»Fassen Sie sich kurz«, sagt die Frau. »Ich mag keine Fremden und habe auch kein Interesse daran, meine Nachbarn kennen zu lernen. Ich wohne hier, weil ich keine Lust auf Nachbarn habe. Falls es Ihnen noch nicht aufgefallen sein sollte, ist das hier keine Neighborhood, sondern eine Gegend, wohin die Leute ziehen, um ungestört zu sein und ihre Ruhe zu haben.«
»Was meinen Sie mit das hier?«, treibt Lucy ihr Spiel weiter. Sie erkennt sofort, dass sie eine egoistische, verwöhnte, reiche Zicke vor sich hat, und stellt sich ein wenig naiv. »Ihr Haus oder die Gegend hier?«
»Was?« Die ablehnende Haltung der Frau wird kurz von Verwirrung abgelöst. »Wovon reden Sie?«
»Davon, was nebenan bei mir passiert ist. Er war wieder da«, erwidert Lucy, als ob die Frau genau wüsste, worum es geht. »Es kann heute am frühen Morgen gewesen sein, aber ich bin nicht sicher, weil ich seit gestern auswärts war und gerade erst mit dem Helikopter in Boca Raton angekommen bin. Ich habe keine Ahnung, was er will, aber ich mache mir Sorgen um Sie. Es wäre wirklich nicht richtig, wenn Sie von der Bugwelle mitgerissen würden, falls Sie verstehen, was ich meine.«
»Oh«, sagt sie. Am Wellenbrecher hinter ihrem Haus liegt ein ausgesprochen schickes Boot, und sicher weiß sie genau, was eine Bugwelle ist und wie unangenehm und möglicherweise fatal es sein kann, hineinzugeraten. »Wie können Sie als Polizistin in so einem Haus leben?«, fragt sie, ohne zu Lucys lachsfarbener Villa im mediterranen Stil hinüberzuschauen. »Was für ein Helikopter? Jetzt sagen Sie nicht, dass Sie auch einen Helikopter besitzen.«
»Mein Gott, Sie sind ganz nah dran«, seufzt Lucy resigniert. »Es ist eine lange Geschichte, und sie hat mit Hollywood zu tun. Ich bin erst vor kurzem von L.A. hierher gezogen. Ich hätte besser in Beverly Hills bleiben sollen, wo ich hingehöre. Aber dieser verdammte Film, verzeihen Sie mir die Ausdrucksweise. Tja, ich bin sicher, Sie haben schon davon gehört, wie aufwändig es ist, einen Film zu machen, und welche Umstände es bedeutet, an Originalschauplätzen zu drehen.«
»Nebenan?« Ihre Augen weiten sich. »Sie wollen nebenan in Ihrem Haus einen Film drehen?«
»Ich finde, es ist keine gute Idee, dieses Gespräch hier draußen zu führen.« Lucy sieht sich vorsichtig um. »Haben Sie was dagegen, wenn ich reinkomme? Aber Sie müssen mir versprechen, dass alles unter uns bleibt. Wenn es sich herumspricht … tja, Sie können es sich ja denken.«
»Ha!« Die Frau deutet mit dem Finger auf Lucy und zeigt beim Lächeln die Zähne. »Ich wusste, dass Sie ein Promi sind.«
»Nein! Bitte sagen Sie jetzt nicht, dass ich so leicht zu durchschauen bin!«, meint Lucy erschrocken, als sie in das minimalistisch ganz in Weiß eingerichtete Wohnzimmer tritt, dessen Glasfront über zwei Etagen reicht und Blick auf eine mit Granit gepflasterte Terrasse, den Pool und das acht Meter lange Rennboot freigibt. Lucy bezweifelt, dass ihre verwöhnte und eitle Nachbarin überhaupt weiß, wie man das Boot anlässt, geschweige denn damit fährt. Es trägt den Namen It’s Settled und ist sicher auf Grand Cayman registriert, einer Karibikinsel, auf der es keine Einkommensteuer gibt.
»Ein tolles Boot«, sagt Lucy, als sie auf den weißen Möbeln Platz nehmen, die zwischen Himmel und Wasser zu schweben scheinen. Sie legt ein Mobiltelefon auf den Couchtisch aus Glas.
»Es ist aus Italien.« Die Frau lächelt ein verschwörerisches, nicht sehr hübsches Lächeln.
»Erinnert mich an Cannes«, erwidert Lucy.
»Oh, ja, das Filmfestival.«
»Nein, nicht so sehr daran. An die Ville de Cannes, die Boote, und, ach ja, die Jachten. Gleich hinter dem alten Clubhaus kommt man zum Quai Nummer eins. Dort sind die Bootsverleihe Poseidon und Amphitrite, die ihre Hauptfilialen in Marseille haben. Die Jungs, die dort arbeiten, sind sehr nett. Paul fährt einen quietschgelben Pontiac, ein seltener Anblick in Südfrankreich. Man geht einfach an den Lagerschuppen vorbei, biegt zum Quai Nummer vier ein und spaziert weiter bis zum Ende, wo der Leuchtturm steht. Noch nie im Leben habe ich so viele Mangusta und Leopard gesehen. Ich hatte einmal ein Zodiac mit einem ziemlich leistungsstarken Suzuki-Motor. Aber ein größeres Boot? Wer hat Zeit für so was? Tja, Sie vielleicht.« Sie wirft einen Blick auf das Schnellboot, das im Trockendock liegt. »Natürlich haben einen der Sheriff und der Zoll gleich beim Wickel, wenn man hier in diesem Ding schneller als fünfzehn Stundenkilometer fährt.«
Die Nachbarin versteht die Welt nicht mehr. Sie ist hübsch, allerdings nicht auf eine Weise, die Lucy anziehend findet. Außerdem sieht sie sehr reich und verwöhnt aus und ist vermutlich abhängig von Botox, Collagen, Thermobehandlungen und den sonstigen Zauberkunststückchen aus der Trickkiste der Hautärzte. Wahrscheinlich hat sie schon seit Jahren nicht mehr die Stirn gerunzelt. Allerdings ist eine negative Mimik bei ihr ohnehin überflüssig, da der verbitterte und böse Gesichtsausdruck offenbar der Normalzustand ist.
»Wie ich schon sagte, heiße ich Tina. Und Sie?«
»Sie können mich Kate nennen. So nennen mich meine Freunde«, erwidert die verwöhnte reiche Dame. »Ich wohne seit sieben Jahren in diesem Haus und hatte bis jetzt nie ein Problem, außer mit Jeff, der sich zum Glück aus dem Staub gemacht hat, um unter anderem auf den Cayman Islands sein eigenes Leben zu führen. Bestimmt werden Sie mir jetzt gleich eröffnen, dass Sie keine richtige Polizistin sind.«
»Ich muss mich wirklich dafür entschuldigen, dass ich ein bisschen geflunkert habe, aber ich wusste nicht, was ich sonst tun sollte, damit Sie an die Tür kommen, Kate.«
»Ich habe eine Dienstmarke gesehen.«
»Ja, ich habe sie hochgehalten, damit Sie das denken. Sie ist nicht echt – nicht wirklich. Aber wenn ich eine Rolle einstudiere, versuche ich, sie auch zu leben, so gut es geht. Mein Regisseur hat mir vorgeschlagen, dass ich nicht nur in das Haus ziehen soll, wo wir drehen werden. Ich soll auch eine Dienstmarke tragen und dieselben Autos fahren wie die Agentin im Film.«
»Ich wusste es!« Wieder zeigt Kate mit dem Finger auf sie. »Die Sportwagen. Aha! Das gehört alles zu Ihrer Rolle, richtig?« Sie lässt ihren langbeinigen, mageren Körper in den tiefen weißen Sessel sinken und klopft ein Kissen auf ihrem Schoß zurecht. »Sie kommen mir aber gar nicht bekannt vor.«
»Ich versuche, das zu vermeiden.«
Kate versucht sich an einem Stirnrunzeln. »Aber man könnte doch meinen, dass ich Ihr Gesicht schon mal gesehen haben müsste. Außerdem habe ich Ihren Namen, glaube ich, noch nie gehört. Tina wer?«
»Mangusta«, nennt sie den Namen ihres Lieblingsbootes, wobei sie recht sicher ist, dass ihre Nachbarin dieses Wort nicht direkt mit ihrer vorherigen Bemerkung über Cannes in Verbindung bringen wird. Stattdessen wird sie glauben, dass Mangusta sich irgendwie vertraut anhört.
»Ja, ich denke, dieser Name ist mir schon mal unterkommen. Kann sein«, meint Kate, inzwischen ein wenig selbstsicherer.
»Ich hatte noch keine großen Rollen, obwohl einige wichtige Filme dabei waren. Dieser Film soll sozusagen mein Durchbruch werden. Ich habe in freien Theaterproduktionen angefangen, mich zu B-Filmen hochgearbeitet und genommen, was ich kriegen konnte. Ich hoffe nur, dass es Sie nicht nerven wird, wenn die ganzen Lastwagen und Busse hier vorfahren. Aber zum Glück passiert das erst im Sommer. Vielleicht aber auch gar nicht, denn da ist nämlich so ein Verrückter, der uns offenbar hierher verfolgt hat.«
»Wie schade.« Sie beugt sich in dem großen weißen Sessel vor.
»Das können Sie laut sagen.«
»Ach, du meine Güte.« Kates Blick verfinstert sich, und sie sieht besorgt aus. »Er hat Sie den ganzen Weg von der Westküste hierher verfolgt? Sie sagten doch, Sie hätten einen Helikopter.«
»Ich bin ziemlich sicher, dass er es ist«, erwidert Lucy. »Wenn Sie noch nie von einem Stalker verfolgt worden sind, haben Sie gar keine Vorstellung davon, was für ein Albtraum das ist. Ich würde es meinem ärgsten Feind nicht wünschen. Ich dachte, wenn wir hierher kommen, sind wir das Problem los. Aber irgendwie hat er uns aufgespürt, und jetzt ist er hier. Ich bin überzeugt, dass er es ist. Der Himmel steh mir bei, wenn mir jetzt plötzlich zwei Spinner auf den Fersen wären. Also hoffe ich komischerweise fast, dass es derselbe Typ ist. Und, ja, ich reise mit dem Helikopter, wenn es nötig ist, allerdings nicht den ganzen Weg von der Westküste hierher.«