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»Auf ihrem CME-1-Formular steht, dass ihre Leiche bei der Einlieferung mit einem Pyjama bekleidet war. Das Oberteil war mit der Innenseite nach außen gedreht.«

»Klingt richtig.« Er greift nach der Akte und beginnt, sie durchzublättern.

»Sie haben ja supergründlich fotografiert.« Sie fragt nicht, sondern deutet nur sarkastisch an, was eigentlich die normale Vorgehensweise sein sollte.

»Hey«, erwidert er lachend. »Von wem habe ich traurige Gestalt denn meinen Job gelernt?«

Scarpetta blickt ihn kurz an. Sie hat ihm ein sorgfältigeres Arbeiten beigebracht, aber sie spricht es nicht aus. »Ich freue mich, dass Sie an der Zunge nichts übersehen haben.« Sie steckt sie zurück in den Beutel, wo sie auf den anderen bräunlichen Teilen von Gillys verwesenden Organen landet.

»Kommen Sie, wir drehen sie um. Dazu müssen wir sie aus dem Leichensack nehmen.«

Sie gehen Schritt für Schritt vor. Fielding packt die Leiche unter den Achseln und hebt sie an, während Scarpetta den Sack unter ihr wegzieht. Dann dreht er die Tote auf den Bauch, und Scarpetta zerrt den Sack aus dem Weg. Als sie ihn zusammenfaltet und auf die Bahre legt, ächzt und stöhnt das dicke Vinyl. Sie und Fielding sehen den Bluterguss auf Gillys Rücken gleichzeitig.

»Um Himmels willen!«, ruft er erschrocken aus.

Es ist eine leichte Rötung, rund und etwa so groß wie ein Silberdollar, auf der linken Seite ihres Rückens, gleich unterhalb des Schulterblatts.

»Ich schwöre, das war nicht da, als ich sie obduziert habe«, meint er, beugt sich vor und rückt die OP-Lampe zurecht, um sich die Stelle besser anzuschauen. »Scheiße. Ich fasse es nicht, dass mir das entgangen ist.«

»So was kann vorkommen«, entgegnet Scarpetta und verschweigt ihm, was sie in Wirklichkeit denkt. Es bringt nichts, ihn zu kritisieren. Dafür ist es zu spät. »Blutergüsse sind nach der Obduktion immer besser sichtbar«, erklärt sie.

Sie nimmt ein Skalpell vom Instrumentenwagen und macht einige tiefe lineare Einschnitte in das gerötete Gebiet, um festzustellen, ob die Verfärbung erst nach dem Tod herbeigeführt wurde und deshalb nur oberflächlich ist. Aber das ist sie nicht. Das Blut in dem darunter liegenden weichen Gewebe ist diffus, was für gewöhnlich auf ein Trauma und geplatzte Blutgefäße hinweist, als der Körper noch einen Blutdruck hatte. Schließlich ist ein Bluterguss oder eine Beule nichts anderes als eine Ansammlung von kleinen Blutgefäßen, die nach einer Quetschung lecken. Fielding legt ein zwanzig Zentimeter langes Plastiklineal an die eingeschnittene Stelle und fängt an zu fotografieren.

»Was ist mit ihrer Bettwäsche?«, fragt Scarpetta. »Haben Sie die untersucht?«

»Die habe ich nie zu Gesicht gekriegt. Die Polizei hat sie mitgenommen und ins Labor gebracht. Wie ich schon sagte, keine Samenflüssigkeit. Verdammt, ich kapiere nicht, wie ich den Bluterguss übersehen konnte.«

»Wir sollten uns erkundigen, ob auf den Laken oder auf dem Kopfkissen Flüssigkeit von einem Lungenödem festgestellt wurde. Wenn ja, muss der Fleck auf ziliare Schleimhautepithelzellen überprüft werden. Denn das würde die Theorie eines Todes durch Ersticken unterstützen.«

»Scheiße«, schimpft er. »Ich weiß nicht, wie mir dieser Bluterguss nicht auffallen konnte. Also sind Sie überzeugt, dass ein Tötungsdelikt vorliegt?«

»Ich glaube, jemand hat sich auf sie draufgesetzt«, beginnt Scarpetta. »Sie lag auf dem Bauch, der Täter drückte ihr das Knie oben in den Rücken, lehnte sich mit seinem ganzen Gewicht auf sie, hielt ihr die Hände über dem Kopf fest und presste sie mit den Handflächen nach unten aufs Bett. Das würde die Blutergüsse auf ihren Handrücken und ihrem Rücken erklären. Ich glaube, wir haben es mit mechanischer Asphyxie zu tun, also eindeutig mit einem Tötungsdelikt. Jemand hat sich auf die Brust oder den Rücken des Opfers gesetzt, sodass dieses keine Luft mehr bekam. Was für eine schreckliche Art zu sterben.«

14

Ihre Nachbarin wohnt in einem Haus mit Flachdach, das aus weißem geschwungenem Beton und Glas besteht. Es fügt sich in die Natur ein, soll offenbar das Zusammenspiel von Wasser, Erde und Himmel symbolisieren und erinnert Lucy an Gebäude, die sie in Finnland gesehen hat. Nachts wirkt das Nachbarhaus wie eine gewaltige erleuchtete Laterne.

Im Vorgarten, wo hohe Palmen und Kakteen mit weihnachtlich bunten Lichterketten dekoriert sind, steht ein Brunnen. Ein aufblasbarer grüner Grinch – der Bösewicht aus dem Weihnachtsmärchen von Dr. Seuss – lauert mit finsterer Miene neben der gewaltigen Doppeltür aus Glas, ein Hauch von Festlichkeit, den Lucy komisch finden würde, wenn dieses Haus von anderen Leuten bewohnt wäre. In der oberen linken Ecke der Tür hängt eine Kamera, die eigentlich unsichtbar sein sollte, und als Lucy klingelt, malt sie sich aus, wie ihr Gesicht auf dem Bildschirm der Überwachungsanlage erscheint. Niemand macht auf. Lucy drückt noch einmal auf die Klingel. Wieder keine Reaktion.

Also gut. Ich weiß, dass du zu Hause bist, weil du deine Zeitung reingeholt hast. Außerdem ist an deinem Briefkasten der Signalwimpel hochgeklappt, was heißt, dass der Briefträger deine Post mitnehmen soll. Mir ist klar, dass du mich beobachtest. Wahrscheinlich sitzt du in der Küche, gaffst mich auf dem Bildschirm an und hast die Gegensprechanlage am Ohr, um festzustellen, ob ich atme oder Selbstgespräche führe. Also, du blöde Kuh, mach die verdammte Tür auf, sonst bleibe ich den ganzen Tag hier stehen.

Das geht etwa fünf Minuten so. Lucy wartet vor der schweren Glastür und ist überzeugt, dass sie in ihren Jeans, dem T-Shirt, der Gürteltasche und den Turnschuhen bestimmt keinen bedrohlichen Eindruck macht. Allerdings geht sie der Hausbesitzerin sicher auf die Nerven, weil sie immer wieder auf die Klingel drückt. Vielleicht steht die Dame ja unter der Dusche und glotzt gar nicht auf den Überwachungsbildschirm. Lucy läutet noch einmal. Die Frau kommt einfach nicht an die Tür. Ich wusste, dass du nicht aufmachen wirst, du blöde Ziege, sagt Lucy in Gedanken zu ihrer Nachbarin. Ich könnte hier draußen einen Herzinfarkt kriegen und umfallen, ohne dass du deinen Hintern bewegst. Also werde ich dich wohl zwingen müssen, an die Tür zu gehen. Sie denkt daran, wie Rudy vor knapp zwei Stunden seinen falschen Dienstausweis gezückt und dem Latino einen gehörigen Schrecken eingejagt hat. Nun gut, dann versuchen wir es einmal damit und schauen, wie du dann reagierst. Sie holt eine dünnes schwarzes Mäppchen aus der Gesäßtasche ihrer engen Jeans und hält eine Dienstmarke dicht an die nicht so geheime Kamera.

»Hallo«, ruft sie laut. »Polizei. Haben Sie keine Angst. Ich wohne zwar nebenan, aber ich bin Polizistin. Bitte kommen Sie an die Tür.« Wieder läutet sie und hält ihre gefälschte Dienstmarke vor die stecknadelkopfgroße Kameralinse.

Schwitzend blinzelt Lucy ins Sonnenlicht. Sie wartet und lauscht, kann aber nichts hören. Als sie ihre gefälschte Dienstmarke noch einmal hochhalten will, ertönt plötzlich eine Stimme, die klingt, als wäre Gott eine zickige Frau.

»Was wollen Sie?«, fragt die Stimme durch einen unsichtbaren Lautsprecher, der offenbar neben der Kamera oben am Türrahmen hängt.

»Bei mir hat sich ein Fremder auf dem Grundstück herumgetrieben, Ma’am«, erwidert Lucy. »Ich dachte, es könnte Sie vielleicht interessieren, was bei Ihnen nebenan passiert.«

»Sie sagten doch, Sie wären bei der Polizei«, gibt die unfreundliche Stimme vorwurfsvoll zurück. Die Frau hat einen starken Südstaatenakzent.

»Ich bin beides.«

»Beides was?«

»Bei der Polizei und Ihre Nachbarin, Ma’am. Ich heiße Tina und würde mich freuen, wenn Sie an die Tür kämen.«

Schweigen. Dann, weniger als zehn Sekunden später, sieht Lucy durch die Glastür eine Gestalt auf sich zuschweben. Die Gestalt verwandelt sich in eine Frau Mitte vierzig, die einen Trainingsanzug und Joggingschuhe trägt. Es dauert eine Ewigkeit, sämtliche Schlösser zu entriegeln, doch schließlich hat es die Nachbarin geschafft; sie schaltet die Alarmanlage ab und öffnet einen Türflügel. Allerdings scheint sie nicht die Absicht zu haben, Lucy hereinzubitten, denn sie steht in der Tür und sieht ihre Besucherin mit unverhohlener Feindseligkeit an.