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»Zugegeben, ich bin durcheinander und nicht ich selbst. Es hat mich ein bisschen aus der Bahn geworfen«, sagt Lucy und konzentriert sich voll aufs Fahren. Sie macht sich Sorgen, dass sie sich wirklich nicht mehr im Griff und dass Rudy Recht haben könnte. »So wie gerade eben hätte ich mich nie verhalten dürfen. Niemals. Für so einen Mist bin ich eigentlich viel zu professionell.«

»Du schon. Sie nicht.« Rudy hat den Kiefer störrisch vorgeschoben. Seine Augen sind hinter der verspiegelten Sonnenbrille verschwunden. Er will nicht, dass Lucy ihm in die Augen schauen kann, und das gefällt ihr gar nicht.

»Ich dachte, wir reden über den Latino von eben«, erwidert sie.

»Du weißt, was ich dir von Anfang an gepredigt habe«, fährt Rudy fort. »Über die Gefahr, die es bedeutet, jemanden bei dir wohnen zu lassen. Jemanden, der dein Auto und deine Sachen benutzt. Jemanden, der solo in deinem Luftraum fliegt. Jemanden, der deine und meine Regeln nicht kennt und, zum Teufel nochmal, nicht unsere Ausbildung hat. Und der auch nicht an denselben Dingen hängt wie wir. An unserem Leben zum Beispiel.«

»Es darf doch nicht immer alles von der Ausbildung abhängen«, entgegnet Lucy. Es ist einfacher, über das Thema Ausbildung zu sprechen, als darüber, ob man dem Menschen, den man liebt, wirklich etwas bedeutet. Ein Gespräch über den Latino ist unkomplizierter als eines über Henri. »Ich hätte mich vorhin niemals so verhalten dürfen, und ich entschuldige mich dafür.«

»Vielleicht hast du vergessen, wie es im Leben wirklich zugeht«, gibt Rudy zurück.

»Bitte, nein, verschon mich mit deinen Weisheiten«, zischt sie, tritt aufs Gas und fährt nach Norden in Richtung Hillsboro, wo ihre lachsfarben verputzte Villa im mediterranen Stil steht. »Ich glaube nicht, dass du die Situation objektiv beurteilen kannst. Du schaffst es ja nicht mal, ihren Namen auszusprechen, und redest immer nur von ›jemand‹.«

»Objektiv! Dass ich nicht lache! Das sagst ausgerechnet du.« Sein Tonfall klingt fast schon böse und schneidend. »Die blöde Kuh hat alles kaputtgemacht. Und dazu hattest du nicht das Recht. Du hattest nicht das Recht, mich zum Mitspielen zu zwingen.«

»Rudy, wir müssen aufhören, uns zu streiten«, versucht Lucy ihn zu beruhigen. »Warum gehen wir so miteinander um?« Sie blickt ihn an. »Es ist nicht alles kaputt.«

Er antwortet nicht.

»Warum brüllen wir uns an? Ich finde es zum Kotzen«, versucht sie es weiter.

Früher haben sie sich nie gestritten. Er hat zwar ab und zu geschmollt, sie aber nie offen kritisiert, bis sie das Büro in Los Angeles eröffnet und Henri vom LAPD abgeworben hat. Ein dumpfer Sirenenton kündigt an, dass die Zugbrücke gleich geöffnet wird. Lucy schaltet herunter und stoppt. Diesmal reckt ein Mann in einer Corvette den Daumen beifällig in die Höhe.

Mit einem traurigen Lächeln schüttelt sie den Kopf. »Ja, ich kann ganz schön dämlich sein«, meint sie. »Liegt wohl in den Genen. Von dem durchgeknallten Latino, meinem leiblichen Vater. Hoffentlich habe ich nicht auch was von meiner Mutter mitgekriegt, das wäre nämlich noch schlimmer. Und zwar um einiges.«

Rudy schweigt und starrt auf die Brücke, die hochklappt, um eine Jacht durchzulassen.

»Lass uns nicht streiten«, fährt sie fort. »Es ist nicht alles kaputt. Komm schon.« Sie greift nach seiner Hand und drückt sie. »Waffenstillstand? Neuanfang? Müssen wir Benton anrufen, damit er die Geiselverhandlungen moderiert? Denn inzwischen bist du nicht nur mein Freund und Partner, sondern auch meine Geisel. Und ich bin wahrscheinlich auch deine, richtig? Du, weil du den Job brauchst oder ihn zumindest behalten willst, und ich, weil ich ohne dich aufgeschmissen wäre. So ist es nun mal.«

»Ich brauche überhaupt nichts«, entgegnet er, und seine Hand rührt sich nicht. Sie fühlt sich an wie tot, sodass Lucy loslässt und ihre Hand wegnimmt.

»Das weiß ich sehr wohl«, erwidert sie, gekränkt, dass er ihre Berührung nicht erwidert. Sie legt die zurückgewiesene Hand wieder aufs Lenkrad. »Mit dieser Angst lebe ich inzwischen ständig. Damit, dass du sagen könntest, ich verschwinde, goodbye und viel Spaß noch.«

Er starrt auf die Jacht, die durch die offene Brücke hinaus aufs Meer segelt. Die Menschen an Deck tragen Bermudas und bewegen sich mit dem Selbstbewusstsein der wenigen wirklich Reichen. Lucy ist sehr reich. Sie glaubt es nur nicht. Beim Anblick dieser Jacht fühlt sie sich weiterhin arm. Und als sie Rudy ansieht, kommt sie sich sogar noch ärmer vor.

»Kaffee?«, fragt sie. »Trinkst du einen Kaffee mit mir? Wir können uns an den Pool setzen, den ich nie benutze, und aufs Wasser hinausschauen, das ich nie wahrnehme, in diesem Haus, von dem ich wünschte, ich hätte es nie besessen. Ich kann sehr dumm sein«, meint sie. »Trink einen Kaffee mit mir.«

»Ja, okay.« Er schaut aus dem Fenster wie ein schmollender kleiner Junge, als Lucys Briefkasten in Sicht kommt. »Ich dachte, den wollten wir abnehmen«, sagt er und deutet darauf. »Du kriegst doch zu Hause keine Post. In diesem Ding findest du höchstens etwas Unerwünschtes. Vor allem jetzt.«

»Ich werde den Gärtner bitten, ihn abzumontieren, wenn er das nächste Mal kommt«, antwortet sie. »Ich war in letzter Zeit kaum hier. Die Eröffnung des Büros und so weiter. Ich fühle mich wie die Lucy aus Hoppla Lucy. Erinnerst du dich an die Folge, in der sie in einer Bonbonfabrik arbeitet und völlig überfordert ist, weil die Bonbons so schnell vom Fließband purzeln?«

»Nein.«

»Wahrscheinlich hast du dir in deinem ganzen Leben nie Hoppla Lucy angeschaut«, meint sie. »Meine Tante und ich haben immer zusammengesessen und uns Jackie Gleason, Bonanza und Hoppla Lucy angesehen, die Sendungen, die sie schon aus ihrer Kindheit in Miami kannte.« Sie rollt im Schritttempo an dem Anstoß erregenden Briefkasten am Ende der Auffahrt vorbei. Verglichen mit Lucy wohnt Scarpetta sehr bescheiden, und sie hat ihre Nichte davor gewarnt, in dieses Haus zu ziehen.

Es ist eindeutig zu protzig für dieses Viertel, hat Scarpetta zu ihr gesagt. Es war eine falsche Entscheidung, es zu kaufen, und Lucy bereut es inzwischen. Sie nennt das zweistöckige Haus mit den vierhundert Quadratmetern Wohnfläche ihr Neun-Millionen-Dollar-Stadthäuschen, weil es auf zwölfhundert Quadratmetern Grund steht. Die Rasenfläche ist so klein, dass sie nicht einmal ein Kaninchen ernähren würde. Der restliche Garten besteht aus Plattenwegen, einem kleinen eingelassenen Pool, einem Brunnen und ein paar Palmen und anderen Pflanzen. Hat ihre Tante Kay ihr nicht genügend Vorhaltungen gemacht, weil sie dort eingezogen ist? Weder Privatsphäre noch Sicherheitsvorkehrungen, dafür aber frei zugänglich für jedermann, der ein Boot besitzt, hat Scarpetta gemeint. Aber Lucy war zu beschäftigt und geistesabwesend, um ihrem Zweitwohnsitz die gebührende Aufmerksamkeit zu widmen, da sie nichts anderes im Kopf hatte, als Henri glücklich zu machen. Du wirst es noch bedauern, hat Scarpetta gewarnt. Lucy ist vor knapp drei Monaten hier eingezogen, und sie bedauert es wie noch nie etwas in ihrem Leben.

Sie betätigt die Fernbedienung, um das Tor zu öffnen, und dann eine zweite, die ihr die Zufahrt zur Garage ermöglicht.

»Warum die Mühe?« Rudy deutet auf das sich öffnende Tor. »Die verdammte Auffahrt ist ja nur drei Meter lang.«

»Das brauchst du mir nicht auch noch unter die Nase zu reiben«, erwidert Lucy gereizt. »Ich hasse diese Scheißbude.«

»Jemand könnte sich von hinten heranschleichen und wäre in deiner Garage, bevor du nur einen Mucks machst.«