. En wohnte mit seiner Familie in einem Haus hinter einem warung (eine Art Imbissstand) mitten im Dorf, nur drei Häuser vom Büro des Bürgermeisters, dem kepala desa, entfernt. Wenn En nachts wach lag, konnte er von seinem Zimmer aus die Unterhaltung der Kunden am warung hören. Auf diese Weise hatte er sich einen enzyklopädischen, wenn auch kaum begriffenen Vorrat an Dorfklatsch angeeignet. Nach Einbruch der Dunkelheit waren es hauptsächlich die Männer, die noch draußen saßen, redeten und Kaffee tranken, Ens Vater, die Onkel und Nachbarn. Aber heute waren zwei Fremde in einem schnittigen schwarzen Auto angekommen, hatten sich, kühn wie Wasserbüffel, den Lichtern des warung genähert und, ohne sich vorzustellen, gefragt, wo die hiesige Klinik zu finden sei. Keiner der beiden war krank. Sie trugen Stadtkleidung, benahmen sich unhöflich und verhielten sich wie Polizisten, daher war die Wegbeschreibung, die sie von Ens Vater erhielten, vage und irreführend, sodass sie erst einmal genau in die falsche Richtung fahren würden.

Aber sie suchten nach Inas Klinik und würden sie zwangsläufig irgendwann finden; in einem Dorf dieser Größe konnte die Irreführung bestenfalls einen Aufschub bewirken. Also hatte En sich schnell angezogen, war ungesehen aus dem Haus geflitzt und, wie angewiesen, hierher gekommen, um die Abmachung mit Ibu Ina zu erfüllen und sie vor der Gefahr zu warnen.

»Sehr gut«, versicherte ich ihm. »Gute Arbeit, En. Jetzt musst du aber zu ihr nach Hause laufen und ihr alles erzählen.« Und unterdessen würde ich meine Sachen zusammenpacken und die Klinik verlassen. Mich in den benachbarten Reisfeldern verstecken, bis die Polizisten wieder verschwunden waren. Ich war kräftig genug, um das zu schaffen. Wahrscheinlich.

Aber En verschränkte die Arme und wich vor mir zurück. »Sie hat gesagt, ich soll hier auf sie warten.«

»Okay. Aber vor morgen Früh kommt sie nicht zurück.«

»Meistens schläft sie hier.« Er reckte den Kopf und versuchte an mir vorbei durch den dunklen Flur zu spähen, als könne sie jeden Moment aus dem Sprechzimmer kommen.

»Ja, aber nicht heute. Ehrlich. En, die Sache könnte gefährlich werden. Diese Leute sind möglicherweise Feinde von Ibu Ina, verstehst du?«

Aber eine blinde Starrköpfigkeit hatte von ihm Besitz ergriffen. So freundlich wir zuletzt miteinander umgegangen waren, traute En mir doch noch immer nicht über den Weg. Einen Moment zitterte er vor sich hin, die Augen weit aufgerissen wie ein Lemur, dann schoss er an mir vorbei, lief den mondbeschienenen Flur hinunter und rief: »Ina! Ina!«

Ich jagte hinter ihm her, machte dabei verschiedene Lampen an.

Und versuchte gleichzeitig, ein paar zusammenhängende Gedanken zu fassen. Die unfreundlichen Männer, die nach der Klinik suchten, konnten New Reformasi aus Padang sein, oder auch örtliche Polizei, oder aber sie arbeiteten für Interpol oder das US-Außenministerium oder irgendeine andere Einrichtung, die die Regierung Chaykin wie einen Hammer zu schwingen wusste.

Und falls sie nach mir suchten — bedeutete das, dass sie Jala, Inas Ex-Mann, gefunden und verhört hatten? Bedeutete es, dass sie Diane bereits verhaftet hatten?

En stürzte in ein dunkles Sprechzimmer. Seine Stirn kollidierte mit den Haltern eines Untersuchungstisches, er prallte zurück und setzte sich auf den Hintern. Als ich bei ihm ankam, weinte er lautlos, völlig verunsichert. Der Striemen über seiner linken Augenbraue sah wüst aus, aber nicht gefährlich.

Ich legte meine Hände auf seine Schultern. »En, sie ist nicht hier. Wirklich wahr. Sie ist wirklich, ehrlich nicht hier. Und sie möchte unter Garantie nicht, dass du hier im Dunkeln sitzt und wartest, während irgendetwas Schlimmes passiert. Das würde sie wirklich nicht wollen, oder?«

»Uhum«, konzedierte En.

»Also läufst du jetzt nach Hause, okay? Du läufst nach Hause und bleibst dort. Ich kümmere mich hier um dieses Problem, und wir beide sehen dann Ibu Ina morgen wieder. Ja?«

En versuchte, den ängstlichen Blick gegen einen kritisch abwägenden zu tauschen. »Ich glaube ja«, sagte er.

Ich half ihm auf die Füße. Und dann ertönte vor der Klinik das Geräusch von Autoreifen, die auf dem Kies knirschten.

Geduckt eilten wir ins Empfangszimmer, wo ich durch die Bambusjalousien spähte, während En hinter mir stand, die kleinen Hände in mein T-Shirt gekrallt.

Das Auto lief im Leerlauf. Ich konnte die Marke nicht erkennen, aber es schien relativ neu zu sein, dem tiefblauen Glanz im Mondschein nach zu urteilen. Im Wageninnern leuchtete es kurz auf, vielleicht ein Zigarettenanzünder. Dann ein viel helleres Licht, eine Stablampe, die aus dem Beifahrerfenster gehalten wurde. Sie strahlte durch die Jalousie hindurch und warf wogende Schatten über die Hygieneplakate an der Wand gegenüber. Wir zogen die Köpfe ein.

»Pak Tyler«, wimmerte En.

Ich schloss die Augen und stellte fest, dass es mir schwer fiel, sie wieder zu öffnen. Hinter meinen Lidern sah ich Windmühlen und Sternregen. Das Fieber wieder. Ein kleiner Chor von inneren Stimmen wiederholte: Das Fieber wieder, das Fieber wieder… Mir zum Hohn.

»Pak Tyler!«

Das war verdammt schlechtes Timing. (Schlechtes Timing, schlechtes Timing…) »Geh zur Tür, En. Zur Seitentür.«

»Kommen Sie mit!«

Ein guter Rat. Ich warf noch einen Blick durchs Fenster. Der Scheinwerfer war ausgegangen. Dann führte ich En den Flur entlang, an den Vorratschränken vorbei, zur Seitentür, die er offengelassen hatte. Die Nacht war trügerisch still, trügerisch einladend; eine Fläche festgetretenen Bodens, ein Reisfeld, der Wald, Palmen, schwarz im Mondschein, ihre Kronen sanft hin und her wogend.

Zwischen uns und dem Auto befand sich das Klinikgebäude. »Lauf geradewegs zum Wald«, sagte ich.

»Ich kenne den Weg.«

»Halt dich von der Straße fern. Versteck dich, wenn nötig.«

»Kommen Sie mit mir.«

»Ich kann nicht«, sagte ich, und das war wortwörtlich gemeint. In meinem gegenwärtigen Zustand war die Vorstellung, hinter einem Zehnjährigen herzusprinten, völlig absurd.

»Aber…«

Ich gab ihm einen kleinen Stoß und sagte, er solle keine Zeit vergeuden.

Er rannte, ohne zurückzublicken, verschwand mit fast erschreckender Geschwindigkeit im Schatten, still, klein, bewundernswert. Ich beneidete ihn. In der darauf folgenden Stille hörte ich, wie eine Autotür geöffnet, dann wieder geschlossen wurde.

Der Mond war drei Viertel voll, er wirkte rötlicher und ferner als früher, zeigte ein anderes Gesicht, als ich aus meiner Kindheit in Erinnerung hatte. Kein Mann im Mond mehr, und diese dunkle ovale Narbe auf der Oberfläche, dieses neue, aber inzwischen schon uralte Mare, war das Ergebnis eines gewaltigen Aufpralls, der vom Pol bis zum Äquator Regolith zum Schmelzen gebracht und die sanfte Spiralbewegung des Mondes von der Erde weg abgebremst hatte.