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Als weiterhin Schweigen herrscht, nimmt sie die Kopfhörer ab und legt sie auf den Tisch. Sie steht auf und stellt das Schaltpult auf den Tisch, wo sie den Krimesite-Imager aufgebaut hat. Die Lichtverhältnisse im Raum ändern sich, als Wolken über die Sonne wandern und dann weitertreiben, sodass es im Büro dunkler und dann wieder heller wird. Lucy streift weiße Baumwollhandschuhe über. Sie zieht die Zeichnung, die das Auge darstellt, aus dem Umschlag und legt sie auf einen großen sauberen Bogen schwarzes Papier. Dann nimmt sie wieder Platz, setzt die Kopfhörer auf und holt eine Sprühdose Ninhydrin aus ihrem Fingerabdruck-Set. Nachdem sie den Deckel entfernt hat, besprüht sie die Zeichnung, wobei sie darauf achtet, dass sie nicht zu feucht wird. Die Sprühlösung enthält zwar keine Fluorkohlenwasserstoffe und ist umweltfreundlich, könnte aber menschenfreundlicher sein. Der Sprühnebel sticht in Lucys Lungen und löst Hustenreiz aus.

Wieder nimmt sie die Kopfhörer ab, erhebt sich und geht mit dem nach Chemie riechenden feuchten Papier zu einer Arbeitsfläche, wo ein Dampfbügeleisen aufrecht auf einer hitzebeständigen Unterlage steht. Sie schaltet das Bügeleisen ein, und nachdem es aufgeheizt hat, betätigt sie den Dampfknopf, sodass zischend Dampf austritt. Sie breitet die Zeichnung von dem Auge auf der hitzebeständigen Unterlage aus, hält das Bügeleisen zwölf Zentimeter über das Papier und lässt Dampf ausströmen. Binnen Sekunden verfärben sich Teile des Papiers lila, und sie kann lilafarbene Fingerabdrücke sehen, die nicht von ihr stammen, da sie weiß, wo sie das Papier beim Abnehmen von der Tür angefasst hat. Außerdem hat sie es nicht mit der bloßen Hand berührt, was sicher auch für den Polizisten aus Broward gilt, weil Rudy das niemals zugelassen hätte. Sie achtet darauf, dass der Dampf nicht mit dem Stück Klebestreifen in Berührung kommt, da dieser undurchlässig ist und nicht auf Ninhydrin reagieren würde. Außerdem würde der Klebstoff in der Hitze schmelzen und damit möglicherweise vorhandene Abdrücke zerstören.

Wieder an ihrem Arbeitstisch, nimmt sie Platz, setzt die Kopfhörer und eine Brille auf und schiebt die lila gefleckte Zeichnung unter die Linse des Imagers. Sie schaltet das Gerät und anschließend auch die UV-Lampe ein und sieht durch das Okular eine hellgrüne Fläche. Der unangenehme Geruch nach erhitzten Chemikalien und Papier steigt ihr in die Nase. Die Bleistiftzeichnung des Auges ist als dünne weiße Linie zu erkennen, und sie bemerkt die blassen Wellen eines Fingerabdrucks neben der Iris. Sie stellt die Schärfe ein, um das Bild so gut wie möglich sichtbar zu machen, bis in den Wellen einige typische Eigenschaften hervortreten, die für IAFIS, das Integrierte Automatisierte Fingerabdruck-Identifizierungssystem des FBI, genügen müssten. Bei der Überprüfung der latenten Abdrücke, die sie nach dem Mordversuch an Henri im Schlafzimmer sicherstellen konnte, ist lediglich herausgekommen, dass sich kein vollständiger Satz Abdrücke von allen zehn Fingern der Bestie in der Kartei befindet. Jetzt wird sie einen Vergleich latenter Fingerspuren anhand der mehr als zwei Millionen Abdrücke durchführen, die in der IAFIS-Datenbank gespeichert sind. Außerdem wird sie ihr Büro damit beauftragen, die latenten Spuren aus dem Schlafzimmer manuell mit denen von der Zeichnung zu vergleichen. Sie schließt eine Digitalkamera ans Okular des Imagers an und beginnt zu fotografieren.

Knapp fünf Minuten später – sie fotografiert gerade einen anderen Fingerabdruck, diesmal einen verwischten, an dem Teile von Wellendetails sichtbar sind – dringen die ersten menschlichen Stimmen leise durch die Kopfhörer. Sie erhöht die Lautstärke ein wenig, stellt die Empfindlichkeit ein und vergewissert sich, dass der Kassettenrecorder auch aufzeichnet, was sie zeitgleich mithört.

»Was machst du gerade?«, hallt Kates betrunkene Stimme laut und deutlich durch die Kopfhörer. »Ich kann heute nicht Tennis spielen«, lallt die Nachbarin. Ihr Gespräch wird gut verständlich von dem Sender übertragen, den Lucy in der Steckdose am Fenster angebracht hat.

Obwohl Kate sich im Fitnessraum befindet, sind keine Hintergrundgeräusche des Ellipsentrainers oder des Laufbands zu hören. Doch Lucy geht auch nicht davon aus, dass ihre Nachbarin im betrunkenen Zustand trainiert. Allerdings ist Kate wohl nicht zu betrunken, um zu spionieren. Wie vermutlich schon immer beobachtet sie Lucys Haus durch das Fenster, was an ihrer Stimme zu erkennen ist, weil sie offenbar nichts anderes zu tun hat, als ihren Mitmenschen nachzuschnüffeln und sich dabei zu betrinken.

»Nein, ich glaube, ich kriege eine Erkältung. Das hört man mir bestimmt an. Du hättest mich vorhin erleben sollen. Meine Nase ist total verstopft. Heute früh beim Aufstehen habe ich fürchterlich geklungen.«

Lucy starrt auf das rote Licht am Kassettenrecorder. Dann wandert ihr Blick zu dem Blatt Papier unter der Linse des Krimesite-Imagers. Die lilafarbenen Fingerspuren darauf sind groß genug für einen Mann, aber sie ist zu klug, um voreilige Schlüsse zu ziehen. Wichtig ist nur, dass überhaupt Abdrücke vorhanden sind, vorausgesetzt, sie stammen von der Bestie, die diese widerwärtige Zeichnung an die Tür geklebt hat, und angenommen, es handelt sich dabei wirklich um den Menschen, der versucht hat, Henri umzubringen. Lucy betrachtet seine lilafarbenen Hinterlassenschaften, seine Spuren, die Aminosäuren von seiner verschwitzten, fettigen Haut.

»Tja, ich habe jetzt einen Filmstar nebenan, was sagst da dazu?«, schrillt Kates Stimme in Lucys Ohren. »Ach, nein, Schätzchen, mich wundert das überhaupt nicht. Eigentlich habe ich mir das gleich gedacht. Das ständige Kommen und Gehen. Die schicken Autos und die schönen Menschen. Und dann das Haus, das ein Vermögen gekostet haben muss. Irgendwas zwischen acht und zehn Millionen bestimmt. Und dabei sieht es ziemlich gewöhnlich aus. Genau so, wie man es von Neureichen erwartet.«

Es ist der Bestie egal, ob sie Fingerabdrücke hinterlässt. Es kümmert sie einfach nicht. Lucy wird ganz flau zumute, weil es besser wäre, wenn er Interesse daran zeigen würde, denn das wäre ein Hinweis darauf, dass er aller Wahrscheinlichkeit nach vorbestraft ist. Offenbar sind seine Fingerabdrücke weder bei IAFIS noch sonst irgendwo registriert, und deshalb braucht sich das Schwein auch nicht den Kopf darüber zu zerbrechen. Er verlässt sich darauf, dass es nie zu einer Identifizierung kommen wird. Aber da hast du die Rechnung ohne mich gemacht, Freundchen, denkt Lucy. Und als sie die lilafarbenen Schmierer auf dem durch die Hitze gewellten Papier betrachtet, kann sie förmlich spüren, dass der widerwärtige Mensch ganz in der Nähe sein muss. Sie hat das Gefühl, dass er und Kate sie beide beobachten. Zorn kocht in Lucy hoch, irgendwo tief in ihr, wo er normalerweise schläft, bis etwas ihn aufweckt.

»Tina … Ist das zu fassen? Ihr Nachname ist einfach weg. Falls sie ihn mir überhaupt je verraten hat. Aber das hat sie bestimmt. Sie hat mir ja alles erzählt, über ihren Freund und über das Mädchen, das überfallen wurde und nach Hollywood zurückgekehrt ist …«

Lucy erhöht die Lautstärke. Die lilafarbenen Flecken auf dem Papier verschwimmen, als sie sie mit Blicken fixiert, während ihre Nachbarin über Henri spricht. Woher weiß sie, dass Henri überfallen wurde? Es kam nicht in den Nachrichten. Lucy hat Kate nur erzählt, dass sie von einem Mann verfolgt wird. Einen Überfall hat sie mit keiner Silbe erwähnt.

»Sie ist sehr hübsch, wirklich ganz reizend. Nettes Gesicht, gute Figur, sehr schlank. So sind sie ja alle in Hollywood. Aber seit in ihrem Haus eingebrochen wurde und die vielen Streifenwagen und der Krankenwagen aufgekreuzt sind, war sie kaum mehr hier.«