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Erst als Lucy Henri mit einem Privatflugzeug nach Aspen gebracht hat, hat Benton eine Erklärung für das alles gefunden, die leider Sinn ergibt. Henri wurde wirklich überfallen und mag vorübergehend bewusstlos gewesen sein. Doch danach hat sie nur noch Theater gespielt.

»Auf keinen Fall«, protestierte Lucy, als Benton ihr das eröffnete.

»Sie ist Schauspielerin«, sagte er.

»Nicht mehr.«

»Aber sie war ihr halbes Leben lang Schauspielerin, bevor sie beschlossen hat, den Beruf zu wechseln. Vielleicht war es auch nur eine spannende Rolle für sie, zur Polizei zu gehen. Möglicherweise kann sie nichts weiter außer Theaterspielen.«

»Warum sollte sie so etwas tun? Ich habe sie immer wieder gerüttelt, auf sie eingeredet, versucht, sie wachzukriegen. Welchen Grund hätte sie haben können?«

»Scham, Wut, wer kann das so genau sagen?«, erwiderte er.

»Vielleicht erinnert sie sich nicht, was geschehen ist, und hat es verdrängt. Doch es löst Gefühle in ihr aus. Kann sein, dass sie dich bestrafen will.«

»Bestrafen. Wofür denn? Ich habe ihr doch nichts getan. Was sollte sie damit bezwecken wollen? Sie wird beinahe ermordet, und dann fällt ihr plötzlich ein, ach, wenn ich schon mal dabei bin, bestrafe ich kurz mal Lucy.«

»Es würde dich überraschen, wozu Menschen fähig sind.«

»Das würde sie nie tun«, beteuerte Lucy. Und je mehr sie darauf beharrte, desto klarer wurde es Benton, dass er Recht hatte.

Sie geht durchs Schlafzimmer zu einer Wand, die acht Fenster hat. Sie liegen so hoch, dass man die obere Hälfte nicht mit Jalousien verdecken muss; diese sind nur an der unteren Hälfte geschlossen. Als Lucy auf einen Knopf an der Wand drückt, werden die Jalousien mit einem elektronischen Surren aufgezogen. Sie blickt in den sonnigen Tag hinaus und sucht ihr Grundstück nach Veränderungen ab. Rudy und sie sind bis in die frühen Morgenstunden in Miami gewesen. Da sie seit drei Tagen nicht zu Hause war, hatte die Bestie mehr Zeit als genug, sich hier herumzudrücken und zu spionieren. Er war da, um nach Henri zu suchen. Er ist einfach über die Terrasse zur Hintertür spaziert und hat seine Zeichnung daran geheftet, damit Henri ihn nicht vergisst und um sie zu verhöhnen. Und niemand hat die Polizei gerufen. Die Leute in diesem Viertel sind das Hinterletzte, denkt Lucy. Es interessiert sie nicht, ob man totgeprügelt oder Opfer eines Einbruchs wird, solange man bloß nichts tut, was unangenehme Auswirkungen auf ihr Leben haben könnte.

Sie betrachtet den Leuchtturm auf der anderen Seite des Meeresarms und fragt sich, ob sie es wagen soll, nach nebenan zu gehen. Die Frau, die dort wohnt, verlässt ihr Haus nie. Lucy kennt ihren Namen nicht und weiß nur, dass sie neugierig ist und durch die Fensterscheibe Fotos macht, wenn der Gärtner die Hecken schneidet oder hinten am Pool den Rasen mäht. Wie Lucy annimmt, sammelt die Nachbarin Beweise, für den Fall, dass sie an ihrem Garten etwas verändern lässt, das ihr den Blick verstellt oder das sie als seelische Grausamkeit empfinden könnte. Wenn sie Lucy nicht die Erlaubnis verweigert hätte, auf ihre einen Meter fünfzig hohe Mauer eine schmiedeeiserne Krone von noch einmal sechzig Zentimetern aufzusetzen, hätte die Bestie es natürlich nicht so leicht gehabt, ihre Terrasse und ihr Haus zu erreichen und in das Schlafzimmer einzudringen, wo Henri grippekrank im Bett lag. Aber die neugierige Nachbarin hat Einspruch gegen diese bauliche Veränderung eingelegt und gewonnen, und deshalb wäre Henri beinahe ermordet worden. Jetzt hat Lucy eine Zeichnung von einem Auge gefunden, die aussieht wie jene, die in die Motorhaube ihres Autos gekratzt wurde.

Zwei Stockwerke tiefer ist die Fläche des Pools unterhalb der Kante nicht zu sehen. Dahinter liegen die tiefblauen Gewässer des Intracoastal Waterway. Dann kommen ein winziger Strand und der dunkelblaue aufgewühlte Ozean. Vielleicht ist er ja mit dem Boot gefahren, überlegt sie. Er bindet es an den Wellenbrecher und braucht nur die Leiter hinaufzuklettern, um mitten auf meiner Terrasse zu stehen. Allerdings glaubt sie nicht, dass er mit dem Boot hier war oder überhaupt eines besitzt, auch wenn sie nicht weiß, warum. Lucy dreht sich um und nähert sich dem Bett. Links davon liegt in der obersten Nachttischschublade Henris Colt .357 Magnum, ein wunderschöner Revolver aus Edelstahl, den Lucy ihm geschenkt hat, weil er das wunderbarste Schloss der Welt hat. Henri kann mit der Waffe umgehen und ist kein Feigling. Deshalb ist Lucy felsenfest davon überzeugt, dass sie die Bestie im Haus nicht gehört hat. Sonst hätte sie den Eindringling, Grippe oder nicht, nämlich erschossen.

Sie drückt auf den Knopf an der Wand und schließt die Jalousien. Dann macht sie die Lichter aus und verlässt das Schlafzimmer. Gleich daneben befinden sich ein kleiner Fitnessraum, zwei große Wandschränke und ein riesiges Badezimmer mit einem Whirlpool, eingelassen in Achat in der Farbe von Tigeraugen. Es gibt keinen Grund zu der Annahme, dass der Mann, der Henri angegriffen hat, im Fitnessraum, in den Wandschränken oder im Bad war, und immer wenn Lucy diese Räume betritt, hält sie inne, um festzustellen, was sie empfindet. Im Fitnessraum und in den Wandschränken empfindet sie nichts, dafür aber im Bad. Sie betrachtet die Wanne und die Fenster dahinter, die Blick auf das Wasser und den Himmel von Florida bieten, und versucht mit den Augen des Eindringlings zu sehen. Sie weiß nicht, warum, doch wenn sie die riesige, tiefe, in Achat eingelassene Wanne mustert, hat sie das Gefühl, dass er sie auch angeschaut hat.

Dann kommt ihr ein Gedanke. Sie weicht zurück zu dem Türbogen, der ins Bad führt. Vielleicht ist er auf dem Weg die Steintreppe hinauf und zum Schlafzimmer nicht nach rechts, sondern nach links gegangen und so zuerst im Bad gelandet. Der Morgen war hell und sonnig, sodass Licht durch die Fenster hereingefallen sein muss. Möglicherweise hat er kurz gezögert und die Wanne betrachtet, bevor er sich umgedreht hat und lautlos ins Schlafzimmer geschlichen ist, wo Henri, verschwitzt, elend und mit hohem Fieber, bei heruntergelassenen Jalousien im Dunkeln lag und zu schlafen versuchte.

Also warst du in meinem Badezimmer, sagt Lucy zu der Bestie. Du hast hier auf dem Marmorboden gestanden und dir meine Wanne angeschaut. Vielleicht ist dir so eine Wanne noch nie untergekommen. Kann sein, dass du dir vorgestellt hast, eine nackte Frau liege darin und nähme nichts um sich herum wahr, bevor du sie ermordest. Wenn das deine Phantasie ist, sagt sie in Gedanken zu dem Eindringling, bist du nicht besonders originell. Sie verlässt das Badezimmer und geht die Treppe hinunter in den ersten Stock, wo sie schläft und ihr Büro hat.

Neben dem gemütlichen Heimkino liegt ein großes Gästezimmer, das sie, mit eingebauten Bücherregalen und Verdunkelungsvorhängen an den Fenstern, zur Bibliothek umgestaltet hat. Selbst an sonnigen Tagen ist es hier dunkel genug, um Filme zu entwickeln. Als sie Licht macht, sind Hunderte von Nachschlagewerken, Loseblattsammlungen und ein langer Tisch mit Laborgeräten zu sehen. An einer Wand steht ein Schreibtisch, auf dem sich ein Krimesite-Imager, ein Gerät, das mithilfe ultravioletter Belichtungstechnologie latente Fingerabdrücke lokalisiert, befindet. Es sieht aus wie ein verkürztes Teleskop auf einem Dreifuß.

Daneben liegt ein versiegelter Asservatenbeutel aus Plastik, der die Zeichnung von dem Auge enthält.

Lucy zieht Untersuchungshandschuhe aus einem Karton auf dem Tisch. Wenn sie Fingerabdrücke finden wird, dann auf dem Klebestreifen, doch das wird sie später testen, weil man dazu Chemikalien anwenden muss, die die Beschaffenheit des Materials verändern. Obwohl sie ihre gesamte Hintertür und das Fenster daneben mit Magnadust eingepinselt hat, hat sie keinen einzigen Fingerabdruck mit klaren Rillen entdeckt, nur Schmierer. Und wenn doch ein brauchbarer Abdruck dabei gewesen wäre, hätte er gewiss vom Gärtner, von Rudy, von ihr selbst oder von dem Menschen gestammt, der zuletzt die Fenster geputzt hat. Davon darf sie sich jedoch nicht entmutigen lassen. Abdrücke an der Außenseite eines Hauses haben ohnehin nicht viel zu bedeuten. Wesentlich interessanter ist, was sich auf der Zeichnung finden lässt. Nachdem Lucy die Handschuhe übergestreift hat, öffnet sie die Verschlüsse eines schwarzen Aktenkoffers, der mit Schaumgummi ausgepolstert ist, und nimmt vorsichtig eine SKSUV30-Ultraviolett-Lampe heraus. Sie trägt sie zum Schreibtisch und steckt sie in eine Stromleiste mit Überspannungsschutz ein. Dann schaltet sie das hochintensive, kurzwellige ultraviolette Licht ein. Anschließend aktiviert sie den Krimesite-Imager.