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»Nein. Wie hätte das geschehen sollen?« Sie starrt auf das Bett, und Tränen treten ihr in die Augen.

»Hat sie sich vielleicht gestoßen? Ist sie gestürzt oder aus dem Bett gefallen?«

»Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Gehen wir Schritt für Schritt vor«, meint Scarpetta. »Haben Sie die Haustür abgeschlossen, als Sie zum Drugstore fuhren?«

»Das mache ich immer.«

»War sie abgeschlossen, als Sie zurückkamen?«

Marino lässt sich Zeit, damit Scarpetta die Sache auf ihre Weise angehen kann. Es ist wie ein einstudierter Tanz, dessen Schrittfolge keine nähere Absprache verlangt.

»Ich glaube schon, denn ich habe mit dem Schlüssel aufgemacht. Dann habe ich ihren Namen gerufen, damit sie weiß, dass ich wieder zu Hause bin. Als sie nicht antwortete, dachte ich … ich dachte, dass sie schläft«, schluchzt sie. »Ich dachte, sie liegt mit Sweetie im Bett. Also habe ich gerufen: ›Hoffentlich hast du Sweetie nicht bei dir im Bett, Gilly.‹«

19

Mrs. Paulsson legte die Schlüssel an den üblichen Platz auf dem Tisch unter der Garderobe. Sonnenstrahlen strömten durch das Oberlicht über der Tür und erleuchteten den dunkel getäfelten Flur. Als sie ihren Mantel auszog und aufhängte, schwebten weiße Staubflöckchen in den hellen Lichtstrahlen.

»Ich habe immer wieder Gilly-Honey gerufen«, erzählt sie Scarpetta. »Ich bin zu Hause. Ist Sweetie bei dir? Wo ist Sweetie? Du weißt doch, dass Sweetie sich daran gewöhnen wird, wenn du sie mit ins Bett nimmst. Bestimmt hast du es wieder getan. Und so ein kleiner Basset kann wegen seiner kurzen Beinchen doch nicht allein aus dem Bett springen.«

Sie ging in die Küche und legte einige Plastiktüten auf dem Tisch ab. Da sie schon einmal unterwegs war, war sie noch in den Supermarkt gegangen, damit sich die Fahrt ins Einkaufszentrum in der West Cary Street auch lohnte. Sie nahm zwei Dosen Hühnerbrühe aus einer der Tüten und stellte sie neben den Herd. Dann öffnete sie den Gefrierschrank, holte ein Päckchen Hähnchenkeulen heraus und legte es zum Auftauen in die Spüle. Es war still im Haus. Sie hörte das monotone Ticken der Wanduhr in der Küche, das sie normalerweise nie wahrnahm, weil sie viel zu beschäftigt war.

Aus einer Schublade kramte sie einen Löffel und nahm dann ein Glas aus dem Schrank. Nachdem sie das Glas mit Wasser gefüllt hatte, trug sie es, zusammen mit dem Löffel und einer neuen Flasche Hustensaft, den Flur entlang zu Gillys Zimmer.

»Als ich zu ihrem Zimmer kam«, erzählt sie Scarpetta, »rief ich: Gilly? Was, um Himmels willen, machst du da? Denn ich sah … Es ergab für mich keinen Sinn. Gilly? Wo ist dein Pyjama? Ist dir so heiß? O Gott, wo ist das Thermometer? Ist dein Fieber etwa wieder gestiegen?«

Gilly lag auf dem Bett, bäuchlings, der schlanke Rücken, der Po und die Beine nackt. Das seidige goldene Haar auf den Kissen ausgebreitet. Die Arme gerade über den Kopf gestreckt. Die Beine angezogen wie bei einem Frosch.

O Gott. O Gott. Mrs. Paulssons Hände begannen plötzlich heftig zu zittern.

Die Steppdecke, das Laken und die Wolldecke waren weggezogen, hingen vom Matratzenende und bildeten ein Häufchen auf dem Boden. Sweetie lag nicht auf dem Bett, ein Umstand, der sich in ihr Gedächtnis eingegraben hat. Sweetie war auch nicht unter der Decke, weil sich auf dem Bett gar keine mehr befand. Die Decken waren alle auf dem Boden. Sie konnte nicht weiter denken als bis zu Sweetie, und sie war kaum überrascht, ja, bemerkte es fast gar nicht, als die Hustensaftflasche, das Wasserglas und der Löffel herunterfielen. Sie hatte gar nicht registriert, dass sie sie losgelassen hatte. Und plötzlich prallten sie auf den Boden. Flüssigkeit spritzte, als sie hin und her rollten und sich das Wasser auf den alten Holzdielen verteilte. Sie schrie, und ihre Hände schienen nicht ihr zu gehören, als sie Gilly bei den warmen Schultern packte und sie schüttelte, sie herumdrehte, sie wieder schüttelte und dabei immer weiterschrie.

20

Rudy ist schon seit einer Weile weg. Lucy befindet sich in ihrer Küche und greift nach dem Durchschlag des Berichts, den das Büro des Sheriffs von Broward County angefertigt hat. Es steht nicht viel darin. Eine unbefugte Person auf dem Grundstück wurde gemeldet, was möglicherweise im Zusammenhang mit dem mutmaßlichen Einbruch in demselben Haus steht.

Neben dem Bericht liegt ein großer brauner Umschlag. Darin steckt die Bleistiftzeichnung von dem Auge, die an der Tür befestigt gewesen ist. Der Polizist hat sie nicht mitgenommen. Gut gemacht, Rudy. Nun kann sie die Zeichnung testen, auch auf die Gefahr hin, dass sie dabei zerstört wird. Als sie durch das Fenster das Haus ihrer Nachbarin betrachtet, fragt sie sich, ob Kate inzwischen allmählich wieder nüchtern ist oder ob sie glaubt, dass sie sich nüchtern trinken kann – was halt so in den Köpfen von Betrunkenen vorgeht. Beim bloßen Gedanken an den Geruch von Champagner wird Lucy flau im Magen, und Angst überkommt sie. Sie weiß Bescheid über Champagner und wie man sich anderen Menschen an den Hals wirft, weil die mit zunehmendem Alkoholpegel immer besser aussehen. Damit kennt sie sich aus, und es ist eine Erfahrung, die sie ungern wiederholen würde. Wenn sie sich daran erinnert, könnte sie im Erdboden versinken.

Sie ist froh, dass Rudy unterwegs ist. Wenn er wüsste, was gerade geschehen ist, würde es Erinnerungen in ihm wachrufen. Dann würden sie beide in Schweigen verfallen, das immer tiefer und undurchdringlicher wird, bis sie sich schließlich streiten, um nicht mehr daran denken zu müssen. Wenn sie betrunken war, hat sie sich genommen, was sie zu wollen glaubte, nur um später festzustellen, dass sie es eigentlich gar nicht wirklich wollte, sondern eher Abscheu oder Gleichgültigkeit empfand. Vorausgesetzt, sie konnte sich überhaupt daran erinnern. Für einen Menschen, der den dreißigsten Geburtstag noch vor sich hat, hat Lucy eine Menge in ihrem Leben vergessen. Bei ihrem letzten Blackout ist sie auf einem Balkon, schätzungsweise im dreißigsten Stock, aufgewacht, nur mit einer Joggingshorts bekleidet und mitten in einer eiskalten New Yorker Nacht. Es war Januar. Vorangegangen war ein feuchtfröhlicher Tag in Greenwich Village – wo genau, weiß sie immer noch nicht und möchte es auch gar nicht herausfinden.

Sie hat auch weiterhin keine Ahnung, was sie da draußen auf dem Balkon wollte. Möglicherweise hat sie sich auf dem Weg zum Klo in der Richtung geirrt und die falsche Tür aufgemacht. Sie hätte genauso gut über die Brüstung klettern können, in der Annahme, dass es der Badewannenrand ist. Dann wäre sie dreißig Stockwerke tief in den Tod gestürzt. Ihre Tante hätte die Autopsieberichte erhalten und mit ihrem Berufskollegen übereingestimmt, dass Lucy in betrunkenem Zustand Selbstmord begangen hat. Keine Untersuchung der Welt hätte zu Tage fördern können, dass Lucy nur in einer fremden Wohnung aus dem Bett einer Fremden, die sie irgendwo in Greenwich Village kennen gelernt hat, getaumelt ist, um aufs Klo zu gehen. Doch das ist eine andere Geschichte, und zwar eine, über die sie nur ungern nachdenkt.

Es war die letzte dieser bitteren Episoden, denn Lucy hat den Alkohol zu ihrem Feind erklärt, um sich für all die Male zu rächen, die er sich gegen sie gewendet hat. Inzwischen trinkt sie nicht mehr. Allein das Aroma von Alkohol lässt sie an den säuerlichen Geruch von Menschen denken, die sie nicht geliebt hat und die sie im nüchternen Zustand nie angerührt hätte. Sie betrachtet das Haus ihrer Nachbarin, verlässt dann die Küche und geht hinauf in den ersten Stock. Wenigstens kann sie dankbar sein, dass bei der Entscheidung für Henri kein Alkohol im Spiel war.

In ihrem Büro macht Lucy Licht und öffnet einen schwarzen Aktenkoffer von durchschnittlicher Größe. Allerdings ist es eine stabile Hartschalenversion, in der sich ein Fernüberwachungssystem befindet, mit dem sie heimlich drahtlose Funkempfänger auf der ganzen Welt abhören kann. Sie vergewissert sich, dass der Akku aufgeladen ist und das Gerät funktioniert, dass die vier Verstärker laufen und das Doppel-Kassettendeck auch aufnimmt. Dann schließt sie das Schaltpult an eine Telefonleitung an, schaltet den Empfänger ein und setzt Kopfhörer auf, um festzustellen, ob Kate im Fitnessraum oder im Schlafzimmer mit jemandem telefoniert. Aber das tut sie nicht, und bis jetzt ist auch noch kein Gespräch aufgezeichnet worden. Lucy setzt sich an einen Tisch im Büro, betrachtet das Sonnenlicht, das sich im Wasser spiegelt, und die Palmen, die sich im Wind wiegen, und lauscht. Nachdem sie die Empfindlichkeit des Empfangs eingestellt hat, wartet sie ab.