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»Wahrscheinlich ziehe ich besser noch mal welche an«, sagt sie. Sie verzichtet lieber auf die grünen Nitril-Handschuhe und entscheidet sich für altmodische aus Latex, die sie aus dem Karton auf einem neben ihr stehenden Instrumentenwagen nimmt. Nachdem sie hineingeschlüpft ist, holt sie das Gebiss aus der Schachtel.

Dann kehren sie und der Soldat über den Fliesenboden zu der zahnlosen Toten zurück.

»Falls Ihnen dieses Problem nochmal unterkommen sollte«, sagt Scarpetta zu dem jungen Soldaten, »legen Sie das Gebiss einfach zu ihren persönlichen Sachen und überlassen Sie den Rest dem Beerdigungsinstitut. Aber stecken Sie es niemals in den Beutel. Die Dame ist allerdings ziemlich jung für ein Gebiss.«

»Ich glaube, sie war auf Drogen.«

»Woraus schließen Sie das?«

»Jemand hat es gesagt.«

»Ich verstehe«, antwortet Scarpetta und beugt sich über die gewaltige zugenähte Leiche auf der Bahre. »Gefäßverengende Drogen wie zum Beispiel Kokain lassen die Zähne ausfallen.«

»Ich habe mich schon immer gefragt, warum Drogen diese Wirkung haben«, bemerkt der Soldat in Violett. »Sind Sie neu hier?« Er sieht sie an.

»Nein, ganz im Gegenteil«, entgegnet Scarpetta und steckt der Toten die Finger in den Mund. »Ich gehöre quasi schon zum alten Eisen. Ich bin nur auf Besuch.«

Er nickt verwirrt. »Tja, aber Sie scheinen zu wissen, was Sie tun«, meint er verlegen. »Entschuldigung, dass ich das Gebiss nicht wieder eingesetzt habe. Ich komme mir wirklich bescheuert vor. Hoffentlich verrät es niemand dem Chef.« Er schüttelt den Kopf und seufzt laut auf. »Das hätte mir gerade noch gefehlt. Er kann mich sowieso nicht ausstehen.«

Da die Totenstarre schon abgeklungen ist, sperren sich die Kiefermuskeln der Toten nicht gegen Scarpettas bohrende Finger. Allerdings nehmen die Kiefer das Gebiss nicht auf, und zwar aus dem einfachen Grund, weil es nicht passt.

»Das ist nicht ihres«, stellt Scarpetta fest, legt das Gebiss wieder in die Schachtel und gibt sie dem Soldaten in Violett zurück. »Es ist zu groß, viel zu groß. Vielleicht von einem Mann? Hatten Sie vorhin noch jemanden mit einem Gebiss hier? Es könnte ja eine Verwechslung sein.«

Der Soldat ist verdattert, allerdings auch erleichtert zu hören, dass ihn keine Schuld trifft. »Keine Ahnung«, erwidert er. »Es waren natürlich eine ganze Menge Leute hier. Also ist es nicht ihres? Ein Glück, dass ich nicht versucht habe, es ihr in den Mund zu zwängen.«

Fielding hat bemerkt, dass etwas geschehen ist. Plötzlich steht er neben ihnen und starrt auf die hellrosafarbenen künstlichen Gaumen und die weißen Porzellanzähne in der Schachtel, die der junge Soldat in der Hand hält. »Was zum Teufel ist hier los?«, poltert Fielding. »Wer ist für dieses Durcheinander verantwortlich? Haben Sie die falsche Fallnummer auf die Schachtel geschrieben?«

Er funkelt den Soldaten, der nicht älter als zwanzig sein kann, finster an. Kurzes hellblondes Haar lugt unter der blauen OP-Mütze des jungen Mannes hervor, und seine großen braunen Augen spähen ängstlich durch die zerkratzte Schutzbrille.

»Ich habe sie gar nicht beschriftet, Sir«, antwortet er Fielding, seinem Vorgesetzten. »Ich wusste nur, dass sie da war, als ich anfing, an der Leiche zu arbeiten. Und sie hatte keine Zähne im Mund. Nicht, als wir mit ihr angefangen haben.«

»Da? Was meinen Sie mit da

»Auf ihrem Wagen.« Der Soldat deutet auf den Wagen, auf dem die chirurgischen Instrumente für Tisch vier liegen, der auch der grüne Tisch heißt. In Dr. Marcus’ Leichenschauhaus wird weiterhin Scarpettas System angewendet: Die Instrumente werden mit farbigem Klebeband markiert, damit zum Beispiel eine Zange oder eine Knochensäge nicht irgendwo sonst im Autopsiesaal landen. »Diese Schachtel stand auf ihrem Wagen. Dann hat sie irgendjemand rüber auf die Arbeitsfläche zu ihren Papieren gestellt.« Er blickt durch den Raum zu der Arbeitsfläche, wo immer noch, ordentlich ausgebreitet, die Papiere der Toten liegen.

»An diesem Tisch hat vorhin eine Leichenschau stattgefunden«, sagt Fielding.

»Richtig, Sir. Ein alter Mann, der im Bett gestorben ist. Ob die Zähne vielleicht seine sind?«, schlägt der Soldat vor. »War das auf dem Wagen sein Gebiss?«

Fielding erinnert an einen wütenden Eichelhäher, als er durch den Autopsiesaal rauscht und die gewaltige Edelstahltür des Kühlhauses aufreißt. Er verschwindet in einer Wolke aus kalter, abgestandener Luft. Im nächsten Moment kommt er wieder heraus, und zwar mit einem Gebiss, das er dem alten Mann offenbar aus dem Mund genommen hat. Fielding balanciert es auf der Fläche seiner behandschuhten Hand, die mit dem Blut des Traktorfahrers, der sich selbst überrollt hat, bespritzt ist.

»Dass das Gebiss viel zu klein für diesen Typen ist, sieht doch ein Blinder«, schimpft Fielding. »Wer hat es ihm in den Mund gesteckt, ohne sich zu vergewissern, ob es auch passt?«, fragt er in den von Geräuschen hallenden, überfüllten, mit Dichtmasse isolierten Raum hinein, in dem vier blutige, nasse Stahltische, Röntgenaufnahmen von Projektilen und Knochen auf eingeschalteten Leuchttischen, Waschbecken und Schränke aus Stahl sowie lange Arbeitsflächen voll mit Papieren, persönlicher Habe und Streifen von Computer-Klebeetiketten für Schachteln und Teströhrchen wild durcheinander liegen und stehen.

Die anderen Ärzte, die Studenten, die Soldaten und die Toten des Tages haben Dr. Jack Fielding, dem zweiten Mann nach dem Chef, nichts zu sagen. Scarpetta ist schockiert, angewidert und traut ihren Augen nicht. Ihre früher so beispielhafte Behörde ist offenbar völlig aus den Fugen geraten. Die Mitarbeiter haben sich nicht mehr im Griff. Sie wirft einen Blick auf den toten Traktorfahrer, der halb entkleidet und auf einem mit Blut befleckten Laken auf der Bahre liegt. Dann betrachtet sie das Gebiss in Fieldings beschmierter behandschuhter Hand.

»Reinigen Sie das Ding, bevor Sie es ihr in den Mund stecken«, kann sie sich nicht verkneifen zu bemerken, als Fielding dem Soldaten das verwechselte Gebiss reicht. »Sie wollen schließlich nicht, dass die DNS einer anderen Person in ihren Mund gerät«, wendet sie sich an den Soldaten. »Auch wenn es sich nicht um einen Todesfall unter verdächtigen Umständen handelt. Also reinigen Sie ihr Gebiss, sein Gebiss und alle anderen Gebisse.«

Sie reißt sich die Handschuhe von den Händen und wirft sie in den leuchtend orangefarbenen Behälter für biologisch kontaminierte Abfälle. Während sie davongeht, fragt sie sich, wo Marino steckt, und sie hört, wie der Soldat in Violett etwas sagt. Offenbar interessiert ihn, wer genau Scarpetta ist, was sie hier will und was das gerade sollte.

»Sie war früher hier der Chef«, erklärt Fielding, fügt allerdings nicht hinzu, dass damals in der Gerichtsmedizin ein anderer Wind wehte.

»Ach, du Scheiße!«, ruft der Soldat aus.

Als Scarpetta mit dem Ellenbogen auf einen großen Knopf an der Wand drückt, schwingen die Flügel einer Edelstahltür weit auf. Sie durchquert den Umkleideraum, vorbei an Schränken voller OP-Anzüge und Kittel, und dann den Damenwaschraum mit seinen Toiletten, Waschbecken und den Neonlichtern, die den Spiegel zum Feind machen. Als sie stehen bleibt, um sich die Hände zu waschen, bemerkt sie das ordentlich geschriebene Schild, das sie selbst dort aufgehängt hat und das die Mitarbeiter daran erinnert, das Leichenschauhaus nicht in denselben Schuhen zu verlassen, die sie drinnen getragen haben. Verteilen Sie keine gefährlichen Keime auf den Teppichen im Flur, hat sie ihren Untergebenen immer wieder gepredigt, aber sie ist sicher, dass sich inzwischen niemand mehr an diese Anweisung hält. Sie zieht die Schuhe aus, reinigt die Sohlen mit antibakterieller Seife und heißem Wasser und trocknet sie mit Papiertüchern ab, bevor sie durch eine andere Schwingtür auf den nicht sehr sterilen, mit einem blauen Teppich ausgelegten Korridor tritt.

Gleich gegenüber vom Damenwaschraum befinden sich die verglasten Büroräume des Chefpathologen. Zumindest hat Dr. Marcus sich die Mühe gemacht, etwas an der Inneneinrichtung zu verändern. Das Büro seiner Sekretärin ist mit hübschen auf Kirsche gebeizten Möbeln und Kunstdrucken im Kolonialstil ausgestattet. Ihr Bildschirmschoner zeigt tropische Fische, die unermüdlich über eine leuchtend blaue Fläche schwimmen. Die Sekretärin selbst ist nicht da, und Scarpetta klopft an die Tür des Chefs.