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»Ja«, ertönt seine Stimme gedämpft von der anderen Seite.

Sie öffnet die Tür und betritt ihr ehemaliges Büro. Obwohl sie sich absichtlich nicht umsieht, nimmt sie wahr, wie ordentlich und aufgeräumt die Bücherregale und Dr. Marcus’ Schreibtisch sind. Sein Arbeitsplatz wirkt steril. Nur in der restlichen Gerichtsmedizin herrscht Chaos.

»Sie kommen wie gerufen«, sagt Dr. Marcus, der auf einem Drehstuhl aus Leder hinter seinem Schreibtisch sitzt. »Bitte nehmen Sie Platz. Ich möchte Ihnen etwas über Gilly Paulsson erzählen, bevor Sie sich die Leiche ansehen.«

»Dr. Marcus, ich weiß, dass ich hier nicht mehr zuständig bin«, beginnt Scarpetta. »Und ich möchte mich auch nicht aufdrängen, aber ich mache mir Sorgen.«

»Das brauchen Sie nicht.« Er betrachtet sie mit schmalen, eiskalten Augen. »Schließlich habe ich Sie nicht als Unternehmensberaterin hergeholt.« Er verschränkt die Hände auf der Schreibtischunterlage. »Ihre Meinung ist hier nur in einem einzigen Fall gefragt, und zwar in dem von Gilly Paulsson. Also würde ich Ihnen dringend empfehlen, sich nicht an den Veränderungen aufzureiben, die Sie hier antreffen werden. Sie waren lange fort. Fünf Jahre, richtig? Während des Großteils dieser Zeit gab es hier nur einen kommissarischen Chefpathologen. Genau genommen fungierte Dr. Fielding als Leiter, als ich vor ein paar Monaten hier anfing. Also ist natürlich vieles anders. Wir beide haben einen völlig unterschiedlichen Führungsstil, was einer der Gründe ist, warum der Staat mich eingestellt hat.«

»Meiner Erfahrung nach gibt es Probleme, wenn der Chef sich nie im Leichenschauhaus blicken lässt«, sagt Scarpetta, und es ist ihr völlig gleichgültig, ob er es hören will. »Zumindest vermittelt es den Ärzten den Eindruck, dass sich niemand für ihre Arbeit interessiert. Auch Ärzte können nachlässig und faul werden, und viele sind irgendwann ausgebrannt, wenn sie tagein, tagaus solchem Grauen ausgesetzt sind.«

Seine Augen sind so glanzlos und starr wie angelaufenes Kupfer, und er hat die Lippen zu einem dünnen Strich zusammengepresst. Die Fensterscheiben hinter seinem Kopf mit dem schütteren Haar sind so sauber, dass sie nicht vorhanden zu sein scheinen. Scarpetta stellt fest, dass er das kugelsichere Glas ausgetauscht hat. In der Ferne ragt das Coliseum auf wie ein brauner Pilz, und ein trüber Nieselregen hat eingesetzt.

»Ich kann vor dem, was ich sehe, nicht die Augen verschließen, nicht wenn Sie wollen, dass ich Ihnen helfe«, fährt sie fort. »Es interessiert mich nicht, ob es hier nur einzig und allein um einen Fall geht, wie Sie es ausgedrückt haben. Es muss Ihnen doch klar sein, dass alles gegen uns verwendet wird, sowohl vor Gericht als auch anderswo. Und im Moment ist es das Anderswo, das mir Sorgen macht.«

»Ich fürchte, Sie sprechen in Rätseln«, erwidert Dr. Marcus und starrt sie an, während sich ein verärgerter Ausdruck auf seinem mageren Gesicht abzeichnet. »Anderswo? Was meinen Sie mit anderswo?«

»Einen Skandal. Eine Anzeige. Oder schlimmstenfalls einen Strafprozess, der wegen Formfehlern eingestellt wird. Wegen Beweisen, die aufgrund von nicht vorschriftsmäßigem Vorgehen oder fachlichem Versagen für nicht zulässig erklärt werden, sodass es keine Gerichtsverhandlung und kein Urteil gibt.«

»Ich habe so etwas gleich befürchtet«, sagt er. »Ich habe den Gesundheitsminister gewarnt, es wäre eine schlechte Idee.«

»Daraus kann ich Ihnen keinen Vorwurf machen. Niemand möchte, dass der ehemalige Chef an seinem Arbeitsplatz erscheint, um Ordnung …«

»Ich habe dem Gesundheitsminister zu bedenken gegeben, dass eine verbitterte ehemalige Mitarbeiterin, die hier hereinschneit und alles besser weiß, das Letzte ist, was wir derzeit gebrauchen können«, fährt er fort, greift nach einem Stift und legt ihn wieder weg. Seine Hände wirken nervös und zornig.

»Ich kann es Ihnen nicht verdenken, dass Sie so …«

»… Insbesondere, wenn diese Person fanatisch ist«, ergänzt er mit kalter Stimme. »Nichts ist schlimmer als ein Fanatiker. Abgesehen von einem Fanatiker, der sich ungerecht behandelt fühlt.«

»Das verbitte …«

»Aber jetzt sitzen wir eben hier. Machen wir das Beste daraus.«

»Ich würde mich freuen, wenn Sie mir nicht ständig ins Wort fielen«, sagt Scarpetta. »Und falls Sie darauf bestehen, mich als Fanatikerin zu bezeichnen, werde ich es als Kompliment deuten. Jetzt möchte ich mit Ihnen über Gebisse sprechen.«

Er starrt sie an, als hätte sie den Verstand verloren.

»Ich bin gerade Zeugin einer Verwechslung im Leichenschauhaus geworden«, erklärt sie. »Das falsche Gebiss beim falschen Verstorbenen. Nachlässigkeit. Zu viel Handlungsfreiraum für junge Soldaten aus Fort Lee, die keinerlei medizinische Ausbildung haben und eigentlich hier sind, um etwas von Ihnen zu lernen. Stellen Sie sich vor, was passiert, wenn eine Familie ihren geliebten Angehörigen im Beerdigungsinstitut aufbahren lässt, der Sarg ist offen, und das Gebiss fehlt oder passt nicht. Das wäre der Anfang eines Zerfallsprozesses, der nur schwer aufzuhalten ist. Die Presse liebt solche Geschichten, Dr. Marcus. Und sollten Sie so ein Gebiss in einem Mordfall verwechseln, machen Sie dem Verteidiger damit ein hübsches Geschenk, auch wenn die Zähne mit dem Verbrechen an sich gar nichts zu tun haben.«

»Wessen Gebiss?«, fragt er stirnrunzelnd. »Fielding müsste eigentlich die Aufsicht führen.«

»Dr. Fielding ist überarbeitet«, entgegnet sie.

»Das ist es also. Ihr ehemaliger Assistent.« Dr. Marcus erhebt sich von seinem Stuhl. Er ragt nicht hoch über seinem Schreibtisch auf, aber das hat Scarpetta auch nicht getan, weil sie nicht sehr groß ist. Allerdings wirkt Dr. Marcus wie ein Zwerg, als er hinter seinem Schreibtisch hervorkommt und an dem Tisch vorbeieilt, auf dem ein Mikroskop unter einer Plastikhaube steht. »Am besten fangen Sie jetzt mit Gilly Paulsson an. Sie liegt im Kühlraum für verweste Leichen. Sie sollten auch in diesem Raum arbeiten. Dort stört Sie niemand. Vermutlich haben Sie entschieden, eine zweite Autopsie vorzunehmen.«

»Aber nicht ohne einen Zeugen«, entgegnet Scarpetta.

12

Lucy übernachtet nicht mehr im großen Schlafzimmer im zweiten Stock, sondern schließt sich in einem viel kleineren Raum im Geschoss darunter ein. Dabei sagt sie sich, dass sie triftige Gründe hat, nicht in dem Bett zu schlafen, in dem Henri überfallen wurde, dem riesigen Bett mit dem handbemalten Kopfbrett, das mitten in einem fürstlichen Gemach mit Blick aufs Wasser steht. Indizien, denkt sie. Ganz gleich, wie gründlich Rudy und sie auch vorgegangen sind, besteht trotzdem die Möglichkeit, dass sie etwas übersehen haben.

Rudy ist im blauen Modena losgefahren, um zu tanken. Zumindest lautete so seine Ausrede, als er den Schlüssel von der Anrichte in der Küche genommen hat. Aber Lucy vermutet, dass er etwas anderes vorhat. Er kurvt ziellos umher, um festzustellen, ob ihm jemand folgen wird. Auch wenn wahrscheinlich niemand so leichtsinnig wäre, einen großen, kräftigen Burschen wie Rudy zu belästigen, treibt sich die Bestie, die das Auge – inzwischen sind es zwei Augen – gezeichnet hat, irgendwo da draußen herum. Vielleicht hat der Mann gar nicht mitbekommen, dass Henri fort ist, und beobachtet das Haus und die Garage. Womöglich gerade jetzt in diesem Moment.

Lucy geht über den gelbbraunen Teppich und am Bett vorbei. Es ist noch ungemacht, die weichen, teuren Decken sind am Fußende über die Matratze gezogen und ergießen sich auf den Boden wie ein seidener Wasserfall. Die Kissen sind zur Seite geschoben und liegen genau dort, wo sie waren, als Lucy die Steintreppen hinaufgerannt ist und Henri bewusstlos im Bett gefunden hat. Zuerst hat Lucy sie für tot gehalten. Dann wusste sie nicht mehr, was sie denken sollte. Und daran hat sich seitdem nichts geändert. Vor lauter Angst hat sie die Notrufnummer 911 gewählt, und das hat zu einem riesigen Durcheinander geführt. Nun müssen sie sich auch noch mit der hiesigen Polizei herumschlagen. Kein Wunder, dass Rudy immer noch stinksauer ist.