»Der Spin bringt die Einwände zum Verstummen«, sagte Wun. »Fast jedenfalls. Wenn wir Glück haben, werden die Replikatoren uns etwas Wichtiges über die Hypothetischen mitteilen, oder wenigstens über das Ausmaß ihres Wirkens in der Galaxis. Vielleicht sind wir dann imstande, den Zweck des Spins zu erkennen. Wenn nicht, werden die Replikatoren immerhin als eine Art Warnsignal für andere intelligente Spezies dienen, die mit dem gleichen Problem konfrontiert sind. Durch sorgfältige Analyse wird ein aufmerksamer Beobachter ermitteln können, warum dieses Netzwerk errichtet wurde. Andere Zivilisationen werden sich vielleicht einklinken. Das Wissen kann ihnen helfen, sich zu schützen. Erfolgreich zu sein, wo wir gescheitert sind.«
»Sie glauben, dass wir scheitern werden?«
Wun zuckte mit den Achseln. »Sind wir nicht bereits gescheitert? Die Sonne ist inzwischen sehr alt. Es gibt nichts, dessen Dauer unbegrenzt ist. Und unter den gegebenen Umständen ist selbst ›unbegrenzt‹ keine sehr lange Zeit für uns.«
Vielleicht lag es an der Art, wie er es sagte, vorgebeugt in seinem Rattansessel, das traurige marsianische Aufrichtigkeitslächeln im Gesicht — jedenfalls empfand ich seine Worte als zutiefst schockierend.
Nicht, dass sie mich überrascht hätten. Wir wussten alle, dass wir zum Untergang verdammt waren. Oder zumindest dazu, unser Leben unter einer dünnen Schale zu fristen, die das Einzige war, was uns vor einem feindseligen Sonnensystem schützte. Die Sonnenstrahlen, die den Mars bewohnbar gemacht hatten, würden die Erde zerkochen, falls die Spinmembran entfernt wurde. Und auch der Mars — in seiner eigenen dunklen Umhüllung — rutschte mit großer Geschwindigkeit aus der sogenannten bewohnbaren Zone heraus. Der Stern, der der Ursprung allen Lebens war, hatte sein blutrotes Altersstadium erreicht und würde uns töten, ohne sich groß Gedanken darüber zu machen.
Das Leben war am Rande einer instabilen Kernreaktion entstanden. So war es immer gewesen; auch vor dem Spin, als der Himmel noch klar war und ferne Sterne die Sommernächte funkeln ließen. So war es gewesen, und es hatte keine Rolle gespielt, weil das menschliche Leben kurz war — unzählige Generationen lebten und starben während eines einzigen Herzschlags der Sonne. Doch jetzt waren wir dabei, die Sonne zu überleben, und entweder würden wir als ein Haufen Asche ihren Leichnam umkreisen oder wir würden in ewiger Nacht konserviert, eine verkapselte Kuriosität, ohne Heimat im Universum.
»Tyler? Alles in Ordnung?«
»Ja.« Ich dachte an Diane, warum auch immer. »Ein bisschen was zu verstehen, bevor der Vorhang fällt, vielleicht ist das das Äußerste, was wir uns erhoffen können.«
»Der Vorhang?«
»Bevor es zu Ende geht.«
»Ein großer Trost ist es nicht. Aber, ja, das ist vielleicht wirklich das Äußerste.«
»Ihr Volk lebt seit Jahrtausenden mit dem Spin. Und in dieser ganzen Zeit ist es Ihnen nicht gelungen, etwas über die Hypothetischen herauszufinden?«
»Nein, tut mir Leid, damit kann ich nicht dienen. Auch was die physikalische Natur des Spins betrifft, können wir höchstens ein paar Spekulationen anbieten.« Welche Jason mir kürzlich zu erläutern versucht hatte: es hatte mit Zeitquanten zu tun, war reine Mathematik und weit jenseits praktischer Anwendbarkeit, ob mit marsianischer oder mit terrestrischer Technik. »Über die Hypothetischen selbst können wir gar nichts sagen. Was sie von uns wollen könnten…« Wun zuckte mit den Achseln. »Nur weitere Spekulationen. Die Frage, die wir uns gestellt haben, lautete: Was war das Besondere an der Erde, als sie umhüllt wurde? Warum haben die Hypothetischen so lange gewartet, bis sie den Mars ›eingespinnt‹ haben, und warum haben sie dann diesen speziellen Moment in unserer Geschichte gewählt?«
»Und haben Sie Antworten darauf gefunden?«
Einer der Aufpasser klopfte an die Tür und öffnete sie, ein Mann mit schütterem Haar, in schwarzem Anzug. Er sprach zu Wun, sah aber mich an. »Nur zur Erinnerung, wir erwarten einen Repräsentanten der EU. In fünf Minuten.« Er hielt die Tür offen, erwartungsvoll, auffordernd. Ich erhob mich.
»Nächstes Mal«, sagte Wun.
»Recht bald, hoffe ich.«
»So schnell ich es einrichten kann.«
Es war bereits spät am Nachmittag, und ich hatte keine Termine mehr. Ich verließ das Gebäude durch den Nordausgang. Auf dem Weg zum Parkplatz blieb ich an dem Bauzaun stehen, hinter dem der Perihelion-Ergänzungskomplex hochgezogen wurde. Durch Lücken in der Sicherheitsumgrenzung konnte ich ein schlichtes Steingebäude erkennen, riesige externe Druckbehälter, durch Betonlaibungen gelegte Rohre, so dick wie Fässer. Der Boden war übersät mit gelber PTFE-Isolierung und gewundenem Kupferrohr. Ein Vorarbeiter mit weißem Schutzhelm bellte Anweisungen, und Männer mit Schubkarren, Schutzbrillen und Stahlkappenstiefeln befolgten sie.
Männer, die einen Brutkasten für eine neue Art Leben bauten. Hier würden die Replikatoren in einer Wiege aus flüssigem Helium heranwachsen, bis sie bereit waren, in die kalten Zonen des Universums hinausgeschossen zu werden — in gewissem Sinne unsere Erben, dazu bestimmt, länger zu leben und weiter zu reisen, als es dem Menschen gegeben war. Unser abschließender Dialog mit dem Universum. Es sei denn, E. D. würde sich durchsetzen und das ganze Projekt abblasen.
An diesem Wochenende machten Molly und ich einen Strandspaziergang. Es war ein wolkenloser Samstag Ende Oktober. Wir waren erst einen halben Kilometer über den mit Zigarettenkippen übersäten Sand marschiert, als wir feststellten, dass es unangenehm warm wurde. Die Sonne brannte intensiv, das Meer reflektierte ihr Licht in funkelnden kleinen Punkten, als würden Schwärme von Diamanten vor der Küste schwimmen. Molly trug Shorts, Sandalen, ein weißes Baumwoll-T-Shirt, das auf reizvolle Weise an ihr zu kleben begann, und eine Schirmmütze.
»Also, das hab ich nie begriffen.« Sie wischte sich mit dem Handgelenk über die Stirn und blieb stehen, wandte sich ihren Fußspuren im Sand zu.
»Was denn, Moll?«
»Die Sonne. Ich meine, den Sonnenschein. Dieses Licht. Es ist gefälscht, sagen alle, aber meine Güte, die Hitze ist verdammt echt.«
»Gefälscht ist eigentlich nicht ganz korrekt. Die Sonne, die wir sehen, ist nicht die richtige Sonne, aber dieses Licht würde von dort herkommen. Es wird von den Hypothetischen kontrolliert, die Wellenlängen werden runtergesetzt und gefiltert…«
»Ich weiß, aber ich meine die Art, wie sie über den Himmel zieht. Sonnenaufgang, Sonnenuntergang. Wenn es nur eine Projektion ist, wie kommt es, dass es überall gleich aussieht, von Kanada aus, von Südamerika aus? Wenn die Spin-Barriere nur ein paar hundert Kilometer weit oben ist?«
Ich gab an sie weiter, was Jason mir einmal erzählt hatte: die Pseudosonne war keine auf eine Leinwand projizierte Illusion, es war eine gesteuerte Sonnenlichtkopie, die von einer 150 Millionen Kilometer entfernten Quelle aus durch die Leinwand strahlte, wie ein in einem Riesenmaßstab ablaufendes Bildberechnungsprogramm.
»Verdammt aufwändiger Bühnenzauber«, sagte Molly.
»Würden sie es anders machen, wären wir alle schon vor Jahren gestorben. Die Ökologie des Planeten benötigt einen Vierundzwanzigstundentag.« Wir hatten bereits einige Arten eingebüsst, die für ihre Nahrungssuche oder Paarung auf das Mondlicht angewiesen waren.
»Aber es ist eine Lüge.«
»Wenn du es so nennen willst.«
»Ja, ich nenne es eine Lüge. Ich stehe hier mit dem Licht einer Lüge auf meinem Gesicht. Einer Lüge, von der man Hautkrebs bekommen kann. Aber ich begreife es immer noch nicht. Wahrscheinlich werden wir das erst können, wenn wir die Hypothetischen verstanden haben. Falls es dazu je kommt. Was ich bezweifle.« Eine Lüge, sagte Molly, während wir parallel zu einer alten, vom Salz weiß gewordenen Uferpromenade weitergingen, könne man nicht begreifen, wenn man das ihr zugrunde liegende Motiv nicht kenne. Dabei sah sie mich von der Seite an, die Augen von der Mütze beschattet, und in ihrem Blick lagen irgendwelche Botschaften, die ich nicht entschlüsseln konnte.