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»Wer ist der zuständige Detective?«, fragt Scarpetta Marino, während sie darauf warten, dass der Verkehr, der vom Highway I-95 abbiegt, an der Fourth Street an ihnen vorbeirollt. »Jemand, den wir kennen?«

»Nein. Er war zu unserer Zeit noch nicht da.« Marino entdeckt eine Lücke, startet durch und schießt auf die rechte Spur. Seit er wieder in Richmond ist, hat er zu seinem alten Fahrstil zurückgefunden, den er sich in seinen Anfangsjahren bei der New Yorker Polizei angewöhnt hat.

»Weißt du etwas über ihn?«

»Genug.«

»Wie ich annehme, wirst du die Baseballkappe den ganzen Tag über aufbehalten«, meint sie.

»Warum nicht? Oder hast du eine bessere für mich? Außerdem wird es Lucy freuen, zu hören, dass ich ihre Kappe trage. Wusstest du, dass die Polizeizentrale umgezogen ist? Sie ist nicht mehr in der Ninth Street, sondern in der Nähe des Jefferson Hotel im alten Farm Bureau Building. Abgesehen davon hat sich bei der Polizei nichts geändert, bis auf die Lackierung der Streifenwagen und dass sie hier jetzt auch Baseballkappen tragen dürfen wie in New York.«

»Vermutlich werden diese Kappen uns alle überleben.«

»Genau. Also hör auf, an meiner rumzumeckern.«

»Wer hat dir eigentlich erzählt, dass sich das FBI eingeschaltet hat?«

»Der Detective. Er heißt Browning und macht einen ganz vernünftigen Eindruck. Allerdings hat er noch nicht viel Erfahrung mit Mordfällen, und die, mit denen er bis jetzt zu tun hatte, fallen eher in die Kategorie Stadterneuerung: Ein Arschloch knallt ein anderes Arschloch ab.« Marino klappt einen Notizblock auf und wirft einen Blick darauf, während er quer durch die Stadt zur Broad Street fährt. »Am Donnerstag, dem 4. Dezember, wurde er verständigt, weil das Opfer beim Eintreffen des Krankenwagens bereits tot war. Er fuhr zu der Adresse im Fan, zu der wir gerade auf dem Weg sind, drüben, wo früher das Stuart Circle Hospital stand, bevor sie es in sündhaft teure Eigentumswohnungen umgewandelt haben. Wusstest du das? Es ist passiert, als du schon nicht mehr hier warst. Würdest du in einem ehemaligen Krankenhauszimmer wohnen wollen? Nein, danke.«

»Hast du eine Ahnung, was das FBI will, oder machst du es absichtlich so spannend?«, fragt sie.

»Richmond hat es hinzugezogen. Das ist einer der vielen Aspekte dieses Falles, die für mich keinen Sinn ergeben. Ich begreife einfach nicht, warum die Polizei von Richmond das FBI gebeten hat, seine Nase reinzustecken, oder warum das FBI überhaupt bereit dazu war.«

»Was meint Browning dazu?«

»Für ihn hat der Fall keine große Priorität. Er glaubt, das Mädchen wäre an irgendeiner Art von Krampfanfall gestorben.«

»Da irrt er sich aber gewaltig. Und was ist mit der Mutter?«

»Sie ist ein wenig seltsam. Dazu komme ich noch.«

»Und der Vater?«

»Geschieden, wohnt in Charleston, South Carolina. Er ist Arzt. Wirklich absurd, findest du nicht? Ein Arzt weiß doch genau, wie es in einem Leichenschauhaus so zugeht, und dann lässt er sein kleines Mädchen zwei Wochen lang in einem Leichensack dort herumliegen, weil er und seine Frau sich nicht einigen können, wer für die Beerdigung zuständig ist, wo die Kleine beigesetzt werden soll und was es sonst noch für Hickhack gibt.«

»An deiner Stelle würde ich ziemlich bald rechts in die Grace abbiegen«, sagt Scarpetta. »Und dann geht es nur noch geradeaus.«

»Ich danke dir, Magellan. Ich bin jahrelang in dieser Stadt herumgefahren. Wie habe ich das nur geschafft, ohne dass du mich lotst?«

»Ich kann mir sowieso nicht vorstellen, wie du überlebst, wenn ich nicht in deiner Nähe bin. Erzähl mir mehr über Browning. Wie war die Situation, als er bei den Paulssons ankam?«

»Das Mädchen lag auf dem Rücken im Bett. Es trug einen Pyjama. Die Mutter war hysterisch, wie du dir ja sicher vorstellen kannst.«

»War sie zugedeckt?«

»Die Decke war zurückgeschlagen und hing auf den Boden hinunter. Die Mutter hat Browning erklärt, sie hätte das Mädchen so vorgefunden, als sie vom Drugstore nach Hause kam. Aber sie leidet an Gedächtnisschwund, wie du vermutlich weißt. Ich glaube, dass sie lügt.«

»In welcher Hinsicht?«

»Ich bin nicht sicher. Das schließe ich nur aus Brownings Schilderung am Telefon. Wenn ich sie persönlich kennen lerne, mache ich mir selbst ein Bild.«

»Was ist mit Hinweisen auf einen möglichen Einbruch?«, erkundigt sich Scarpetta. »Gibt es welche?«

»Offenbar nichts, was Browning aufgefallen wäre. Wie ich schon sagte, nimmt er die Sache auf die leichte Schulter. Das ist nie ein gutes Zeichen, denn wenn der Detective kein großes Interesse zeigt, werden die Leute von der Spurensicherung ebenfalls nachlässig. Wo soll man anfangen, nach Fingerabdrücken zu suchen, wenn man nicht an einen Einbruch glaubt?«

»Jetzt erzähle mir bloß nicht, das hätten sie nicht getan.«

»Wie ich bereits sagte, mache ich mir selbst ein Bild, wenn ich dort gewesen bin.«

Inzwischen befinden sie sich in dem Bezirk, der Fan District heißt. Das Viertel wurde kurz nach dem Bürgerkrieg eingemeindet und irgendwann wegen seiner Form »Fan« – Fächer – genannt. Seine schmalen, gewundenen Straßen enden plötzlich ohne ersichtlichen Grund und tragen Obstnamen wie Strawberry, Cherry oder Plum. Die meisten Einfamilien- und Reihenhäuser wurden restauriert und verströmen mit ihren großzügig geschnittenen Veranden, den klassischen Säulen und den schmiedeeisernen Verzierungen wieder den Charme vergangener Zeiten. Das Haus der Paulssons ist nicht so schmuck und verspielt wie die anderen, sondern ein bescheidenes Gebäude mit klaren Linien, einer schlichten Backsteinfassade, einer Veranda, die sich über die gesamte Vorderfront erstreckt, und einem Schieferdach mit vorgetäuschter Mansarde, das Scarpetta an einen Schlapphut erinnert.

Marino parkt vor dem Haus neben einem dunkelblauen Minivan, und sie steigen aus. Der Gartenweg, den sie entlanggehen, ist mit Backsteinen gepflastert, alt und an manchen Stellen glatt und abgetreten. Es ist später Vormittag und bewölkt, und Scarpetta wäre nicht überrascht, wenn es gleich zu schneien beginnen würde. Allerdings hofft sie, dass sie von überfrierendem Regen verschont bleiben. Diese Stadt hat sich nie an das unwirtliche Winterwetter gewöhnt, und sobald auch nur das Wort »Schnee« fällt, stürmen die Bewohner von Richmond die Supermärkte und Lebensmittelläden. Die Stromleitungen verlaufen überirdisch und werden meist in Mitleidenschaft gezogen, wenn gewaltige alte Bäume umstürzen oder im heftigen Sturm und unter zu schwer gewordenen Eisschichten abknicken. Deshalb schickt Scarpetta ein Stoßgebet zum Himmel, dass es keinen überfrierenden Regen geben wird, solange sie in der Stadt ist.

Der Türklopfer aus Messing hat die Form einer Ananas. Marino betätigt ihn dreimal. Das laute, scharfe Pochen lässt sie zusammenzucken und wirkt angesichts des Grundes für ihren Besuch ein wenig pietätlos. Rasche Schritte sind zu hören, dann schwingt die Tür weit auf. Die Frau, die vor ihnen steht, ist klein und mager. Ihr Gesicht ist aufgequollen, als ob sie nicht genug isst, dafür aber reichlich trinkt und viel geweint hat. Unter besseren Umständen könnte man sie als hübsch bezeichnen, wenn auch auf eine billige, blondierte Art.

»Kommen Sie rein«, sagt sie mit verstopfter Nase. »Ich bin erkältet, aber es ist nicht ansteckend.« Ihr Blick aus verschwollenen Augen richtet sich auf Scarpetta. »Aber das muss ich einer Ärztin ja nicht erklären. Ich nehme an, dass Sie die Ärztin sind, mit der ich gerade gesprochen habe.« Wie sollte es auch anders sein, denn Marino ist ein Mann in schwarzem Kampfanzug und mit LAPD-Baseballkappe.

»Ich bin Dr. Scarpetta.« Sie hält ihr die Hand hin. »Das mit Gilly tut mir sehr Leid.«

Helle Tränen schimmern in Mrs. Paulssons Augen.

»Kommen Sie schon rein. In letzter Zeit habe ich den Haushalt ein bisschen schleifen lassen. Ich habe gerade Kaffee gekocht.«

»Klingt gut«, erwidert Marino und stellt sich vor. »Detective Browning hat mit mir gesprochen. Doch ich dachte, wir machen uns besser selbst ein Bild, wenn Ihnen das recht ist.«