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Scarpetta kehrt in die Küche zurück, wo Mrs. Paulsson am Tisch sitzt. Offenbar hat sie sich nicht von der Stelle gerührt, denn sie befindet sich noch in derselben Körperhaltung auf demselben Stuhl und starrt ins Leere. Sie kann doch nicht allen Ernstes glauben, dass ihre Tochter wirklich an der Grippe gestorben ist, denkt Scarpetta.

»Hat Ihnen jemand erklärt, warum sich das FBI für Gillys Tod interessiert?«, erkundigt sie sich und lässt sich Mrs. Paulsson gegenüber an dem kleinen Tisch nieder. »Was hat die Polizei dazu gesagt?«

»Ich weiß nicht. Ich schaue mir solche Sendungen nicht an«, murmelt sie.

»Was für Sendungen?«

»Krimiserien. Reportagen über das FBI. Alles, was mit Verbrechen zu tun hat.«

»Aber Sie wissen doch, dass sich das FBI eingeschaltet hat«, fährt Scarpetta, die sich allmählich Sorgen um Mrs. Paulssons Geisteszustand macht, fort. »Haben Sie mit dem FBI gesprochen?«

»Eine Frau war hier. Das habe ich Ihnen ja schon erzählt. Sie meinte, sie hätte nur ein paar Routinefragen und es täte ihr schrecklich Leid, mich in meiner Trauer stören zu müssen. So hat sie es ausgedrückt, ›in meiner Trauer‹. Wir haben genauso dagesessen wie jetzt, und sie hat mich nach Gilly und Frank gefragt und wollte wissen, ob mir jemand Verdächtiges aufgefallen ist. Ob Gilly mit Fremden oder mit ihrem Vater gesprochen hat. Und wie die Nachbarn so sind. Sie hat mich auch alles Mögliche über Frank gefragt.«

»Was, denken Sie, war der Grund dafür? Was waren das für Fragen über Frank?«, bohrt Scarpetta nach und stellt sich den blonden Mann mit dem markanten Kiefer und den graublauen Augen vor.

Mrs. Paulsson starrt auf die weiße Wand links vom Herd, als hätte sie dort etwas Auffälliges bemerkt. »Ich weiß nicht, warum sie sich für ihn interessiert hat. Aber das tun viele Frauen.« Ihre Körperhaltung wird steif und ihre Stimme schrill. »Die rennen ihm die Bude ein.«

»Und wo ist er jetzt? Ich meine, in diesem Augenblick?«

»In Charleston. Es ist, als wären wir schon seit einer Ewigkeit geschieden.« Sie beginnt, an einem Niednagel herumzuzupfen, den Blick wie gebannt auf die Wand gerichtet, als ziehe sie etwas in ihren Bann. Aber da ist nichts, absolut nichts.

»Standen er und Gilly sich nahe?«

»Sie vergöttert ihn.« Mrs. Paulsson holt tief und lautlos Luft. Ihre Augen weiten sich, und ihr Kopf fängt an zu schwanken, als könne ihr magerer Hals ihn plötzlich nicht mehr tragen. »Er kann nichts falsch machen. Im Wohnzimmer unter dem Fenster steht ein Sofa. Es ist nichts weiter als ein kariertes Sofa und hat nichts Besonderes an sich, abgesehen davon, dass es sein Lieblingsplatz war, wo er ferngesehen und Zeitung gelesen hat.« Wieder holt sie tief Luft. »Nachdem er uns verlassen hatte, ging sie immer wieder ins Wohnzimmer und legte sich auf das Sofa. Ich konnte sie kaum dazu bringen, aufzustehen.« Sie seufzt. »Er ist kein guter Vater. Aber ist es nicht immer so? Wir lieben das, was wir nicht bekommen können.«

Die Schritte von Marinos großen, schweren Stiefeln hallen, diesmal lauter, aus Gillys Zimmer hinüber.

»Wir lieben die Menschen, die unsere Liebe nicht erwidern«, wiederholt Mrs. Paulsson.

Scarpetta hat sich seit ihrer Rückkehr in die Küche keine Notizen gemacht. Ihr Handgelenk ruht auf dem Notizbuch, der Kugelschreiber in ihren Fingern bereit, verharrt aber reglos. »Wie heißt die FBI-Agentin?«, fragt sie.

»Ach, du meine Güte. Karen … Lassen Sie mich überlegen.«

Sie schließt die Augen und legt die zitternden Finger an die Stirn. »Mein Gedächtnis ist nicht mehr das, was es einmal war. Moment mal. Weber. Karen Weber.«

»Vom Büro in Richmond?«

Marino kommt in die Küche. In der einen Hand hält er einen schwarzen Plastikkasten für Anglerausrüstung, in der anderen seine Baseballkappe. Endlich hat er sie abgenommen, vermutlich aus Respekt vor Mrs. Paulsson, der Mutter eines jungen ermordeten Mädchens.

»Ich glaube schon«, antwortet Mrs. Paulsson. »Irgendwo muss ich noch ihre Karte haben. Wo habe ich sie nur hingelegt?«

»Wissen Sie, woher Gilly eine rote Rose haben könnte?«, fragt Marino, der noch in der Tür steht. »In ihrem Zimmer ist so eine.«

»Was?«

»Am besten zeigen wir sie Ihnen«, sagt Scarpetta und erhebt sich vom Tisch. Sie zögert und hofft, dass Mrs. Paulsson verkraften wird, was nun auf sie zukommt. »Ich würde Ihnen gerne ein paar Dinge erklären.«

»Oh, natürlich.« Ein wenig wackelig auf den Beinen, steht sie auf. »Eine rote Rose?«

»Wann hat Gilly ihren Vater zuletzt gesehen?«, erkundigt sich Scarpetta, als sie zu ihrem Zimmer gehen.

»Zu Thanksgiving.«

»Hat sie ihn besucht? War er hier?«, fragt Scarpetta in ihrem sanftmütigsten Tonfall nach, und sie hat den Eindruck, dass der Flur enger und dunkler ist als noch vor wenigen Minuten.

»Ich weiß nichts von einer Rose«, sagt Mrs. Paulsson.

»Ich musste in ihren Schubladen nachsehen«, meint Marino. »Sie verstehen hoffentlich, dass wir so etwas nicht gerne tun.«

»Machen Sie das immer, wenn Kinder an der Grippe sterben?«

»Ganz bestimmt hat die Polizei ihre Schubladen bereits durchsucht«, fährt Marino fort. »Oder waren Sie nicht im Zimmer, als sie sich umgeschaut und fotografiert haben?«

Er macht Platz, damit Mrs. Paulsson das Zimmer ihrer toten Tochter betreten kann. Sie geht bis zur Kommode, die links von der Tür an der Wand steht. Marino wühlt in seiner Tasche und zieht die Baumwollhandschuhe hervor. Nachdem er seine riesigen Hände hineingezwängt hat, öffnet er die oberste Schublade und nimmt die schlaffe Rose heraus. Es ist eine mit geschlossener Blüte, die nie aufgegangen ist. Scarpetta kennt solche Rosen; normalerweise stehen sie, in durchsichtiges Plastik gehüllt, für einen Dollar fünfzig pro Stück an Supermarktkassen.

»Ich weiß nicht, was das ist.« Mrs. Paulsson starrt auf die Rose. Ihr Gesicht rötet sich, bis es fast so Scharlachfarben ist wie die verwelkte Blume. »Ich habe keine Ahnung, woher sie die hat.«

Marino lässt sich nichts anmerken.

»Haben Sie, als Sie vom Drugstore zurückkehrten, die Rose in ihrem Zimmer gesehen?«, erkundigt sich Scarpetta.

»Möglicherweise hat jemand sie Gilly ja zu einem Krankenbesuch mitgebracht? Hatte sie vielleicht einen Freund?«

»Ich verstehe nicht, was Sie meinen«, erwidert Mrs. Paulsson.

»Gut«, sagt Marino und legt die Rose gut sichtbar auf die Kommode. »Als Sie vom Drugstore wiederkamen, sind Sie zuerst in dieses Zimmer gegangen. Erinnern Sie sich? Fangen wir damit an, dass Sie Ihren Wagen geparkt haben. Wo haben Sie ihn abgestellt?«

»Vor dem Haus. Am Bürgersteig.«

»Parken Sie immer dort?«

Ein Nicken. Ihr Blick wandert zum Bett. Es ist ordentlich gemacht und mit einer Überdecke versehen, die die gleiche graublaue Farbe hat wie die Augen ihres Ex-Mannes.

»Mrs. Paulsson, möchten Sie sich vielleicht setzen?« Scarpetta wirft Marino einen raschen Blick zu.

»Ich hole Ihnen einen Stuhl«, erbietet er sich.

Er geht hinaus und lässt Mrs. Paulsson und Scarpetta mit der welken roten Rose und dem makellos glatten Bett allein zurück.

»Ich habe italienische Vorfahren«, sagt Scarpetta und betrachtet die Poster an der Wand. »Meine Großeltern stammen aus Verona. Waren Sie schon mal in Italien?«

»Frank war dort.« Mehr hat Mrs. Paulsson zu den Postern nicht anzumerken.

Scarpetta sieht sie an. »Ich weiß, wie schwer es für Sie sein muss«, meint sie mitfühlend. »Aber je mehr Sie uns erzählen, desto besser können wir Ihnen helfen.«

»Gilly ist an der Grippe gestorben.«

»Nein, Mrs. Paulsson. Sie ist nicht an der Grippe gestorben. Ich habe die Leiche untersucht. Ich habe mir die Proben angesehen. Ihre Tochter hatte zwar eine Lungenentzündung, aber die war schon beinahe abgeklungen. Sie hatte Blutergüsse auf den Handrücken und am Rücken.«

Mrs. Paulsson wirkt bestürzt.

»Haben Sie eine Ahnung, wie sie sich diese Blutergüsse zugezogen haben könnte?«