»Dann muss ich denjenigen eben umlegen.«
»Das ist kein Scherz.«
»Ich scherze nicht«, entgegnet Lucy, während sich das Garagentor langsam hinter ihnen schließt.
10
Lucy parkt den Ferrari Modena neben dem schwarzen Ferrari, einem Zwölf-Zylinder-Scaglietti, der in einer Welt voller Geschwindigkeitsbeschränkungen nie die Möglichkeit haben wird, an die Grenzen seiner Kraft zu gehen. Als sie und Rudy aus dem Modena steigen, wendet sie den Blick von der beschädigten Motorhaube des schwarzen Ferrari ab, wo unbeholfen ein riesiges Auge mit Wimpern in den wunderschön schimmernden Lack gekratzt ist.
»Das Thema ist zwar recht unangenehm«, sagt Rudy, während er zwischen den beiden Ferrari zur Tür geht, die ins Innere der Villa führt. »Aber könnte es möglich sein, dass sie es selbst getan hat?« Er deutet auf die zerkratzte Motorhaube des Scaglietti, aber Lucy schaut nach wie vor nicht hin. »Ich frage mich nämlich immer noch, ob sie die ganze Sache nicht vorgetäuscht hat.«
»Sie war es nicht«, erwidert sie.
»Das lässt sich reparieren«, erwidert Rudy und steckt die Hände in die Hosentaschen, während Lucy die Tür öffnet und die Alarmanlage deaktiviert, die mit jeder möglichen Erkennungsfunktion ausgestattet ist. Auch Kameras, im Haus und draußen, gehören dazu. Allerdings zeichnen die Kameras nicht auf. Lucy wollte nicht, dass ihr Privatleben im Haus und auf dem Grundstück auf Video gebannt wird, und Rudy kann das bis zu einem gewissen Grad nachvollziehen. Ihm würde es auch nicht gefallen, wenn versteckte Kameras ihn überall in seinem Haus filmen würden. Und er wohnt allein. Lucy hingegen hatte eine Mitbewohnerin, als sie beschlossen hat, dass sie das, was in ihrem Haus und auf ihrem Grundstück geschieht, lieber nicht aufnehmen möchte.
»Vielleicht sollten wir deine Kameras in Betrieb nehmen und aufzeichnen«, meint er.
»Ich verkaufe dieses Haus«, erwidert Lucy.
Er folgt ihr in die riesige, mit Granit ausgestattete Küche und sieht sich in dem eindrucksvollen Ess- und Wohnzimmer um. Durch das Fenster hat man eine malerische Aussicht auf den Meeresarm und den Ozean. Die Decke ist sechs Meter hoch und mit einem Fresko im Stil von Michelangelo bemalt, in dessen Mitte ein Kronleuchter aus Bleikristall hängt. Der Esstisch ist aus Glas, sieht aus wie aus Eis gehauen und ist das faszinierendste Möbelstück, das Rudy je untergekommen ist. Er denkt lieber gar nicht daran, wie viel Lucy für diesen Tisch und die butterweiche Ledergarnitur, die Gemälde mit afrikanischen Tiermotiven – riesige Leinwände voller Elefanten, Zebras, Giraffen und Geparden – bezahlt hat. Rudy könnte sich nicht einmal eine Lampe aus Lucys Zweitwohnsitz leisten und auch keinen der Seidenteppiche. Vermutlich würden selbst manche der Zimmerpflanzen sein Budget übersteigen.
»Ich habe es satt«, sagt sie, während er sich weiter umschaut. »Ich fliege Helikopter und weiß nicht einmal, wie man hier das Heimkino bedient. Ich hasse diese Bude.«
»Erwarte nicht, dass ich Mitleid mit dir habe.«
»Hey.« Sie unterbricht das Gespräch in einem Tonfall, der ihm vertraut ist. Sie hat genug von seinen Sticheleien.
Auf der Suche nach dem Kaffee öffnet er einen der Gefrierschränke. »Was hast du denn Essbares da?«, fragt er.
»Chili. Selbst gekocht. Gefroren, aber wir können es in der Mikrowelle auftauen.«
»Klingt prima. Kommst du später mit ins Fitness-Studio? So gegen halb sechs?«
»Mir bleibt wohl nichts anderes übrig«, antwortet sie.
In diesem Moment fällt ihnen die Hintertür auf, die zum Pool führt, dieselbe Tür, durch die der Eindringling, wer immer er auch sein mag, vor einer knappen Woche das Haus betreten und es wieder verlassen hat. Die Tür ist zwar verschlossen, aber etwas klebt von außen an der Glasscheibe. Lucy eilt bereits darauf zu, und bevor Rudy klar wird, was geschieht, hat sie die Tür schon aufgerissen und betrachtet das weiße Blatt Papier, das mit einem einzigen Klebestreifen daran festgemacht ist.
»Was ist das?«, fragt Rudy, schließt den Gefrierschrank und starrt sie an. »Was zum Teufel ist das?«
»Wieder ein Auge«, sagt Lucy. »Eine Zeichnung von demselben Auge. Mit Bleistift. Und du hattest Henri in Verdacht. Sie ist mehr als fünfzehnhundert Kilometer weit weg von hier, und du hast gedacht, dass sie es war. Tja, jetzt hast du die Antwort. Er will mir mitteilen, dass er mich beobachtet«, fügt sie zornig hinzu und tritt nach draußen, um sich die Zeichnung von dem Auge besser anzuschauen.
»Nicht anfassen!«, ruft er.
»Hältst du mich für blöd, oder was?«, schreit sie zurück.
11
Verzeihung«, meint ein junger Mann, der einen violetten OP-Anzug, einen Gesichtsschild mit Maske, eine Kopfbedeckung, Schuhe und zwei Paar Latexhandschuhe übereinander trägt. Als er sich Scarpetta nähert, sieht er aus wie die Karikatur eines Astronauten. »Was sollen wir denn mit ihrem Gebiss machen?«
Scarpetta will ihm schon erklären, dass sie nicht hier arbeitet, doch ihr fehlen die Worte, und sie starrt stattdessen auf die dicke tote Frau, die gerade von zwei Leuten – ebenfalls vermummt, als hätten sie Angst, sich die Pest zu holen – in einen Leichensack gesteckt wird. Sie liegt auf einer Bahre, die stabil genug ist, um ihr gewaltiges Gewicht zu tragen.
»Sie hat ein Gebiss«, wendet sich der junge Mann im violetten OP-Anzug nun an Fielding. »Wir haben es in eine Schachtel gelegt und vergessen, es in den Beutel zu tun, bevor wir sie wieder zugenäht haben.«
»Es gehört auch nicht in den Beutel.« Scarpetta beschließt, sich dieses sonderbaren Problems anzunehmen. »Sondern in ihren Mund. Dem Beerdigungsinstitut und der Familie wird es lieber sein, wenn sie es im Mund hat. Und sie fände es vermutlich auch besser, wenn sie mit ihren Zähnen beerdigt würde.«
»Also müssen wir sie nicht wieder aufschneiden und den Beutel rausholen«, erwidert der Soldat in Violett. »Da bin ich aber erleichtert.«
»Vergessen Sie den Beutel«, sagt Scarpetta zu ihm. »Gebisse gehören grundsätzlich nicht dort hinein.« Sie meint den stabilen durchsichtigen Plastikbeutel, der sich nun in der leeren Brusthöhle der dicken Frau befindet. Der Beutel enthält ihre obduzierten Organe, die nicht an die anatomisch korrekte Stelle zurückgelegt wurden, da es nicht die Aufgabe eines forensischen Pathologen ist, Menschen wieder zusammenzusetzen. Dies wäre auch gar nicht möglich und in etwa damit vergleichbar, als wolle man aus einem Gulasch eine Kuh rekonstruieren. »Wo ist das Gebiss?«, fragt Scarpetta.
»Gleich da drüben.« Der junge Mann im violetten OP-Anzug zeigt auf eine Arbeitsfläche auf der anderen Seite des Autopsiesaals. »Bei ihren Papieren.«
Fielding, der mit diesem albernen Problem nichts zu tun haben will, ignoriert den Mann einfach. Er sieht zu jung für einen Medizinstudenten im Praktikum aus und gehört vermutlich auch zu den Soldaten aus Fort Lee. Wahrscheinlich hat er nicht mehr als einen Highschool-Abschluss vorzuweisen und tut jetzt Dienst in der Gerichtsmedizin, weil die militärischen Vorschriften verlangen, dass er lernt, mit Gefallenen umzugehen. Am liebsten würde Scarpetta ihm sagen, dass selbst von Granaten in die Luft gesprengte Soldaten es gern hätten, wenn man ihr Gebiss mit ihnen nach Hause schickt, und zwar vorzugsweise im Mund, falls sie noch einen haben. Aber sie verkneift es sich.
»Kommen Sie«, fordert sie den Soldaten stattdessen auf. »Schauen wir uns die Sache mal an.«
Sie begleitet ihn über den Fliesenboden und geht an einer anderen Bahre vorbei, die gerade hereingerollt wurde. Darauf liegt das Opfer einer Schießerei, ein junger Schwarzer mit kräftigen Armen, die mit Tätowierungen bedeckt und nun starr vor seiner Brust verschränkt sind. Er hat eine Gänsehaut, eine postmortale Reaktion der Muskeln, die die Haarwurzeln aufrichten, auf die Totenstarre, die ihn aussehen lässt, als fröre er, habe Angst oder beides. Der Soldat aus Fort Lee nimmt eine Plastikschachtel von der Arbeitsfläche und will sie Scarpetta schon reichen, als er bemerkt, dass sie keine Handschuhe trägt.