»Er und Tina Franks«, erwidert Lucy und kaut ein Stück Apfel.
»Tatsache ist«, entgegnet er, »dass es dir um einiges schwerer fallen dürfte, zu beweisen, dass du Lucy Farinelli bist, als Tina Franks oder wer du sonst zu sein beliebst. Unsere Geburtsurkunden und der ganze andere Papierkram lauten auf dieselben Namen wie unsere falschen Ausweise. Verdammt, ich habe nicht einmal eine Ahnung, was aus meiner echten Geburtsurkunde geworden ist.«
»Ich bin mir nicht mehr sicher, wer ich überhaupt bin«, sagt sie und reicht ihm ein Papierhandtuch.
»Ich auch nicht.« Er beißt ein großes Stück von dem Apfel ab.
»Ich bin auch nicht sicher, ob ich weiß, wer du bist, wenn wir schon mal dabei sind. Wenn die Polizei kommt, gehst du an die Tür und lässt Detective Dalessio anrufen, damit der die Zeichnung abholt.«
»Das ist ein guter Plan.« Rudy grinst. »Hat beim letzten Mal prima geklappt.«
Lucy und Rudy haben Notfalltaschen mit Kleidung und Spurensicherungsausrüstungen an strategischen Punkten wie verschiedenen Häusern und Fahrzeugen deponiert. Es ist erstaunlich, was einem alles geglaubt wird, wenn man knöchelhohe schwarze Lederstiefel, schwarze Polohemden, schwarze Cargohosen und dunkle Windjacken trägt, auf deren Rückseite in dicken gelben Buchstaben SPURENSICHERUNG steht; dazu noch die üblichen Kameras und andere unverzichtbare Gerätschaften sowie – was am wichtigsten ist – Körpersprache und Verhalten. Normalerweise ist der einfachste Plan der beste, und nachdem Lucy Henri aufgefunden, Panik bekommen und einen Rettungswagen gerufen hat, hat sie Rudy verständigt. Er hat sich umgezogen und ist einfach ein paar Minuten nach der Polizei zur Eingangstür hereinspaziert. Er sagte, er sei neu bei der Spurensicherung und die Beamten brauchten nicht zu warten, während er das Haus durchsuchte. Die Polizisten hatten nichts dagegen einzuwenden, weil das Warten auf die Spurensicherung für sie nichts weiter ist als Babysitten.
Lucy – oder Tina Franks, wie sie sich an diesem schrecklichen Tag nannte – hat den Polizisten an jenem Morgen jede Menge Lügen aufgetischt. Henri, die ebenfalls einen falschen Namen angab, sei eine Freundin von außerhalb. Während Lucy geduscht habe, habe sie ihren Rausch ausgeschlafen, den Einbrecher gehört und sei in Ohnmacht gefallen. Da sie dazu neige, hysterisch zu werden und zu hyperventilieren, und außerdem möglicherweise angegriffen worden sei, habe Lucy einen Krankenwagen gerufen. Nein, den Einbrecher habe sie nicht gesehen. Nein, soweit sie feststellen könne, sei nichts gestohlen worden. Nein, sie glaube nicht, dass Henri Opfer eines sexuellen Übergriffs geworden sei, aber sie solle im Krankenhaus daraufhin untersucht werden. Das sei doch üblich, oder? Schließlich sei es in den Krimisendungen im Fernsehen auch immer so.
»Ich frage mich, wann ihnen auffallen wird, dass Detective Dalessio nie irgendwo anzutreffen ist außer bei dir«, meint Rudy schmunzelnd. »Und dass er immer seinen freien Tag hat, wenn sie ihn auf dem Dienstplan suchen. Gut, dass sie inzwischen für den Großteil von Broward zuständig sind. Das Gebiet ist so groß wie Texas, und kein Mensch kennt den anderen.«
Lucy schaut auf die Uhr und rechnet aus, wann der Streifenwagen, der vermutlich schon unterwegs ist, hier sein wird. »Tja, das Wichtigste ist, dass wir Mr. Dalessio einbezogen haben, damit er sich nicht ausgeschlossen fühlt.«
Rudy lacht, seine Laune hat sich sehr gebessert. Wenn sie zusammen einen Plan aushecken, schafft er es nicht, lange knurrig zu bleiben. »Okay, die Polizei wird jeden Moment vor der Tür stehen. Vielleicht solltest du dich besser verdrücken. Ich gebe dem Cop nicht die Zeichnung, sondern nur Dalessios Nummer und sage ihm, dass du lieber mit dem Detective persönlich sprechen möchtest, da du ihn letzte Woche im Zusammenhang mit dem Einbruch kennen gelernt hast. Er wird Dalessios Voice-Mail erreichen, und wenn er wieder weg ist, wird meine Wenigkeit, der legendäre Dalessio, ihn zurückrufen und ihm mitteilen, dass er sich um alles kümmern wird.«
»Lass die Cops nicht in mein Büro.«
»Die Tür ist doch abgeschlossen, oder?«
»Ja«, erwidert sie. »Falls du Befürchtungen hast, dass sie dir den Dalessio nicht abnehmen, ruf mich an. Dann komme ich sofort zurück und spreche selbst mit der Polizei.«
»Wo willst du hin?«, fragt Rudy.
»Ich glaube, es ist Zeit, dass ich mich mit meiner Nachbarin bekannt mache«, antwortet Lucy.
13
Der Raum für Leichen im fortgeschrittenen Stadium der Verwesung ist ein kleiner Seziersaal, der mit einer Kühlkammer, zwei Waschbecken und Schränken – allesamt aus Edelstahl – und außerdem mit einem speziellen Entlüftungssystem ausgestattet ist, das ekelhafte Gerüche und Mikroorganismen durch eine Abluftanlage entsorgt. Wände und Boden sind mit einem rutschfesten, grauen keimabweisenden Acrylanstrich versehen, der sowohl wisch- als auch desinfektionsmittelfest ist.
Das Mittelstück des Raumes bildet ein transportabler Autopsietisch – eigentlich nicht mehr als ein fahrbares Gestell mit Laufrollen und schwenkbaren Rädern, die Bremsen haben – mit einer Auflage für die Toten, die sich auf Lagern bewegt. All diese modernen Vorrichtungen erfüllen eigentlich den Zweck, dem Menschen das Heben von Leichen zu ersparen, was aber in der Wirklichkeit nicht funktioniert. Wer in der Pathologie arbeitet, muss sich auch weiterhin mit dem Gewicht von Verstorbenen abmühen, und das wird wohl immer so bleiben. Der Tisch ist leicht geneigt, damit Flüssigkeiten ablaufen können, wenn man ihn am Waschbecken befestigt. Doch das wird heute Morgen nicht nötig sein, da es nichts mehr zum Ablaufen gibt. Gilly Paulssons Körperflüssigkeit wurde bereits vor zwei Wochen gesammelt und weggespült, als Fielding sie zum ersten Mal obduziert hat.
Nun steht der Autopsietisch mitten auf dem Boden mit dem Acrylanstrich. Gilly Paulssons Leiche befindet sich in einem schwarzen Sack, der auf dem schimmernden Stahltisch wie ein Kokon wirkt. Der Raum hat keine Fenster, jedenfalls keine, die ins Freie führen, nur ein Beobachtungsfenster, das viel zu hoch liegt, als dass jemand hindurchsehen könnte. Allerdings hat Scarpetta sich bei ihrem Einzug in das Gebäude vor acht Jahren nicht über diesen architektonischen Patzer beschwert, da niemand zu beobachten braucht, was in diesem Raum vor sich geht, wo die Toten aufgedunsen und grünlich und von Maden bedeckt oder so schwer verbrannt sind, dass sie verkohltem Holz ähneln.
Sie ist gerade hereingekommen. Zuvor hat sie einige Minuten in der Damenumkleide verbracht, um sich in den vor Kontakt mit infektiösem Material schützenden Anzug zu vermummen. »Tut mir Leid, dass ich Sie von Ihrem anderen Fall weghole«, sagt sie zu Fielding, und vor ihrem geistigen Auge sieht sie Mr. Whitby in olivgrüner Hose und schwarzer Jacke. »Aber ich glaube, Ihr Chef dachte allen Ernstes, ich würde das hier ohne Sie machen.«
»Wie viel hat er Ihnen denn erzählt?«, dringt seine Stimme durch die Schutzmaske.
»Im Grunde genommen gar nichts«, erwidert sie, während sie sich die Handschuhe überstülpt. »Ich bin nicht schlauer als gestern, als er mich in Florida anrief.«
Fielding runzelt die Stirn und bricht in Schweiß aus. »Waren Sie nicht gerade bei ihm im Büro?«
Ihr fällt ein, dass der Raum vielleicht verwanzt ist. Dann erinnert sie sich daran, dass sie in ihrer Zeit als Chefpathologin im Autopsiesaal mit den verschiedensten Diktiergeräten experimentiert hat, und zwar stets vergeblich, da die Vielzahl der Hintergrundgeräusche in einem Leichenschauhaus selbst die besten Mikrofone und Recorder schachmatt setzt. Deshalb geht sie zum Waschbecken und dreht das Wasser auf, bis es laut und blechern gegen den Stahl prasselt.
»Warum tun Sie das?«, erkundigt sich Fielding und öffnet den Sack.
»Ich dachte, Sie hätten bei der Arbeit vielleicht gern ein bisschen Wassermusik.«
Er blickt sie an. »Hier drinnen können wir unbelauscht reden, da bin ich ziemlich sicher. So schlau ist er nicht. Außerdem glaube ich nicht, dass er diesen Raum jemals betreten hat. Wahrscheinlich weiß er nicht mal, wo er ist.«