Hinter mir hörte ich die Polizisten — zwei, vermutete ich — gegen die Eingangstür hämmern. In barschem Ton begehrten sie Einlass, rüttelten am Schloss.
Ich fasste die Möglichkeit ins Auge, loszurennen. Ich glaubte rennen zu können — nicht so flink wie En, aber jedenfalls weit genug. Bis zum Reisfeld etwa. Um mich dort zu verstecken und das Beste zu hoffen.
Doch dann dachte ich an das Gepäck im Zimmer. Gepäck, das nicht nur aus Kleidung bestand, sondern auch aus Notizheften und Disketten, kleinen Digitalspeichern und verräterischen Fläschchen mit durchsichtiger Flüssigkeit.
Ich kehrte um. Ins Haus zurück. Ich verriegelte die Tür hinter mir. Langsam schlich ich den Gang hinunter, lauschte nach den Geräuschen der Polizisten. Vielleicht umkreisten sie das Gebäude, vielleicht versuchten sie es noch mal an der Vordertür. Das Fieber steigerte sich jedoch ziemlich rapide und ich hörte alle möglichen Geräusche, von denen vermutlich nur die wenigsten nicht halluziniert waren.
In meinem Zimmer angekommen, bewegte ich mich mit Hilfe des Tastsinns und des Mondscheins. Ich öffnete einen der beiden Hartschalenkoffer und stopfte einen Stapel handbeschriebener Seiten hinein, machte ihn wieder zu, verschloss ihn, hob ihn an und geriet ins Schwanken. Ich packte den anderen Koffer fürs Gleichgewicht und stellte fest, dass ich kaum noch laufen konnte.
Ich stolperte beinahe über einen kleinen Plastikgegenstand, den ich als Inas Pager identifizierte. Ich blieb stehen, stellte die Koffer ab, hob den Pager auf und stopfte ihn mir in die Hemdtasche. Dann holte ich einige Male tief Luft und nahm die Koffer wieder auf; rätselhafterweise schienen sie jetzt sogar noch schwerer zu sein. Du kannst es, du schaffst es, sagte ich mir vor, aber die Worte klangen abgedroschen und wenig überzeugend, und sie hallten wider, als habe mein Schädel sich auf die Größe einer Kathedrale ausgedehnt.
Ich hörte Geräusche von der Hintertür, die Ina immer von außen mit einem Vorhängeschloss verriegelte: klirrendes Metall und das Ächzen des Riegels, vielleicht ein Brecheisen, zwischen die Bügel des Schlosses gebohrt und herumgedreht. Schon bald, unvermeidlich, würde das Schloss nachgeben und die Männer würden ins Gebäude gelangen.
Ich wankte zur dritten Tür, Ens Tür, die Seitentür, entriegelte sie und öffnete sie vorsichtig, im blinden Vertrauen darauf, dass niemand draußen stehen würde. Es war auch keiner da, beide Eindringlinge (falls es nur zwei waren) standen an der Hintertür. Sie flüsterten miteinander, während sie an dem Schloss zugange waren, trotz der Froschchöre und des Heulens des Windes waren ihre Stimmen schwach zu hören.
Ich war mir nicht sicher, ob ich es bis zum Reisfeld schaffen würde, ohne gesehen zu werden. Schlimmer noch, ich war mir nicht sicher, ob ich es schaffen würde, ohne hinzufallen.
Doch dann gab es einen lauten Knall — offensichtlich hatte sich das Schloss von der Tür verabschiedet. Der Startschuss, dachte ich. Du kannst das, dachte ich. Ich schnappte mir mein Gepäck und schwankte barfuß hinaus in die sternenklare Nacht.
Gastfreundschaft
»Hast du das gesehen?«
Molly Seagram deutete, als ich die Ambulanz betrat, auf eine Zeitschrift auf dem Empfangstisch. Ihr Gesichtsausdruck sagte: schlechtes Juju, böse Vorzeichen. Ein monatlich erscheinendes Nachrichtenmagazin, auf dem Titel ein Bild von Jason. Überschrift: DIE SEHR PRIVATE PERSÖNLICHKEIT HINTER DEM ÖFFENTLICHEN GESICHT DES PERIHELION-PROJEKTS. »Nichts Gutes, wenn ich dich recht verstehe?« Sie zuckte mit den Achseln. »Nicht unbedingt schmeichelhaft. Lies selbst. Wir können uns beim Essen darüber unterhalten.« Ich hatte bereits versprochen, sie abends zum Essen auszuführen. »Oh, und Mrs. Tuckman ist schon bereit und wartet in Box drei.«
Ich hatte Molly schon oft gebeten, die Wartezimmer nicht als »Boxen« zu bezeichnen, aber es lohnte sich nicht, darüber einen Streit anzufangen. Ich schob die Zeitschrift in meine Postablage. Es war ein träger, regnerischer Aprilmorgen, Mrs. Tuckman war meine einzige angemeldete Patientin vor der Mittagspause.
Sie war die Frau eines bei Perihelion angestellten Ingenieurs und war schon dreimal im letzten Monat bei mir gewesen, sie klagte über Angstzustände und Erschöpfung. Die Ursache ihres Problems war nicht schwer zu erahnen: Zwei Jahre waren seit der Umhüllung des Mars vergangen, und es gingen Gerüchte über Entlassungen bei Perihelion um. Die finanzielle Situation ihres Mannes war ungewiss, und ihre eigenen Versuche, Arbeit zu finden, waren ergebnislos geblieben. Sie verbrauchte ihr Xanax mit erschreckender Geschwindigkeit und verlangte Nachschub, und zwar dringend.
»Vielleicht sollten wir ein anderes Medikament ins Auge fassen«, sagte ich.
»Ich möchte kein Antidepressivum nehmen, falls Sie das meinen.« Sie war eine kleine Frau, ihr ansonsten angenehmes Gesicht schien in einem habituellen Stirnrunzeln erstarrt. Ihr Blick flackerte unruhig durchs Sprechzimmer, verharrte eine Weile auf dem regennassen Fenster, das auf den Südrasen hinausging. »Im Ernst. Ich hab mal sechs Monate lang Paraloft genommen und bin gar nicht mehr von der Toilette runtergekommen.«
»Wann war das?«
»Bevor Sie gekommen sind. Dr. Koenig hatte es verschrieben. Da war natürlich noch alles anders, ich habe Carl kaum gesehen, so viel musste er arbeiten. Aber wenigstens sah es damals nach einer guten, festen Anstellung aus, nach etwas Dauerhaftem. Ich hätte wahrscheinlich dankbar sein sollen für das, was wir hatten. Ist das nicht in meiner, äh, Krankenakte oder wie das heißt?«
Ihre Patientengeschichte lag aufgeschlagen vor mir auf dem Schreibtisch. Dr. Koenigs Aufzeichnungen waren oft schwer zu entziffern, aber immerhin hatte er einen roten Stift benutzt, um wichtige Sachverhalte hervorzuheben: Allergien, chronische Befindlichkeiten. Die Einträge in Mrs. Tuckmans Akte waren kurz und bündig und eher kleinlich. Hier sah ich eine Notiz über Paraloft, abgesetzt (Datum nicht zu entziffern) auf Wunsch der Patientin, »Patientin klagt weiterhin über Nervosität, Zukunftsängste«. Zukunftsängste — hatten wir die nicht alle?
»Jetzt können wir nicht mal mehr auf Carls Job zählen. Mein Herz hat so geklopft letzte Nacht — ich meine, so schnell, ungewöhnlich schnell. Ich dachte, es wäre vielleicht, na ja, Sie wissen schon.«
»Nein, was?«
»Na ja. KVES.«
KVES — kardiovaskuläres Erschöpfungssyndrom — war in den letzten Monaten durch die Nachrichten gegangen. In Ägypten und im Sudan hatte es tausende von Todesfällen gegeben, und zuletzt waren Fälle in Griechenland, Spanien und im Süden der USA gemeldet worden. Es war eine sich langsam entwickelnde bakterielle Infektion, ein potenzielles Problem für tropische Drittweltländer, aber mit modernen Medikamenten gut behandelbar. Mrs. Tuckman hatte von KVES nichts zu befürchten, und das sagte ich ihr.
»Es heißt, sie hätten es über uns abgeworfen.«
»Wer hat was abgeworfen, Mrs. Tuckman?«
»Diese Krankheit. Die Hypothetischen. Die haben sie über uns abgeworfen.«
»Alles, was ich gelesen habe, spricht dafür, dass KVES von Rindern übertragen wurde.« Nach wie vor war es eine Krankheit, von der überwiegend Huftiere befallen wurden, sie führte regelmäßig zu einer Dezimierung der Viehbestände in Nordafrika.
»Rinder. Hm. Aber sie würden einem das nicht unbedingt erzählen, nicht wahr? Ich meine, sie würden nicht hergehen und es in den Nachrichten verkünden.«
»KVES ist eine akute Erkrankung. Falls Sie sich infiziert hätten, würden Sie schon längst im Krankenhaus liegen. Ihr Puls ist normal und Ihr Kardiogramm völlig in Ordnung.«
Sie schien nicht überzeugt. Schließlich verschrieb ich ihr ein alternatives Anxiolytikum — im Grunde haargenau das Gleiche wie Xanax, nur mit einem anderen molekularen Seitenstrang —, in der Hoffnung, dass der neue Markenname, wenn schon nicht das Medikament selbst, etwas Nützliches bewirken würde. Mrs. Tuckman verließ die Praxis beschwichtigt, sie trug das Rezept in der Hand wie eine heilige Schriftrolle.
Ich fühlte mich nutzlos und ein bisschen wie ein Betrüger.
Aber mit ihrer Befindlichkeit stand Mrs. Tuckman alles andere als allein: Die ganze Welt schwebte in Angst. Was einst als unsere beste Chance auf Überleben gegolten hatte, nämlich die Terraformung und Kolonisierung des Mars, war in Ohnmacht und Ungewissheit gemündet. Womit uns keine Zukunft mehr blieb als die des Spins. Die globale Wirtschaft war ins Trudeln geraten, denn Konsumenten wie Staaten häuften Schulden auf in der Erwartung, sie nie begleichen zu müssen, während Kreditgeber Geldmittel horteten und die Zinsen in die Höhe schossen. Religiöser Fanatismus und brutale Kriminalität stiegen rasant an, hier ebenso wie im Ausland. Die Folgen waren besonders verheerend in den Ländern der Dritten Welt, wo der Zusammenbruch der Währungen und wiederholte Hungerkatastrophen zur Wiederbelebung lange schlummernder marxististischer und militant islamischer Bewegungen beitrugen.
Der psychologische Umschwung war nicht schwer zu verstehen. Ebenso die Gewalt. Viele Menschen hegen irgendeinen Groll, aber nur jemandem, der jeden Glauben an die Zukunft verloren hat, traut man zu, dass er eines Tages mit einer Maschinenpistole und einer Abschussliste bei der Arbeit aufkreuzt. Die Hypothetischen hatten, ob willentlich oder nicht, genau diese Art von tödlicher Verzweiflung ausgelöst. Die potenziellen Amokläufer waren Legion, und zu ihren Feinden gehörten Amerikaner, Briten, Kanadier, Dänen etc., oder, umgekehrt, alle Muslime, Dunkelhäutigen, nicht Englischsprachigen, alle Katholiken, Fundamentalisten, Atheisten, alle Liberalen, alle Konservativen. Für solche Leute lag das vollkommene Zeugnis moralischer Klarheit in einem Lynchmord oder einem Selbstmordattentat, einer Fatwa oder einem Pogrom. Und sie waren im Aufsteigen begriffen, wie Sterne über einer Totenlandschaft.
Wir lebten in gefährlichen Zeiten. Mrs. Tuckman wusste das, und alle Xanax-Bestände der Welt würden sie nicht vom Gegenteil überzeugen.