»Das Merkwürdige an dem See ist, dass er über zweihundert Kilometer vom Pazifik entfernt liegt und doch eine Vielfalt an Meerestieren aufweist: Seepferdchen, Schalentiere und auch Meerespflanzen«, dozierte Conrad augenzwinkernd.
»Sie glauben also, dass es sich um Meereswasser handelt, das von der Sintflut übrig geblieben ist?«
Conrad zuckte die Achseln. »Als das Wasser zurückging, staute sich hier in den Anden ein Teil davon auf.«
»Das erklärt vermutlich auch die Hafenanlagen von Tiahuanaco.«
Conrad lächelte. »Genau. Warum sonst sollten die Überreste der zwölf Meilen entfernten Stadt Hafenanlagen aufweisen?«
»Es sein denn, die Stadt war früher einmal selbst ein Hafen, nämlich wenn der See nach Süden hin 12 Meilen länger und 35 Meter höher war«, schloss Serena. »Was bedeuten würde, dass hier vor der großen Flut eine Kultur geblüht hat und Tiahuanaco somit mindestens 15.000 Jahre alt ist.«
»Stellen Sie sich das mal vor!«
Sie konnte es sich genau vorstellen. Sie wollte es jedenfalls. Eine Welt vor Anbruch unserer Geschichtsschreibung. Wie mochte sie ausgesehen haben? Hatten sich die Leute sehr von den Menschen heute unterschieden? Bestimmt hatte es Frauen wie sie gegeben und Männer wie Conrad, dachte sie. Er hatte seine skeptische Miene abgelegt und war richtig offen geworden. Ganz anders als bei seinem Auftreten bei den Wissenschaftlern.
Die Nachtluft war kühl, und Serena hatte sich vorn ins Boot gekauert. Conrad paddelte langsam dahin. In der Dämmerung war der Himmel von einem herrlichen Türkisblau. Der gläserne See streckte sich bis in die Ewigkeit.
Die meiste Zeit glitten sie schweigend am Schilf entlang. Nur das leise Plätschern des Paddels beim Eintauchen klang wie ein Metronom aus der Vorzeit. Auf einmal zog Conrad das Paddel mitten auf dem glitzernden See ein und ließ das Boot unter dem Sternenhimmel treiben.
»Was ist los?«, fragte sie.
»Nichts.« Er zog einen Picknick-Korb und Wein hervor. »Absolut nichts.«
»Conrad, wir sollten jetzt zurückfahren. Die Schwestern werden sich Sorgen machen.«
»Sollen sie doch.«
Er setzte sich neben sie, gab ihr einen Kuss und drückte sie sanft nach hinten, bis sie im Boot lag. Er streichelte ihr Gesicht und küsste sie auf den Mund. Ein Schauer überkam sie.
»Conrad, bitte.«
Sie sahen sich in die Augen, und sie musste an seine schmerzvolle Kindheit denken, an seine Familienverhältnisse. Wenn es jemals einen Mann geben sollte, dem sie sich hingab, eine Situation in ihrem Leben, einen Ort auf diesem Planeten, dann war der Augenblick jetzt gekommen, dachte sie.
»Morgen gehe ich nach Arizona zurück und du nach Rom«, flüsterte er ihr ins Ohr. »Wir werden die letzte Nacht in Bolivien in Erinnerung behalten, die Nacht, die niemals stattgefunden hat.«
»Und niemals stattfinden wird«, sagte sie und stieß ihn über Bord. Mit Genugtuung hörte sie das Platschen.
***
Auch Conrad dachte in seiner Kabine an die Nacht damals mit Serena im Boot, während er seine Ausrüstung für den bevorstehenden Abstieg in die P4 packte. Er hatte vor ihrer Entschlossenheit und ihrem Mut immer Ehrfurcht empfunden. Und ihre Schönheit suchte ihresgleichen. Dennoch ging sie so selbstverständlich damit um, als wäre es ihr egal, ob sie siebzehn oder siebzig war. Sie war charmant und zurückhaltend, ja sogar witzig. In jener Nacht hatten ihn ihre strahlenden Augen unter dem dunklen Haar verzaubert und sein Herz erwärmt.
Sie hatte ihm gestanden, seine Klarheit und Zielstrebigkeit immer bewundert zu haben. Er wäre sich immer treu geblieben, sagte sie, anders als sie, die immer etwas vortäuschte. Er hatte sich damals gefragt, welch dunkles Geheimnis sie ihm wohl mitteilen wollte, und stellte dann fest, dass es gar keines gab. Ihre einzige Sünde bestand darin, ein ungewolltes Kind gewesen zu sein.
Einen flüchtigen Augenblick lang war er ihr damals sehr nahe gekommen. Da hatte er ihre religiöse Todessehnsucht verstanden und ihren Drang, eine Märtyrerin, eine Heilige, eine bedeutende Frau zu sein. Ihr wohltätiges Handeln war ihr Weg, Beziehungen zu vermeiden. Sie fürchtete, ›ertappt‹ zu werden und so ihren Ansprüchen – und den Erwartungen Gottes – nicht gerecht zu werden. Gefühlen wie ›nicht gebraucht zu werden‹, ›wertlos‹ zu sein, der ›Irrtum‹, überhaupt auf der Welt zu sein, versuchte sie mit aller Kraft zu entkommen. Aber sie hatte keine Angst davor, dass er sie zurückweisen könnte. Sie wusste, dass er sie liebte.
Und da hatte er gemerkt, dass auch sie ihn innig liebte.
Damals hatte er das Gefühl, dass seine lebenslange Suche nun beendet war, dass er den Gottestempel gefunden hatte. Die Tatsache, dass er in ihr heiliges Geheimnis eingebrochen war und sich nahm, was ihm nicht gehörte, machte diese Erfahrung nur noch aufregender und gefährlicher, aber auch befriedigender, so als würde er ein Kunstwerk aus vergangener Zeit rauben.
Als sie ihn dann aber aus dem Boot in das eiskalte Wasser des Titicacasees stieß, wusste er, dass es vorbei war. Sie lachte nicht, als er wieder an Bord kletterte. Es war kein Spaß gewesen. Die Angst war in ihre Augen zurückgekehrt.
Da merkte Conrad, dass sie es war, die ihm etwas geraubt hatte. »Was hat das zu bedeuten?«, hatte er gefragt.
»Ich will nach Tiahuanaco zurück«, sagte sie. »Bevor mich jemand beim Frühstück vermisst.«
»Trau dich doch! Genießen wir die Zeit, die uns noch bleibt.«
»Sie enttäuschen mich, Doktor Yeats.« Sie reichte ihm das Paddel. »Ich hätte Sie nicht für jemand gehalten, der sich über Nonnen hermacht.«
Conrad, nicht gerade ein Mann mit geringem Selbstwertgefühl, war enttäuscht, dass sie seine Annäherungsversuche verschmäht hatte. Schlimmer noch, sie leugnete quasi, selbst auch einen Anteil daran gehabt zu haben. »Und ich hätte nicht gedacht, dass Sie eine Nonne sind, die sich darum schert, was andere denken.«
»Das tue ich auch nicht«, hatte sie erwidert.
Natürlich hatte sie Recht. So viel war klar. Aber Conrad spürte, dass sie in Wirklichkeit Angst vor ihren Gefühlen hatte, Angst davor, die Kontrolle zu verlieren. Wenn man Serena Serghetti ausschließlich als Nonne sehen wollte, dann war sie eindeutig eine, die dafür sorgte, dass sie nie die Kontrolle verlor.
Sie waren nicht in Frieden auseinander gegangen. Sie verhielt sich, als hätte sie einen großen Fehler begangen. Als ob sie mit der gemeinsamen Nacht ihre ganze Zukunft aufs Spiel gesetzt hätte. In Wirklichkeit bereute sie jedoch keine Sekunde. Zumindest kam Conrad schließlich zu diesem Schluss. Sie fürchtete nur eine intimere Beziehung. Als hätte sie etwas zu verbergen. Auf einmal verstand er es: Dieses Etwas war sie selbst. Sie war von sich enttäuscht und fühlte sich deshalb seiner unwürdig.
Er wusste, dass sie sich täuschte, und er schwor, ihr zu beweisen, dass sie auch ohne den Titel ›Schwester‹ etwas wert war, so wie er den Preis für ihren Verzicht wert war. Aber davon wollte sie nichts wissen.
Der letzte gemeinsame Augenblick war, als er am Ufer versuchte, ihr einen Abschiedskuss zu geben. Sie rannte davon, um ein Taxi zu rufen. Er winkte, aber sie blickte sich nicht mehr um. Eine Woche später versuchte er, sie in Rom anzurufen. Nach Monaten vergeblichen Bemühens erschien er sogar unangesagt auf einer ihrer Konferenzen. Inzwischen war sie berühmt geworden, warf sich voll und ganz auf ihre Arbeit, sodass er sich fragte, ob sie das ungeliebte Kind in sich nun vergessen wollte – oder ihn.
Jedenfalls stellte er bald fest, dass eine Privataudienz bei ›Mutter Erde‹ genauso wahrscheinlich war, wie seine heißgeliebte Urkultur zu finden.
Was sich inzwischen natürlich geändert hatte.
***
Diese Nonne hat was drauf, dachte Yeats, als er sich in der Kommandozentrale noch mal das Gespräch zwischen Serghetti und Conrad auf Video ansah. Das musste man ihr lassen. Der Papst wusste genau, was er tat, indem er sie schickte.