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Dann, an einem Donnerstagabend vor knapp einem Monat, hatte Molly, während sie ihre Sachen zusammenpackte, sich mir plötzlich zugewandt und mich gefragt, ob ich mit ihr zu Abend essen wolle. Warum? »Weil ich keine Lust mehr habe zu warten, dass Sie mich mal fragen. Also, ja oder nein?«

Ja.

Molly erwies sich als eine kluge, verschmitzte und zu Spott aufgelegte Frau, kurzum, eine angenehmere Gesellschaft, als ich gedacht hatte. Seit drei Wochen aßen wir jetzt zusammen im Champs. Uns gefiel die Speisekarte (unprätenziös) und die Atmosphäre (kollegial). Ich dachte oft, dass Molly wirklich am allerbesten in dieser Kunststofftischecke im Champs zur Geltung kam, die sie mit ihrer Anwesenheit schmückte, ja der sie sogar eine gewisse Würde verlieh. Ihr blondes Haar war lang und hing etwas schlaff in der hohen Luftfeuchtigkeit des Abends.

»Hast du die Hintergrundinfo zu dem Artikel gelesen?«, fragte sie.

»Überflogen.« In einem Hintergrundporträt hatte die Zeitschrift Jasons beruflichen Erfolg einem Privatleben gegenübergestellt, das sich entweder vollkommen im Verborgenen abspielte oder gar nicht existierte. Bekannte sagen, seine Wohnung sei ebenso karg eingerichtet wie sein Liebesleben. Niemals hat es auch nur Gerüchte gegeben über eine Verlobte, Freundin oder sonst eine intime Bekanntschaft, welchen Geschlechts auch immer. Es drängt sich unvermeidlich das Bild eines Mannes auf der mit seinen Ideen nicht nur verheiratet, sondern ihnen auf fast pathologische Weise ergeben ist. Und in vielerlei Hinsicht bleibt Jason Lawton, wie die Perihelion-Stifiung insgesamt, unter dem erdrückenden Einfluss seines Vaters…

»Wenigstens dieser Teil klingt korrekt.«

»Findest du? Zugegeben, Jason kann manchmal ein bisschen selbstbezogen wirken, aber…«

»Er geht durch die Rezeption, als würde ich gar nicht existieren. Sicher, das ist trivial, aber es zeugt nicht gerade von großer Wärme. Wie läuft seine Behandlung?«

»Er ist nicht in Behandlung, Moll.« Sie hatte zwar Jasons Krankenblätter gesehen, aber ich hatte dort keine Einträge über seine AMS gemacht. »Er kommt, um sich zu unterhalten.«

»Aha. Und manchmal, wenn er reinkommt, um sich zu unterhalten, humpelt er zum Gotterbarmen. Nein, du brauchst nichts zu sagen. Aber ich bin nicht blind — nur zu deiner Information. Wie auch immer, er ist gerade in Washington, stimmt’s?«

Häufiger dort als in Florida. »Jede Menge Gespräche zu führen. Alle Welt positioniert sich für die Zeit nach der Wahl.«

»Da läuft also irgendetwas.«

»Irgendetwas läuft immer.«

»Ich meine, mit Perihelion. Die Kollegen von der Technischen Abteilung haben einige Hinweise. Weißt du, was zum Beispiel seltsam ist? Wir haben gerade noch mal wieder 50 Hektar Fläche westlich vom Zaun erworben. Das hab ich von Tim Chesley gehört, dem Datenverarbeitungstypen in der Personalabteilung. Angeblich kommen nächste Woche irgendwelche Landvermesser ins Haus.«

»Wozu?«

»Weiß keiner. Vielleicht expandieren wir. Oder vielleicht werden wir in eine Mall umgewandelt.«

Das war das erste Mal, dass ich davon hörte.

»Du bist nicht auf dem Laufenden«, sagte Molly lächelnd. »Du brauchst Kontakte. So wie mich.«

Nach dem Essen gingen wir zu Molly nach Hause, wo ich die Nacht verbrachte.

Ich werde hier nicht die Gesten, Blicke und Berührungen beschreiben, mit denen wir unsere Intimitäten ins Werk setzten. Nicht weil ich prüde bin, sondern weil ich offenbar keine Erinnerung mehr daran habe. Sie ist der Zeit zum Opfer gefallen, meiner Neuerschaffung. Ja sicher, mir ist die Ironie bewusst, die darin liegt. Ich kann den Artikel zitieren, über den wir sprachen, und ich kann Ihnen sagen, was sie im Champs gegessen hat — aber alles, was vom Sex geblieben ist, ist ein verblasstes Erinnerungsbild: ein abgedunkeltes Zimmer, eine feuchte Brise, in der sich die Vorhangspindeln drehten, und ihre grünen Augen vor meinem Gesicht.

Nach einem Monat war Jason wieder bei Perihelion und fegte durch die Gänge, als habe er sich Infusionen eines bisher unbekannten Aufputschmittels verabreichen lassen.

Er brachte eine Armee von Sicherheitspersonal mit, ganz in Schwarz gekleidet, niemand wusste genau, wo sie herkamen, man vermutete aber, dass sie das Finanzministerium repräsentierten. Ihnen folgten wiederum kleine Bataillone von Bürokraten und Landvermessern, die die Flure bevölkerten und sich weigerten, mit irgendjemandem aus der Belegschaft zu sprechen. Molly gab die umlaufenden Gerüchte an mich weiter: Die Anlage solle dem Erdboden gleichgemacht werden; die Anlage solle erweitert werden; wir sollten alle entlassen werden; wir sollten alle Gehaltserhöhungen bekommen. Kurzum, irgendetwas war im Busch.

Fast eine Woche lang hörte ich nichts von Jason. An einem Donnerstagnachmittag dann, als wenig Betrieb herrschte, piepte er mich in meiner Praxis an und bat mich, in den zweiten Stock zu kommen: »Ich möchte dich mit jemandem bekannt machen.«

Noch bevor ich das inzwischen schwer bewachte Treppenhaus erreichte, hatte sich mir bereits eine Eskorte bewaffneter Wärter beigesellt, die laut Abzeichen überall unbeschränkten Zugang hatten und mich nach oben zu einem Konferenzzimmer führten. Offenbar also kein beiläufiges Beisammensein, dies war eine schwerwiegende Perihelion-Angelegenheit, zu der ich gar keinen Zugang hätte haben dürfen. Offenbar hatte Jason mal wieder beschlossen, Geheimnisse mit mir zu teilen. Niemals ein ganz unzweifelhaftes Vergnügen. Ich holte tief Luft und schob mich durch die Tür.

In dem Raum befanden sich ein Mahagonitisch, ein halbes Dutzend Plüschsessel und, von mir abgesehen, zwei Männer.

Einer der Männer war Jason.

Den zweiten Mann hätte man mit einem Kind verwechseln können. Ein entsetzlich verbranntes Kind, das dringend eine Hauttransplantation benötigte — das war mein erster Eindruck. Dieses Individuum, etwa eins fünfundfünfzig groß, stand in einer Ecke des Zimmers. Es trug eine blaue Jeans und ein schlichtes weißes Baumwollshirt. Seine Schultern waren breit, die Augen groß und blutunterlaufen, und die Arme schienen ein bisschen zu lang für den verkürzten Torso.

Aber das Auffallendste an ihm war die Haut. Die Haut war ohne Glanz, aschschwarz und vollkommen haarlos. Sie war nicht faltig im herkömmlichen Sinne — nicht lose, wie etwa die eines Bluthundes —, sondern extrem strukturiert, runzelig wie die Schale einer Honigmelone.

Der kleine Mann kam auf mich zu und streckte die Hand aus. Eine kleine faltige Hand am Ende eines langen faltigen Arms. Ich ergriff sie zögerlich. Mumienfinger, dachte ich. Aber fleischig, dick, wie die Blätter einer Wüstenpflanze; es war, als würde man eine Hand voll Aloe vera drücken und diese drückten zurück. Das Geschöpf grinste.

»Das ist Wun«, sagte Jason.

»Was ist wund?«

Wun lachte. Seine Zahne waren groß, stumpf und makellos. »Ich kann mich immer wieder an diesem köstlichen Witz erfreuen.«

Sein voller Name lautete Wun Ngo Wen, und er kam vom Mars.

Der Mann vom Mars.

Was eigentlich eine irreführende Bezeichnung war. Die Marsianer haben eine lange literarische Geschichte, von H. G. Wells bis Kim Stanley Robinson, aber in Wirklichkeit war der Mars natürlich ein toter Planet. Bis wir das änderten. Bis wir unsere eigenen Marsianer gebaren.

Und hier stand offenbar ein lebendes Exemplar vor mir. 99,9% menschlich, wenn auch etwas seltsam gestaltet. Eine marsianische Person, Nachkomme — über Jahrtausende einer am Spin hängenden Zeit — der Kolonisten, die wir erst zwei Jahre zuvor auf ihre Mission geschickt hatten. Er sprach ein geradezu penibles Englisch, der Akzent klang halb nach Oxford, halb nach Neu Delhi. Er lief auf und ab. Er nahm eine Flasche Mineralwasser vom Tisch, schraubte den Verschluss ab und trank ausgiebig. Er wischte sich den Mund mit dem Unterarm ab. Kleine Tröpfchen perlten auf der zerfurchten Haut.