»Wenigstens wohnen Sie nicht allein«, meint Kate.
»Meine Mitbewohnerin, eine Schauspielerkollegin, ist vor kurzem ausgezogen und an die Westküste zurückgekehrt. Und zwar wegen dem Typen, der mich verfolgt.«
»Und was ist mit Ihrem gut aussehenden Freund? Offen gestanden frage ich mich schon die ganze Zeit, ob er Schauspieler und prominent ist. Aber ich komme einfach nicht auf den Namen.« Sie grinst verschwörerisch. »Dem Typen steht Hollywood ins Gesicht geschrieben. Was macht er denn so?«
»Hauptsächlich Ärger.«
»Tja, falls er Sie über den Tisch ziehen will, Schätzchen, kommen Sie einfach zu Kate.« Sie klopft auf das Kissen auf ihrem Schoß. »Ich kenne mich aus mit manchen Dingen.«
Lucy blickt zur It’s Settled hinaus, die lang, schnittig und weiß in der Sonne funkelt, und überlegt, ob Kates Ex-Mann sich, inzwischen bootlos, auf den Caymans vor dem Finanzamt versteckt. »Letzte Woche war der Stalker auf meinem Grundstück«, sagt sie. »Ich vermute zumindest, dass er es war. Ich wollte nur wissen …«
In Kates faltenlos gestrafftes Gesicht malt sich Verständnislosigkeit. »Oh«, erwidert sie dann. »Der Typ, der Sie verfolgt? Aber nein. Den habe ich nicht gesehen, nicht, dass ich wüsste. Allerdings treiben sich hier eine ganze Menge Leute herum – Gärtner, Poolreiniger, Bauarbeiter und so weiter. Doch die Polizeiautos und der Krankenwagen sind mir aufgefallen. Ich hatte eine Todesangst. Solche Dinge können ein Viertel vor die Hunde gehen lassen.«
»Also waren Sie zu Hause. Meine Kollegin lag mit einem Kater im Bett. Vielleicht ist sie ja rausgegangen, um sich in die Sonne zu setzen.«
»Ja, das habe ich gesehen.«
»Wirklich?«
»Oh, ja«, entgegnet Kate. »Ich war oben im Fitnessraum und habe zufällig runtergeschaut, als sie aus der Küchentür gekommen ist. Ich erinnere mich, dass sie einen Pyjama und einen Morgenmantel trug. Jetzt, wo Sie sagen, dass sie einen Kater hatte, erklärt das alles.«
»Wissen Sie noch, wie spät es war?«, erkundigt sich Lucy, während das Mobiltelefon auf dem Tisch ihr Gespräch aufzeichnet.
»Lassen Sie mich überlegen. Neun? Etwa um diese Zeit muss es gewesen sein.« Kate zeigt hinter sich auf Lucys Haus. »Sie saß am Pool.«
»Und dann?«
»Ich war auf dem Ellipsentrainer«, erwidert sie, denn in Kates Welt dreht sich alles um Kate. »Lassen Sie mich überlegen. Ich glaube, ich wurde von etwas abgelenkt, das gerade im Vormittagsprogramm lief. Nein, das Telefon hat geläutet. Ich weiß nämlich noch, dass sie weg war, als ich das nächste Mal rausgeschaut habe. Offenbar war sie wieder ins Haus gegangen. Jedenfalls war sie nicht mehr draußen.«
»Wie lange waren Sie auf dem Ellipsentrainer? Hätten Sie was dagegen, mir Ihren Fitnessraum zu zeigen, damit ich genau feststellen kann, wo Sie waren, als Sie sie gesehen haben?«
»Klar, kommen Sie mit, Honey.« Kate erhebt sich aus dem großen weißen Sessel. »Was halten Sie von etwas zu trinken? Ich glaube, ich könnte nach all dem Gerede über Spinner, laute Filmlastwagen, die hier vorfahren werden, und Helikopter einen Mimosa vertragen. Normalerweise verbringe ich eine halbe Stunde auf dem Ellipsentrainer.«
Lucy nimmt ihr Mobiltelefon vom Couchtisch. »Ich trinke dasselbe wie Sie.«
15
Es ist halb zwölf, als Scarpetta Marino am Mietwagen auf dem Parkplatz ihrer ehemaligen Wirkungsstätte trifft. Die dunklen Wolken erinnern sie an Fäuste, die zornig im Himmel geschüttelt werden. Immer wieder schlüpft die Sonne zwischen ihnen hindurch, und plötzliche Windböen zerren an Scarpettas Kleidern und Haaren.
»Kommt Fielding mit?«, fragt Marino, während er den Geländewagen aufschließt. »Ich nehme an, du möchtest, dass ich fahre. Irgendein Schwein hat sie also festgehalten und erstickt. So ein Dreckskerl. Ein junges Mädchen umzubringen. Der Typ muss ganz schön kräftig gebaut gewesen sein, um sie so festzuhalten, dass sie sich nicht rühren konnte. Meinst du nicht?«
»Fielding kommt nicht mit. Du darfst fahren. Wenn man keine Luft mehr kriegt, gerät man in Panik und schlägt wie wild um sich. Also brauchte der Täter nicht kräftig gebaut zu sein, nur groß und stark genug, um sie fest nach unten zu drücken. Wahrscheinlich handelt es sich um eine mechanische Asphyxie, nicht um Ersticken.«
»Und das Gleiche müsste man auch mit diesem Arschloch machen, wenn man ihn erst mal erwischt. Ein paar Kleiderschränke von Gefängniswärtern sollten sich auf seine Brust setzen, bis ihm die Luft wegbleibt, damit er mal sieht, wie schön das ist.« Sie steigen ein, und Marino lässt den Motor an. »Ich melde mich freiwillig. Ich bin sofort dabei. Mein Gott, so etwas einem Kind anzutun.«
»Verschieben wir das Thema ›Legt sie alle um, und überlasst den Rest dem lieben Gott‹ auf später«, unterbricht sie ihn. »Wir haben viel zu tun. Was weißt du über ihre Mutter?«
»Da Fielding nicht mitkommt, nehme ich an, dass du sie angerufen hast.«
»Ich habe ihr erklärt, dass wir mit ihr reden wollen, mehr nicht. Sie war am Telefon ein bisschen seltsam und glaubt allen Ernstes, Gilly wäre an der Grippe gestorben.«
»Wirst du ihr die Wahrheit sagen?«
»Das weiß ich noch nicht.«
»Tja, eines steht zumindest fest. Das FBI wird sich vor Begeisterung überschlagen, wenn es erfährt, dass du wieder Hausbesuche machst, Doc. Die krallen sich nämlich am liebsten Fälle, die sie nichts angehen, und könnten dir die Einmischung übel nehmen.« Er schmunzelt und fährt im Schritttempo über den überfüllten Parkplatz.
Scarpetta ist die Meinung des FBI herzlich gleichgültig. Sie betrachtet ihr früheres Gebäude, das den Namen Biotech II trug, die klaren grauen Linien, abgesetzt mit dunkelrotem Klinker, und die überdachte Zufahrt zur Leichenhalle, die sie an ein weißes, seitlich herausragendes Iglu erinnert. Jetzt, da sie wieder hier ist, fühlt sie sich, als wäre sie nie weggewesen. Sie empfindet es gar nicht als seltsam, dass sie unterwegs zum Fundort einer Leiche – aller Wahrscheinlichkeit auch einem Tatort – in Richmond, Virginia, ist. Und wie das FBI, Dr. Marcus oder sonst jemand ihre Hausbesuche beurteilt, interessiert sie nicht.
»Ich habe den Eindruck, auch dein Freund Dr. Marcus wird vor Freude ganz aus dem Häuschen sein«, fügt Marino spöttisch hinzu, als könnte er ihre Gedanken lesen. »Hast du ihm schon verraten, dass Gilly ermordet worden ist?«
»Nein«, erwidert sie.
Sie hat sich die Mühe gespart, Dr. Marcus erreichen oder ihm etwas mitteilen zu wollen, nachdem sie mit Gilly Paulsson fertig war, alles sauber gemacht, wieder ihren Hosenanzug angezogen und sich noch einige Proben unter dem Mikroskop angesehen hatte. Fielding kann Dr. Marcus die Fakten erläutern und ihm ausrichten, dass sie ihn gerne später informieren wird und dass er sie, wenn nötig, auf dem Mobiltelefon anrufen kann. Aber Dr. Marcus wird sich nicht melden. Er möchte so wenig wie möglich mit dem Fall Gilly Paulsson zu tun haben. Wie Scarpetta inzwischen glaubt, ist er schon vor seinem Anruf bei ihr in Florida zu dem Schluss gekommen, dass ihm der Tod dieses vierzehnjährigen Mädchens nur Ärger einbringen wird und dass es deshalb für ihn am ratsamsten ist, sich einen Sündenbock zu suchen. Und wem ließe sich die Schuld besser in die Schuhe schieben als seiner umstrittenen Vorgängerin Kay Scarpetta, die sich so vorzüglich als Blitzableiter eignet? Vermutlich hat er schon von Anfang an den Verdacht gehabt, dass Gilly Paulsson ermordet wurde. Und er hat aus irgendwelchen Gründen entschieden, sich nicht die Hände mit dem Fall schmutzig zu machen.