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»Ich denke, es wird gehen«, beschloss Scarpetta. »Ich würde nur ungern absagen. Es funktioniert schon.«

»Tut mir echt Leid«, sagte David. »Ich weiß, dass eine Autopsievorführung an einer einbalsamierten Leiche nicht das Optimale ist.«

»Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf darüber.« Scarpetta tätschelte seinen Arm. »Kaum zu fassen, dass wir heute keinen einzigen Fall haben. Und ausgerechnet an so einem Tag bekommen wir Besuch von der Polizeiakademie. Tja, schicken Sie sie hoch.«

»Liebend gern«, meinte Dave, der manchmal mit Scarpetta flirtete, mit einem Zwinkern. »Zurzeit sieht es auch mit Spenden leider mau aus.«

»Seien Sie nur froh, dass die Öffentlichkeit nicht weiß, wo die Leichen landen. Dann würden Sie nämlich gar keine Spenden mehr kriegen«, erwiderte sie und ging in Richtung Aufzug. »Wir müssen uns bald mal die Pläne für das neue Gebäude anschauen, Dave.«

Also half Pogue seinem Chef, die jüngste Spende von den Haken zu lösen und sie auf dieselbe staubige Bahre zu legen, über die Scarpetta sich gerade beschwert hatte. Pogue rollte die rosafarbene alte Dame über die braunen Fliesen in den rostigen Lastenaufzug. Während sie nach oben fuhren und er sie im Erdgeschoss wieder hinausschob, dachte er sich, dass die alte Frau sicher nie mit dieser Reise gerechnet hätte. Nein, ganz sicher hatte sie diesen Umweg nicht eingeplant, das musste er eigentlich am besten wissen. Schließlich hatte er oft genug mit ihr geredet. Selbst vor ihrem Tod. Die Plastikhülle, die er über sie gebreitet hatte, raschelte, als er sie durch die dicke, nach Raumspray riechende Luft schob. Auf dem Weg zu den offenen Türflügeln, die in den Autopsiesaal führten, klapperten die Räder der Bahre über weiße Fliesen.

»Und das, liebe Mutter, ist es, was mit Mrs. Arnette passiert ist«, sagt Edgar Allan Pogue und richtet sich im Liegestuhl auf. Fotos von Mrs. Arnette mit ihrem bläulich getönten Haar sind auf dem gelbweißen Stoff zwischen seinen nackten, behaarten Schenkeln ausgebreitet. »Oh, mir ist klar, wie ungerecht und schrecklich sich das anhört. Aber so schlimm war es gar nicht. Ich wusste, dass ihr ein Publikum aus jungen Polizisten lieber gewesen wäre, als wenn irgendein undankbarer Medizinstudent an ihr herumgeschnitzt hätte. Eine hübsche Geschichte, findest du nicht, Mutter? Eine wirklich hübsche Geschichte.«

18

Im Schlafzimmer ist gerade genug Platz für ein Einzelbett, einen kleinen Tisch links vom Kopfbrett und eine Kommode neben dem Wandschrank. Die Möblierung besteht aus Eiche, ist weder antik noch neu und sieht einigermaßen wohnlich aus. Rings um das Bett sind Poster von Sehenswürdigkeiten mit Klebestreifen an der vertäfelten Wand befestigt.

Gilly Paulsson ist unter den Stufen des Doms von Siena eingeschlafen, wachte mit dem alten Palast des Domitian auf Roms Palatin vor Augen auf und hat ihr langes blondes Haar wahrscheinlich vor dem Ganzkörperspiegel neben der Piazza Santa Croce in Florenz gekämmt, wo eine Statue von Dante steht. Vermutlich wusste sie gar nicht, wer Dante war. Vielleicht hätte sie Italien nicht einmal auf einer Landkarte finden können.

Marino steht an einem Fenster, das auf den Garten hinausgeht. Er muss nicht erklären, was er bemerkt hat, weil es offensichtlich ist. Das Fenster befindet sich nur einen Meter zwanzig über dem Boden und wird mit zwei Daumenhebeln verschlossen, sodass es sich leicht hochschieben lässt, wenn man die Hebel herunterdrückt.

»Sie rasten nicht ein«, sagt Marino. Er trägt weiße Baumwollhandschuhe und drückt die Hebel herunter, um zu demonstrieren, wie mühelos man das Fenster hochschieben kann.

»Detective Browning sollte davon erfahren«, meint Scarpetta. Sie holt ebenfalls Handschuhe hervor, ein weißes Paar aus Baumwolle, das ein wenig angeschmuddelt ist, weil sie es immer in einem Seitenfach ihrer Handtasche mit sich herumträgt. »In den Berichten, die ich gelesen habe, steht nichts von einem defekten Fensterriegel. Wurde das Fenster aufgebrochen?«

»Nein«, erwidert Marino und schiebt das Fenster wieder hinunter. »Es ist nur alt und abgenutzt. Ich frage mich, ob sie ihr Fenster je aufgemacht hat. Es ist recht unwahrscheinlich, dass jemandem zufällig aufgefallen ist, dass sie nicht in der Schule war, während ihre Mom noch kurz etwas erledigen musste, und er sich gesagt hat: Hey, dann brech ich doch mal schnell ein. Spitze, dass der Fensterriegel kaputt ist.«

»Vermutlich wusste jemand schon länger von dem defekten Fenster«, meint Scarpetta.

»Das würde ich auch sagen.«

»Dann muss dieser Jemand das Haus entweder kennen oder die Möglichkeit gehabt haben, es zu beobachten, um das herauszufinden.«

»Hmm«, brummt Marino. Er geht zur Kommode und zieht die oberste Schublade auf. »Wir müssen uns über die Nachbarn informieren. Von dem Haus nebenan hat man den besten Blick auf ihr Zimmer.« Er weist mit dem Kopf auf das Nachbargebäude mit dem vermoosten Schieferdach hinter dem Zaun. »Ich erkundige mich, ob die Cops die Bewohner schon befragt haben. Vielleicht haben die Bewohner ja mitgekriegt, dass sich ein Fremder um das Haus herumgedrückt hat … Ich glaube, das hier könnte dich interessieren.«

Marino greift in die Schublade und zieht eine schwarze Herrenbrieftasche aus Leder heraus. Sie ist weich und abgewetzt, als wäre sie lange Zeit in der Gesäßtasche herumgetragen worden. Als er sie aufklappt, ist ein abgelaufener Führerschein des Staates Virginia zu sehen, ausgestellt auf Franklin Adam Paulsson, geboren am 14. August 1966 in Charleston, South Carolina. Ansonsten enthält die Brieftasche weder Kreditkarten noch Bargeld oder andere Gegenstände.

»Ihr Dad«, sagt Scarpetta und betrachtet nachdenklich das Foto auf dem Führerschein. Es zeigt einen lächelnden blonden Mann mit markantem Kiefer und Augen, so blaugrau wie der Winter. Er sieht zwar gut aus, aber sie ist nicht sicher, wie sie ihn einschätzen soll, sofern es überhaupt möglich ist, einen Menschen anhand seines Führerscheinfotos zu beurteilen. Er wirkt irgendwie kalt, denkt sie, aber sie bekommt es nicht genau zu fassen, und das löst in ihr ein unbehagliches Gefühl aus.

»Siehst du? Das ist es, was ich komisch finde«, fährt Marino fort: »Die oberste Schublade ist wie eine Art Schrein für ihren Vater. Diese T-Shirts …« Er hält einen dünnen Stapel ordentlich gefalteter Herrenunterhemden hoch. »… Größe L, von einem Mann, vielleicht von ihrem Dad. Einige haben Flecken oder Löcher. Und Briefe.« Er reicht Scarpetta etwa ein Dutzend Kuverts, von denen einige offenbar Grußkarten enthalten, alle mit einer Adresse in Charleston als Absender. »Und dann ist da noch das da.« Seine dicken weißen, baumwollumhüllten Finger holen eine verwelkte langstielige Rose hervor. »Fällt dir dasselbe auf wie mir?«

»Sie scheint nicht sehr alt zu sein.«

»Genau.« Vorsichtig legt er die Blume zurück in die Schublade. »Zwei bis drei Wochen? Du züchtest doch Rosen«, fügt er hinzu, als ob sie deshalb auch Expertin für verwelkte Exemplare wäre.

»Ich kann es nicht genau sagen. Aber mehrere Monate sind es bestimmt nicht. Was willst du hier eigentlich noch, Marino? Nach Fingerabdrücken suchen? Das müsste doch eigentlich längst erledigt sein. Was zum Teufel hat die Polizei hier bloß getrieben?«

»Vermutungen angestellt«, erwidert er. »Mehr nicht. Ich hole meinen Koffer aus dem Auto und mache ein paar Fotos. Fingerabdrücke sichern kann ich auch. Am Fenster, am Fensterrahmen und an dieser Kommode, vor allem an der obersten Schublade. Viel mehr Möglichkeiten gibt es nicht.«

»Nur zu. Spuren verwischen können wir an diesem Tatort sowieso nicht mehr. Es waren schon zu viele Leute hier.« Ihr fällt auf, dass sie das Zimmer zum ersten Mal als Tatort bezeichnet hat.

»Ich schaue mich auch mal im Garten um«, sagt er. »Allerdings sind zwei Wochen vergangen. Also liegt da bestimmt kein Häufchen von der kleinen Sweetie mehr herum, außer es hätte in dieser Zeit kein einziges Mal geregnet, was nicht der Fall ist. Deshalb lässt sich schwer feststellen, ob es diesen vermissten Hund tatsächlich gibt. Browning hat nichts davon erwähnt.«