Aber selbst diese Erfahrungen, so schlimm sie auch gewesen sein mochten, waren etwas Aufregendes, Neues gewesen, so wie der Gedanke, daß er wahnsinnig geworden sei oder wenigstens auf dem besten Weg dazu. Die Spuren, denen er während der letzten zwei Monate durch seine innere Landschaft nachgewandert (oder gekrochen?) war, waren die einzigen, die es gab. Er hatte sich selbst erforscht, und wenn auch das meiste, was er dabei herausgefunden hatte, banal war, so hatte er auch aufregende und schöne Dinge entdeckt.
Seine Gedanken wanderten zu Olivia zurück, wie er sie mit ihrem Schild ›LAS VEGAS… ODER VERPISS DICH!‹ an der Auffahrtrampe zur Autobahn gesehen hatte, das sie trotzig der kalten Gleichgültigkeit ihrer Umwelt entgegenhielt. Und dann dachte er wieder an das Poster in der Bank: VERREISEN SIE. Warum eigentlich nicht? Hier gab es nichts, was ihn hielt, abgesehen von seiner ekelhaften Manie. Keine Frau und nur das Gespenst eines Kindes, keine Arbeit und nur ein Haus, das in anderthalb Wochen keins mehr sein würde. Er hatte eine Menge Bargeld und ein Auto, das ganz und gar ihm gehörte. Warum stieg er nicht einfach ein und fuhr los?
Plötzlich erfaßte ihn Aufregung. Er sah sich schon alle Lichter im Haus ausschalten, in den LTD steigen und mit dem Geld in der Tasche nach Las Vegas abbrausen. Er würde Olivia suchen und »LASS UNS ABHAUEN« zu ihr sagen.
Dann würden sie nach Kalifornien fahren, den Wagen verkaufen und eine Reise in die Südsee buchen. Von dort nach Hongkong, weiter nach Saigon, Bombay und nach Athen, Madrid, Paris, London, New York. Und dann…
Hierher zurück?
Die Welt war rund, und das war die furchtbare Wahrheit.
So war es ja auch Olivia ergangen, die nach Nevada wollte, um endlich aus ihrer Scheiße rauszukommen. Und dann bekifft sie sich und läßt sich in der ersten Nacht auf dem neuen Gleis vergewaltigen! Denn das neue Gleis ist genau wie das alte, nein, es ist das alte, und es fuhrt einen immer nur im Kreis herum, bis man eines Tages so tief drinsteckt, daß man den Absprang endgültig nicht mehr schafft. Dann ist es Zeit, die Garagentür hinter sich zuzumachen, den Zündschlüssel umzudrehen und zu warten… warten…
Der Abend zog sich hin, und seine Gedanken drehten sich immer mehr im Kreis wie eine Katze, die versucht, ihren Schwanz einzufangen und zu verschlucken. Schließlich schlief er auf der Couch ein und träumte von Charlie.
11. Januar 1974
Magliore rief ihn mittags um Viertel nach eins an.
»In Ordnung«, sagte er. »Wir kommen ins Geschäft, Sie und ich. Es wird Sie neuntausend Dollar kosten. Ich nehme an, daß das Ihre Meinung nicht ändern wird.«
»Bargeld?«
»Was denken Sie sich eigentlich? Glauben Sie wirklich, ich würde einen Scheck von Ihnen annehmen?«
»Natürlich nicht. Entschuldigung.«
»Kommen Sie morgen abend um zehn Uhr zur Revel-Lanes-Bowlingbahn. Wissen Sie, wo das ist?«
»Ja, an der Route 7, gleich hinter dem Skyview-Einkaufszentrum.«
»Richtig. Sie werden dort an der Bahn sechzehn zwei Männer in grünen Hemden finden. Auf den Hemdrücken ist in Gold der Name Mariin Avenue Firestone aufgestickt. Sie werden sich zu ihnen gesellen. Während Sie Bowling spielen, wird einer von den beiden Ihnen alles erklären, was Sie wissen müssen. Sie werden zwei oder drei Runden mitspielen, dann nach draußen gehen und die Straße bis zur Town Line Tavern hinunterfahren. Wissen Sie, wo das ist?«
»Nein.«
»Fahren Sie auf der 7 immer nach Westen. Es ist ungefähr zwei Meilen von der Bowlingbahn entfernt, auf derselben Straßenseite. Parken Sie hinter dem Gebäude. Meine Freunde werden sich neben Sie stellen. Sie fahren einen Dodge-Lieferwagen. Blau. Sie werden eine Kiste aus dem Lieferwagen in Ihren Kombiwagen tragen. Dann geben Sie ihnen einen Umschlag. - Ich muß total verrückt geworden sein, wissen Sie das? Hirnverbrannt. Bei dieser Sache fliege ich höchstwahrscheinlich auf. Dann werde ich Zeit genug haben, darüber nachzudenken, warum, zum Teufel, ich mich darauf eingelassen habe.«
»Ich möchte Sie nächste Woche sprechen. Persönlich.«
»Nein. Absolut nicht. Ich bin nicht Ihr Beichtvater. Ich will Sie nie wieder sehen, auch nicht mit Ihnen sprechen. Um ehrlich zu sein, Dawes, ich möchte nicht mal was über Sie in der Zeitung lesen.«
»Es handelt sich um eine simple Geldsache.«
Magliore schwieg einen Augenblick.
Dann sagte er nochmals: »Nein.«
»Es ist eine Sache, mit der Sie niemand in Verbindung bringen kann«, erklärte er Magliore. »Ich möchte ein … ein Treuhandkonto für jemanden einrichten.«
»Für Ihre Frau?«
»Nein.«
»Kommen Sie am Dienstag vorbei«, willigte Magliore endlich ein. »Vielleicht empfange ich Sie. Vielleicht bin ich dann aber auch wieder bei Trost.«
Er legte auf.
Wieder im Wohnzimmer, dachte er an Olivia und an das Leben - die beiden schienen untrennbar zusammenzugehören. Er dachte ans VERREISEN. Er dachte an Charlie und konnte sich kaum noch an sein Gesicht erinnern, nur an seine Fotos. Wie konnte dies alles nur passieren?
Mit einem plötzlichen Entschluß stand er auf und ging zum Telefon. Er blätterte die Gelben Seiten nach den Reisebüros durch und wählte eine Nummer. Doch als sich am anderen Ende eine freundliche Frauenstimme meldete: »Reisebüro Arnold. Können wir Ihnen behilflich sein?« legte er schnell wieder auf und trat unsicher vom Telefon zurück. Auf dem Weg ins Wohnzimmer rieb er sich nervös die Hände.
12. Januar 1974
Die Revel-Lanes-Bowlingbahn war eine langgestreckte, von Neonröhren erleuchtete Halle, die von den unterschiedlichsten Geräuschen widerhallte. Leise Musik aus den Deckenlautsprechern, eine Jukebox, das stotternde Geklingel der Flipperautomaten, das Klicken der Billardkugeln und über allem das dumpfe Rumpeln, wenn die Bowlingkegel umfie-len, und das dröhnende Rollen der schweren schwarzen Bowlingkugeln.
Er ging an einen Schalter und holte sich ein Paar rotweiß gestreifte Bowlingschuhe, die der Angestellte zeremoniell mit einem Fußdesinfektionsmittel einsprayte, bevor er sie ihm überließ. Dann ging er zu Bahn sechzehn. Die beiden Männer waren schon da. Der eine stand gerade mit einer Kugel in der Hand an der Bahn. Es war der Mechaniker, der am ersten Tag, an dem er Magliores Gebrauchtwagenhandlung aufgesucht hatte, in der Garage einen neuen Auspuff in einen Wagen eingebaut hatte. Der andere, der am Tisch saß und die Ergebnisse aufschrieb, war einer von den beiden, die mit dem Fernsehlastwagen zu seinem Haus gekommen waren. Er trank Bier aus einem Pappbecher. Als er auf sie zu ging, blickten sie beide auf.
»Ich bin Bart«, stellte er sich vor.
»Ich binRay«, antwortete der Mann am Tisch. »Und der da drüben« - der Mechaniker ließ jetzt die Kugel rollen - »ist Alan.«
Die Bowlingkugel glitt aus Alans Hand und donnerte die Bahn entlang. Die Kegel fielen in alle Richtungen, und Alan schnaufte verächtlich. Er hatte die Sieben und die Zehn nicht getroffen: Mit der nächsten Kugel versuchte er, beide auf einmal zu erwischen, indem er sie rechts rüberzog, aber die Kugel lief aus der Bahn und verschwand im Hintergrund. Alan schnaufte noch einmal verächtlich, als die Maschine die zehn Kegel wieder aufstellte.
»Du mußt nur auf einen gehen«, belehrte Ray ihn. »Immer nur auf einen. Für wen hältst du dich? Billy Welu?«