Aber er kam heraus. Er kam heraus und war dankbar. Auch ich war dankbar.
Die kalten Orte des Universums
Nach einer späten Sitzung bei Perihelion fuhr ich freitagabends nach Hause, schloss die Wohnungstür auf und sah Molly an meinem Computer sitzen.
Der Schreibtisch im Wohnzimmer stand vor einem Fenster, von der Tür abgewandt. Molly drehte sich halb um und warf mir einen erschrockenen Blick zu. Gleichzeitig klickte sie auf ein Symbol und schloss das laufende Programm.
»Molly?«
Ich war nicht überrascht, sie hier anzutreffen. Sie verbrachte die meisten Wochenenden bei mir und besaß einen Zweitschlüssel. Aber bislang hatte sie nie ein Interesse an meinem PC gezeigt.
»Du hast nicht angerufen«, sagte sie.
Ich hatte eine Besprechung mit Vertretern jener Versicherung gehabt, die den Schutz der Perihelion-Angestellten garantierte. Man hatte mir gesagt, ich solle mich auf eine zweistündige Sitzung einrichten, doch dann stellte sich heraus, dass es nur um ein paar Neuerungen im Rechnungsverfahren ging, und als dies nach zwanzig Minuten erledigt war, fand ich, es wäre unkomplizierter, einfach gleich nach Hause zu fahren — vielleicht würde ich sogar noch vor Molly ankommen, falls sie irgendwo angehalten hatte, um Wein zu besorgen. Jedenfalls war die Wirkung von Mollys langem festem Blick, dass ich mich bemüßigt fühlte, ihr all dies erst zu erklären, bevor ich sie fragte, was sie da in meinen Dateien suche.
Sie lachte, so ein verlegenes, entschuldigendes Lachen: Na, da hast du mich aber bei was Komischem erwischt… Ihre rechte Hand schwebte weiter über dem Touchpad. Sie drehte sich wieder zum Bildschirm. Der Cursor wischte auf das Shutdown-Symbol zu.
»Warte«, sagte ich und ging zu ihr hinüber.
»Willst du auch noch mal ran?«
Der Cursor setzte sich auf sein Ziel. Ich legte meine Hand über Mollys. »Eigentlich würde ich gern wissen, was du da gemacht hast.«
Sie war angespannt, eine Ader pochte in der rosigen Haut direkt vor ihrem Ohr. »Hab’s mir gemütlich gemacht. Ähm, ein bisschen zu gemütlich? Dachte nicht, dass du was dagegen haben würdest.«
»Wogegen, Moll?«
»Dagegen, dass ich deinen Computer benutze.«
»Wofür benutzen?«
»Nichts weiter. Nur mal angucken.«
Doch es konnte kaum das Gerät sein, auf das Molly neugierig war. Es war fünf Jahre alt, praktisch eine Antiquität — bei Perihelion war sie viel besser ausgerüstet. Und ich hatte das Programm erkannt, das sie so eilig verlassen hatte, als ich durch die Tür kam. Es war mein Haushaltsorganisator, das Programm, das ich verwendete, um Rechnungen zu bezahlen, mein Konto zu führen und meine privaten und beruflichen Kontakte zu verwalten.
»Sah irgendwie aus wie eine Tabellenkalkulation«, sagte ich.
»Ich bin nur ein bisschen rumgewandert. Dein Desktop hat mich verwirrt. Du weißt ja, jeder organisiert seine Sachen auf andere Weise. Tut mir Leid, Tyler. Da war ich wohl ein bisschen unverschämt.« Sie zog ihre Hand unter meiner weg und klickte auf Shutdown. Der Desktop schrumpfte zusammen, das Belüftungsgeräusch des Prozessors erstarb mit einem klagenden Ton. Sie stand auf, strich ihre Bluse glatt. Molly strich immer irgendetwas glatt, wenn sie sich erhob, immer alles auf Vordermann bringen. »Wie wär’s, wenn ich jetzt das Abendessen mache.« Sie kehrte mir den Rücken zu und ging Richtung Küche.
Ich sah zu, wie sie durch die Schwingtüren verschwand. Nachdem ich bis zehn gezählt hatte, folgte ich ihr.
Sie war dabei, Töpfe aus dem Wandregal zu ziehen. Sie drehte mir den Kopf zu, sah dann wieder weg.
»Molly«, sagte ich. »Wenn es irgendetwas gibt, was du wissen möchtest, brauchst du nur zu fragen.«
»Ach, brauch ich nur? Okay.«
»Molly…«
Sie stellte einen Topf auf die Herdplatte, mit übertriebener Vorsicht, so als sei er zerbrechlich. »Soll ich mich noch einmal entschuldigen? Na gut, Tyler. Es tut mir Leid, dass ich mit deinem Computer gespielt habe, ohne dich um Erlaubnis zu fragen.«
»Ich habe keine Anschuldigungen erhoben, Molly.«
»Warum reden wir dann noch darüber? Ich meine, warum sieht es so aus, als würden wir den ganzen Rest des Abends noch darüber reden müssen?« Ihre Augen wurden feucht, ihre getönten Linsen nahmen eine noch dunklere Grünfärbung an. »Ich hab mich eben nur ein bisschen für dich interessiert.«
»Wofür interessiert, für meine Warmwasserrechnung?«
»Für dich.« Sie zog einen Stuhl unter dem Küchentisch hervor. Ein Stuhlbein verfing sich an einem Tischbein, und Molly riss den Stuhl energisch los. Sie setzte sich und verschränkte die Arme. »Ja, vielleicht sogar für so triviales Zeug.« Sie schloss die Augen, schüttelte den Kopf. »Ich sage das, und es klingt, als wäre ich irgendeine Art Stalker. Aber ja, deine Wasserrechnung, deine Zahnpastamarke, deine Schuhgröße. Ja, ich möchte das Gefühl haben, dass ich ein bisschen mehr für dich bin als dein Wochenendfick. Geb ich zu.«
»Dafür müsstest du nicht in meine Dateien gehen.«
»Hätt ich vielleicht nicht getan, wenn…«
»Wenn?«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich will nicht mit dir streiten.«
»Manchmal ist es besser, etwas zu Ende zu bringen, was man angefangen hat.«
»Na ja, das zum Beispieclass="underline" Immer wenn du dich bedroht fühlst, ziehst du diese distanzierte Nummer ab. Machst einen auf sachlich, ganz kühl und analytisch, als wäre ich eine Naturdoku im Fernsehen oder so was. Die Glaswand. Die Glaswand ist immer da, nicht wahr? Und die ganze Welt ist auf der anderen Seite. Deshalb redest du nicht über dich selbst. Deshalb muss ich ein ganzes Jahr warten, bis du mal merkst, dass ich mehr bin als ein Stück Mobiliar. Dieser kühle Blick, der das Leben beobachtet, als wären’s die Abendnachrichten, als wäre es irgendein Krieg am anderen Ende der Welt, wo die Leute alle unaussprechliche Namen haben.«
»Molly…«
»Ist mir schon klar, dass wir alle irgendwie verkorkst sind, Tyler, hineingeworfen in dieses Leben mit dem Spin. Kein Wunder. Prätraumatische Belastungsstörung, oder wie habt ihr das noch mal genannt? Die Generation der Grotesken. Deswegen sind wir alle geschieden oder promisk oder hyperreligiös oder depressiv oder manisch oder leidenschaftslos. Wir alle haben eine wirklich gute Entschuldigung für unser schlechtes Benehmen, ich eingeschlossen, und wenn es diese unerschütterliche Säule kalkulierter Hilfsbereitschaft ist, die du darstellen musst, damit du über die Runden kommst, dann ist das okay, dann verstehe ich das. Aber es ist genauso okay, wenn ich mehr möchte. Nein, es ist nicht nur okay, sondern es ist sogar ein ganz natürliches Bedürfnis, wenn ich dich berühren möchte. Nicht nur mit dir vögeln. Dich berühren.« Als sie merkte, dass sie fertig war, faltete sie die Arme wieder auseinander, sah mich an, wartete auf eine Reaktion.
In Gedanken entwarf ich eine Antwortrede. Ich empfände durchaus leidenschaftlich für sie. Es mochte nicht so offensichtlich gewesen sein, aber ich hätte sie von Anfang an, seit ich zu Perihelion gekommen sei, sehr bewusst wahrgenommen. Die Konturen und Bewegungen ihres Körpers, die Art, wie sie stand oder ging, sich streckte oder gähnte, ihre pastellfarbene Kleidung und den Schmetterling, den sie an einer dünnen silbernen Kette trug. Sehr wohl hätte ich all das wahrgenommen, ihre Stimmungen und Launen und den ganzen Katalog ihres Lächelns, ihres Stirnrunzelns, ihrer Gesten. Wenn ich meine Augen schlösse, sähe ich ihr Gesicht, wenn ich schlafen ginge, sei es das, was ich vor Augen hätte. Ich liebte ihre Oberfläche und ihre Substanz: den Salzgeschmack ihres Halses und die Modulationen ihrer Stimme, die Kurven ihrer Finger und die Worte, die diese auf meinen Körper schrieben… Ich dachte an all das und brachte es doch nicht über mich, es ihr zu sagen. Nicht, dass es unbedingt gelogen gewesen wäre. Aber es war auch nicht unbedingt die Wahrheit.