Freilich konnte ich nicht alle Codes und Totems dechiffrieren, in die die Marsianer ihre medizinische Technologie eingewickelt hatten, weder für Ina noch für mich. Anthropologen hatten sich, auf Grundlage der von Wun Ngo Wen mitgebrachten Archive, jahrelang damit beschäftigt. Bis jede weitere Forschung in dieser Richtung verboten worden war.
»Und jetzt haben wir die gleiche Technologie«, sagte Ina.
»Einige von uns. Aber ich hoffe, dass sie irgendwann allen zur Verfügung stehen wird.«
»Ich frage mich, ob wir sie genauso weise gebrauchen würden.«
»Warum nicht. Die Marsianer haben es getan, und sie sind Menschen wie wir.«
»Ich weiß. Möglich ist es, sicherlich. Aber was glauben Sie, Tyler — werden wir weise sein?«
Ich sah En an. Er schlief noch immer. Seine Augen schossen unter den geschlossenen Lidern umher wie Fische unter Wasser, seine Nasenflügel blähten sich beim Atmen, und das Rütteln des Krankenwagens ließ ihn von einer Seite zur anderen schaukeln.
»Nicht auf diesem Planeten«, sagte ich.
Fünfzehn Kilometer hinter Bukik Tinggi klopfte Nijon heftig gegen die Trennscheibe zwischen uns und dem Fahrersitz. Das war das abgesprochene Zeichen: Straßensperre voraus. Der Krankenwagen fuhr langsamer. Ina stand hastig auf, stülpte eine neongelbe Sauerstoffmaske über Ens Gesicht — der, wieder aufgewacht, den Reiz des Abenteuers jetzt doch in einem etwas anderen Licht zu betrachten schien — und legte sich selbst einen Mundschutz aus Papier an. »Machen Sie schnell«, flüsterte sie mir zu.
Also zwängte ich mich in den Ausrüstungsschrank. Der Deckel schlug gegen die Keilstücke, die ein wenig Luft ins Innere strömen ließen, ein halber Zentimeter zwischen mir und dem Erstickungstod.
Der Wagen bremste, und mein Kopf schlug heftig gegen die Schmalseite des Schranks.
»Still jetzt«, sagte Ina — ob zu mir oder zu En, wusste ich nicht genau.
Ich wartete im Dunkeln.
Minuten vergingen. Aus der Ferne ertönte ein rumpelnder Wortwechsel, unmöglich zu verstehen, selbst wenn ich die Sprache gesprochen hätte. Nijon und ein Unbekannter. Eine dünne, übellaunige, barsche Stimme. Die Stimme eines Polizisten.
Sie haben den Tod bezwungen, hatte Ina gesagt.
Nein, dachte ich.
Der Schrank heizte sich schnell auf. Schweiß schmierte mein Gesicht ein, durchnässte mein Hemd, brannte in den Augen. Ich konnte meinen Atem hören. Es kam mir vor, als könne die ganze Welt meinen Atem hören.
Nijon antwortete dem Polizisten mit respektvollem Murmeln. Der Polizist bellte daraufhin neue Fragen.
»Bleib einfach still liegen«, flüsterte Ina. En hatte mit den Füßen gegen die dünne Matratze der Rollbahre geschlagen, ein nervöser Tick. Zu viel Energie für einen KVES-Kranken.
Dann gingen die Hecktüren des Krankenwagens knarrend auf, ich roch Auspuffgase und den strengen Duft der Vegetation. Wenn ich — vorsichtig, ganz vorsichtig — meinen Kopf reckte, konnte ich einen dünnen Lichtstreifen und zwei Schatten sehen, bei denen es sich um Nijon und den Polizisten, vielleicht aber auch um Bäume oder Wolken handeln mochte.
Der Polizist wollte etwas von Ina wissen. Er sprach mit kehliger, monotoner Stimme, gelangweilt und drohend, und das machte mich wütend. Ich stellte mir vor, wie sie vor diesem bewaffneten Mann und dem, was er repräsentierte, kuschte oder zu kuschen vorgab. Um meinetwillen. Ina sprach eindrücklich, aber nicht provozierend in ihrer Muttersprache. KVES… unverständlich… unverständlich… KVES. Sie spielte ihre ärztliche Autorität aus, testete die Empfänglichkeit des Polizisten, versuchte Furcht vor der Krankheit gegen die Furcht vor der staatlichen Repression zu setzen.
Die Antwort des Polizisten war schroff, offenbar wollte er den Krankenwagen durchsuchen oder ihre Papiere sehen. Ina sagte etwas Nachdrücklicheres oder Verzweifelteres. Wieder KVES.
Ich wollte mich schützen, aber noch mehr wollte ich Ina und En schützen. Bevor ich zuließ, dass ihnen übel mitgespielt wurde, wollte ich mich stellen. Mich stellen oder kämpfen. Kämpfen oder fliehen. Falls nötig, all die Jahre drangeben, die das marsianische Pharmazeutikum in meinen Körper gepumpt hatte. Vielleicht war das der Mut der Vierten, dieser ganz besondere Mut, von dem Wun Ngo Wen gesprochen hatte.
Sie haben den Tod bezwungen… Nein, als Spezies, ob terrestrisch oder marsianisch, hatten wir in der langen Zeit, die uns auf beiden Planeten zur Verfügung stand, lediglich Aufschübe, Gnadenfristen bewerkstelligt. Es war nichts gewiss.
Schritte, Stiefel auf Metall. Der Polizist kletterte in den Krankenwagen. Das Fahrzeug schaukelte auf seinen Stoßdämpfern wie ein Schiff bei leichtem Seegang. Ich stützte mich gegen die Schrankabdeckung. Ina stand auf, erhob schrille Einwände.
Ich holte Luft und machte mich sprungbereit.
Plötzlich kam neuer Lärm von der Straße her. Ein anderes Fahrzeug fuhr dröhnend an uns vorbei. Dem Aufheulen seines gequälten Motors nach zu urteilen, war es mit hoher Geschwindigkeit unterwegs — mit provozierender Scheiß-auf-die-Polizei-Geschwindigkeit.
Der Polizist stieß einen empörten Fluch aus. Der Krankenwagen geriet erneut ins Schaukeln.
Eilige Schritte, kurze Stille, das Zuknallen einer Tür und dann der Motor des Streifenwagens (so meine Vermutung), auf Hochtouren gebracht, knirschende Auroreifen, wütendes Kiesgestöber.
Ina hob den Deckel meines Sarkophages.
Im Gestank meines Schweißes setzte ich mich auf. »Was ist passiert?«
»Das war Aji. Aus unserem Dorf. Ein Vetter von mir. Hat die Straßensperre durchbrochen, um die Polizei abzulenken.« Sie war blass, aber erleichtert. »Er fährt wie ein Betrunkener.«
»Er hat das getan, um uns zu helfen?«
»Ja. Wir sind schließlich ein Konvoi. Andere Autos, Funktelefone, er wird gewusst haben, dass wir angehalten wurden. Er riskiert eine Geldstrafe oder eine Verwarnung, nichts Ernsteres.«
Ich atmete die Luft ein, die lieblich und kühl war, und sah En an. Er schenkte mir ein wackliges Lächeln.
»Bitte, stellen Sie mich Aji vor, wenn wir nach Padang kommen«, sagte ich. »Ich möchte ihm dafür danken, dass er den Betrunkenen gespielt hat.«
Ina verdrehte die Augen. »Unseligerweise hat Aji nicht gespielt — er ist betrunken. Ein ernstes Vergehen in den Augen des Propheten.«
Nijon blickte zu uns hinein, zwinkerte, schloss die Türen.
Ina legte eine Hand auf meinen Arm. »Nun, das war beängstigend.«
Ich entschuldigte mich dafür, dass ich sie das Risiko hatte auf sich nehmen lassen.
»Unsinn«, erwiderte sie. »Wir sind jetzt Freunde. Und das Risiko ist nicht so groß, wie Sie denken. Die Polizei kann schwierig sein, aber zumindest sind es Leute von hier, an gewisse Regeln gebunden — nicht wie die Männer aus Jakarta, die New Reformasi oder wie sie sich nennen, die Männer, die meine Klinik niedergebrannt haben. Und ich vermute, Sie würden, falls nötig, auch für uns Risiken eingehen. Nicht wahr, Pak Tyler?«
»Ja, das würde ich.«
Ihre Hand zitterte. Sie sah mir in die Augen. »Ich glaube Ihnen.«
Nein, wir hatten den Tod keineswegs bezwungen, nur Aufschübe erreicht — die Pille, das Pulver, die Gefäßplastik, das Vierte Alter —, hatten unserer unbeirrbaren Überzeugung gemäß gehandelt, wonach mehr Leben, und sei es nur ein klein bisschen mehr, vielleicht doch noch die Freuden oder die Weisheit abwerfen würde, die wir uns wünschten oder im bisherigen Leben vermisst hatten. Niemand, der sich einer dreifachen Bypass-OP oder einer Langlebigkeitsbehandlung unterzog, erwartete, dass er ewig leben würde. Sogar Lazarus stieg aus seinem Grab in dem Wissen, dass er ein zweites Mal sterben würde.