Yeats richtete den Blick stumm auf die anderen Monitore. Sie zeigten verschiedene undeutliche Bilder der P4 und der Bohrplattform an deren flacher Spitze, von der aus eine Mannschaft an der Nordseite der Pyramide in die Tiefe bohrte, so wie Conrad es angewiesen hatte.
»Junge, bete mal lieber, dass deine Vermutung mit dem Schacht sich als richtig erweist. Sonst werde ich dich vielleicht auch noch in den Bau schicken müssen. Und ehrlich gesagt, um dich wird sich die Welt einen Scheiß scheren.«
Conrad wollte etwas erwidern, aber da kam gerade Colonel O'Dell mit einer Akte herein. Conrad bemerkte den missbilligenden Blick des Mannes, der wahrscheinlich daher rührte, dass Conrad der einzige Zivilist in der Basis war, der sich frei bewegen durfte. O'Dell hätte ihn wohl am liebsten zu den anderen in die Zelle gesperrt.
»Hier ist der Bericht der NSA über Schwester Serghetti, Sir.«
»Danke, Colonel.«
Conrad sah zu, wie Yeats den Bericht überflog. »Die NSA unterhält Akten über Nonnen?«
»Nur über Nonnen, die ein universales Übersetzungssystem auf der Basis der Aimara-Sprache entwickelt haben«, sagte Yeats. »Die NSA versucht schon die ganze Zeit, an Schwester Serghettis System ranzukommen. Die Aimara-Sprache ist so makellos, dass die NSA vermutet, sie habe sich nicht wie andere Sprachen erst langsam entwickelt, sondern sei direkt auf dem Reißbrett entworfen worden.«
»Können Sie das genauer erklären, Doktor Yeats?«, platzte es aus O'Dell heraus.
Yeats sah O'Dell scharf an, aber Conrad zuckte nicht mit der Wimper.
»Der älteste Mythos der Aimara besagt, dass nach der großen Flut Eindringlinge versucht haben, in der Nähe des Titicacasees eine Stadt zu bauen. Die Überreste sind uns als Tiahuanaco, die Stadt mit dem großen Sonnentor, bekannt. Aber die Erbauer verließen sie und verschwanden spurlos.«
»Und woher sollen diese Erbauer gekommen sein?«, fragte ihn Yeats mit ernster Miene.
»Der Legende nach kamen sie von einer verlorenen Paradiesinsel namens ›Aztlán‹, der aztekischen Version von Atlantis.« Conrad blickte seinen Vater an. »Also, was sagst du dazu?«
Yeats klappte den Ordner zu. »Die gute Schwester kennt vielleicht die Sprache der P4-Erbauer.«
***
Serena hatte die Antarktis immer als ein Symbol für Frieden und Harmonie betrachtet, als ein Modell dafür, wie die Menschen miteinander und mit anderen Lebewesen auf dem Planeten zusammenleben könnten. Solche Illusionen hatte sie sich auch über die Beziehung mit Conrad gemacht. Aber jetzt, wo sie sich in ihrer Arrestzelle in der Eisstation Orion umsah, war ihr Traum dahingeschmolzen. Es blieben kalte Wände, ein winziges Waschbecken und ein Klo.
Wahrscheinlich gab es irgendwo eine versteckte Kamera, und zweifellos würden General Yeats und dieses Ekel Conrad jede ihrer Bewegungen beobachten. Aber in ihren Kopf konnten sie nicht hineinsehen. Sie saß also auf ihrer Pritsche und tat so, als ob sie mit ihren Gedanken allein wäre.
Als Australierin fühlte sie sich mit der Antarktis mehr verbunden als mit den Amerikanern. Als kleines Mädchen hatte sie in dem Wissen, dass auf der anderen Seite der große weiße Kontinent lag, oft über das Meer geschaut. Australien war von allen Staaten dieser Welt der Antarktis am nächsten und beanspruchte 42 Prozent von deren Oberfläche, darunter die Antarktis und eben auch das Gebiet, auf dem die Amerikaner nun dieses geheime Lager errichtet hatten.
Ihre ganze Erfahrung mit der Antarktis – die hauptsächlich aus der Rettung seltener Seehund- und Walarten bestand – beschränkte sich auf die spektakuläre Landschaft an den Randzonen des Kontinents. Die Tierwelt dort war wunderbar und das Polarlicht überwältigend. Ihre Mission in die inneren Schneewüsten hatte hingegen bewiesen, dass die Antarktis tatsächlich ein unbewohnter Kontinent war. Selbst hier, in der Wärme der amerikanischen Basis, konnte sie die Ödnis spüren.
Sie glaubte auch die Knackgeräusche aus den Verbindungsgängen zu hören. Stationen, die auf dem Eis gebaut waren, sanken normalerweise durch ihr Eigengewicht ab, weil die Wärme, die sie erzeugten, das Eis zum Schmelzen brachte. Die hiesige Basis, wahrscheinlich schon mehrere Tage alt, war gerade dabei abzusinken.
Sie dachte an ihre Gefangennahme auf dem geheimen Landeplatz im Eis zurück und daran, wie sie zur Eisstation Orion abgeführt worden war. Das Hägglunds-Gefährt, das sie ins Lager brachte, war unterwegs an einem Kraftwerk vorbeigekommen. Es lag eingeschneit hundert Meter von den Wohnquartieren entfernt hinter einer schützenden Schneedüne. Zu entlegen, um bei dieser Kälte mit Dieselmotoren betrieben zu werden, dachte sie. Es war wahrscheinlich ein kleines Atomkraftwerk. Vermutlich ein 100-Kilowatt-System.
Sie war erst einmal wütend. Wie können sich die Amerikaner erdreisten, Atommaterial auf den Kontinent zu bringen! 90 Prozent der gesamten Eismasse befand sich hier. Ein Schmelzen konnte eine weltweite Katastrophe auslösen. Allein das war schon Grund genug, die Amerikaner bei der UNO anzuschwärzen.
Aber mittlerweile war ihr Zorn auf die Amerikaner, die jegliches internationales Recht verletzt hatten, in Faszination übergegangen. Auch wenn sie sich Conrad und General Yeats gegenüber so reserviert gegeben hatte, hatte ihr Treffen in der Luftschleuse in Wirklichkeit Erregung in ihr ausgelöst. Und dann war da natürlich auch noch Conrad. Ihr Auftrag hier beinhaltete eindeutig mehr als nur, die Unberührtheit der Antarktis vor den Amerikanern zu schützen.
Ihr war bewusst, dass hier etwas Bedeutungsvolles gefunden worden war, genau wie der Papst gesagt hatte. Etwas, was die Geschichte – vor allem die christlich-jüdische Religionsgeschichte – auf den Kopf stellen konnte. Trotzdem fühlte sie sich in Hochstimmung. Von allen Kandidaten, die der Heilige Vater stellvertretend hätte aussuchen können, um dieses historische Ereignis zu erleben, hatte er sie ausgewählt.
Sie hörte, wie die Tür mit einem Summgeräusch geöffnet wurde, und drehte sich um.
***
Serena saß auf der Pritschenkante und trank öligen Tee aus einer Styroportasse, als der Militärpolizist die Zellentür öffnete und Conrad hereinließ. Conrad bemerkte den silbernen Braut-Jesu-Ring am linken Ringfinger, der ihre geistige Verbundenheit mit dem einzigen Sohn Gottes symbolisierte. Zu seinem Bedauern handelte es sich dabei um Jesus und nicht um so einen üblen Schuft wie ihn. Er fragte sich, warum sie den Ring noch trug. Wahrscheinlich um seinesgleichen in Schach zu halten.
»Conrad.« Serena setzte ein Lächeln auf. »Ich hab mir schon gedacht, dass sie dich schicken. Du hast immer schon originelle Ideen gehabt, wenn es um ein heimliches Stelldichein ging.«
Conrad besah sich ihren schwarzen Wollpulli und das schwarze Haar, das ihr auf die Schultern fiel. Unter dem Pulli trug sie wahrscheinlich Funktionsunterwäsche. Was dann unter der war, musste Conrad sich nicht weiter vorstellen.
»Was ist daran so originell?« Er berührte ihr Gesicht. »Dir ist immer noch kalt.«
»Mir geht's gut. Aber was hast du denn da gemacht?«
Er sah seine verbundene Hand an. »Das bringt der Beruf so mit sich. Reiner Zufall.«
»Wie du auch General Yeats nur zufällig über den Weg gelaufen bist? Ich hätte es eher für möglich gehalten, dass wir beide beruflich miteinander zu tun haben als du und dein Vater.«
»Und was ist mit deinen Supermännern nebenan in der …«
»Zelle?« Sie musste lächeln. »Hast du etwa Angst vor Konkurrenz, Conrad?«, fragte sie. »Brauchst du nicht. Wenn ich die einzige Frau auf der Welt wäre und du der einzige Mann, würde ich wieder Nonne werden.«
Conrad sah in ihre hellbraunen Augen. Seit fünf Jahren war es das erste Mal, dass sie sich allein gegenüberstanden, und Conrad fand, dass sie schöner aussah als je zuvor. Er hingegen fühlte sich alt und verbraucht. »Warum bist du hier, Serena?«
»Die Frage könnte ich auch dir stellen, Conrad.«
Er brannte darauf, ihr von den Ruinen unter dem Eis zu erzählen, ihr zu sagen, dass sich seine Theorien bewahrheiten sollten. Aber er tat es nicht. Schließlich hatten sie sich ja noch nicht einmal ansatzweise mit den Ruinen des eigenen Lebens auseinander gesetzt.