Der Krankenwagen, aber natürlich! Kate hat ihn gesehen und beobachtet, wie eine Trage aus dem Haus gebracht wurde. Daraus schließt sie selbstverständlich, dass Henri angegriffen wurde. Ich denke nicht mehr klar, sagt sich Lucy. Ich erkenne die Zusammenhänge nicht. Ihre Wut, Verbitterung und Panik wachsen. Was ist nur los mit mir?, fragt sie sich, während sie weiter lauscht und den Kassettenrecorder in dem Aktenkoffer betrachtet, der auf der Tischplatte neben dem Krimesite-Imager steht. Was zum Teufel stimmt nicht mit mir, schilt sie sich und erinnert sich an ihr leichtsinniges Verhalten, als der Latino ihren Ferrari verfolgt hat.
»Darüber habe ich mich auch gewundert. Kein Wort in den Nachrichten. Ich habe natürlich darauf geachtet, das kannst du mir glauben«, spricht Kate weiter. Ihre Artikulation klingt unsicher und verwaschen, weil sie inzwischen wieder ein paar Schlucke getrunken hat. »Ja, das möchte man meinen«, sagt sie mit Nachdruck, wodurch ihr Lallen noch mehr auffällt. »Es handelt sich um Filmstars, und nichts kommt in den Nachrichten! Aber genau darauf will ich ja hinaus: Sie sind heimlich hier, und deshalb wissen die Medien nichts davon. Tja, das klingt plausibel. Das muss die Erklärung sein, das sollte sogar dir einleuchten …«
»O mein Gott, sprich doch endlich über etwas Wichtiges«, stöhnt Lucy in den leeren Raum hinein.
Ich muss mich zusammenreißen, hält sie sich vor Augen. Lucy, reiß dich zusammen. Denk nach, denk nach, denk nach!
Sie nimmt die Kopfhörer ab und legt sie auf den Tisch. Dann blickt sie sich im Zimmer um, während der Kassettenrecorder weiterhin die Gesprächsbeiträge ihrer Nachbarin aufzeichnet. »Scheiße!«, ruft sie aus, als ihr klar wird, dass sie weder Kates Telefonnummer noch ihren Familiennamen kennt und weder Zeit noch Lust hat, beides herauszufinden. Wenn sie sie hätte, hieße das außerdem noch lange nicht, dass Kate auch ans Telefon gehen würde, wenn Lucy sie anriefe.
Sie setzt sich an einen anderen Schreibtisch vor einen Computer und entwirft zwei VIP-Karten für die Premiere ihres Films Sprung ins Dunkel am 6. Juni in Los Angeles. Anschließend findet eine Privatparty für das Ensemble und enge Freunde statt. Die Karten druckt sie auf glänzendem Fotopapier aus, schneidet sie zurecht und steckt sie in einen Umschlag, begleitet von einem Zettel, auf dem steht: »Liebe Kate, habe unser kleines Gespräch genossen! Es würde mich sehr freuen, wenn wir uns bei der Party in L.A. sehen könnten.« Dahinter notiert sie ihre Mobilfunknummer.
Lucy eilt nach draußen und hinüber zu Kates Haus, doch ihre Nachbarin geht weder an die Tür noch an die Gegensprechanlage. Vermutlich ist sie inzwischen voll bis oben hin und steht kurz vor der Bewusstlosigkeit. Lucy schiebt den Umschlag in Kates Briefkasten.
21
Inzwischen befindet sich Mrs. Paulsson im Badezimmer, das vom Flur abgeht, allerdings ohne zu wissen, wie sie dorthin gekommen ist.
Das Bad ist alt und seit den frühen fünfziger Jahren nicht mehr renoviert worden. Der Boden ist im Schachbrettmuster blauweiß gefliest, Waschbecken, Toilette und Wanne bestehen aus schlichtem weißem Porzellan, der Duschvorhang hat ein rosa- und lilafarbenes Blumenmuster. Gillys Zahnbürste steckt im Halter auf dem Waschbecken, die eingedrückte Tube Zahnpasta ist halb aufgebraucht.
Beim Anblick von Zahnbürste und Zahnpasta schluchzt Mrs. Paulsson noch heftiger. Auch das kalte Wasser, das sie sich ins Gesicht spritzt, nützt nichts. Es ist ihr unangenehm, dass sie es nicht schafft, sich zusammenzureißen, als sie das Bad wieder verlässt und in Gillys Zimmer zurückkehrt, wo Dr. Scarpetta aus Miami auf sie wartet. Marino war so nett, nicht weit vom Fußende des Bettes entfernt einen Stuhl für sie ins Zimmer zu stellen. Er schwitzt, obwohl es kühl im Raum ist. Sie bemerkt, dass das Fenster offen steht, aber sein Gesicht ist dennoch gerötet und mit Schweißperlen bedeckt.
»Nehmen Sie Platz«, sagt er zu ihr und lächelt. Dadurch wirkt er zwar nicht freundlicher, aber sie findet, dass er gut aussieht. Sie mag ihn. Warum, weiß sie nicht. Immer wenn sie ihn mustert oder in seine Nähe kommt, hat sie ein bestimmtes Gefühl. »Setzen Sie sich, Mrs. Paulsson, und versuchen Sie, sich zu entspannen.«
»Haben Sie das Fenster aufgemacht?«, fragt sie, nachdem sie Platz genommen und die Hände im Schoß verschränkt hat.
»Ich habe überlegt, ob es vielleicht offen war, als Sie vom Drugstore zurückkamen«, erwidert er. »War das Fenster offen oder zu, als Sie das Zimmer betraten?«
»Es wird häufig sehr warm hier. In diesem alten Haus ist es schwierig, die Temperatur zu regulieren.« Sie blickt Marino und Scarpetta an und kommt sich merkwürdig vor, wie sie so neben dem Bett sitzt und zu ihnen aufschaut. Es macht sie nervös und ängstlich, und sie fühlt sich unterlegen. »Gilly hat ständig das Fenster aufgerissen. Vielleicht war es offen, als ich nach Hause kam, ich versuche, mich zu erinnern.« Die Vorhänge bewegen sich. Die weißen Gazegardinen schweben geisterhaft in der beißend kalten Luft. »Ja«, meint sie schließlich. »Ich glaube, das Fenster könnte offen gewesen sein.«
»Wussten Sie, dass der Riegel kaputt ist?«, erkundigt sich Marino. Er steht völlig reglos da und betrachtet sie. Sie kann sich nicht an seinen Namen erinnern. Wie hieß er nochmal? Martini oder so?
»Nein«, antwortet sie, und eine eiskalte Hand legt sich um ihr Herz.
Scarpetta geht zum offenen Fenster und macht es mit ihrer weiß behandschuhten Hand zu. Dann schaut sie in den Garten hinaus.
»Um diese Jahreszeit ist er nicht sehr hübsch«, sagt Mrs. Paulsson mit klopfendem Herzen zu ihr. »Sie sollten ihn mal im Frühling sehen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, erwidert Scarpetta.
Sie hat etwas an sich, das Mrs. Paulsson faszinierend und gleichzeitig ein wenig beängstigend findet. Inzwischen macht ihr alles Angst. »Ich liebe Gartenarbeit. Und Sie?«
»Oh, ja.«
»Glauben Sie, dass jemand durch das Fenster eingestiegen ist?«, fragt Mrs. Paulsson und bemerkt plötzlich das schwarze Pulver auf dem Fensterbrett und am Rahmen. Auf der Innen- und Außenseite der Scheibe entdeckt sie noch mehr schwarzes Pulver und einige Spuren, die von Klebeband zu stammen scheinen.
»Ich habe einige Fingerabdrücke sichergestellt«, erklärt Marino. »Keine Ahnung, warum die Cops sich diese Mühe gespart haben, denn ich habe ein paar gefunden. Wir werden sehen, ob sie uns weiterbringen. Ich muss Ihnen die Fingerabdrücke abnehmen, um sie ausschließen zu können. Vermutlich hat die Polizei das noch nicht erledigt.«
Sie schüttelt verneinend den Kopf und starrt auf das Fenster und auf das schwarze Pulver, das überall verstreut ist.
»Wer wohnt denn hinter Ihrem Grundstück, Mrs. Paulsson?«, fragt Marino. »In dem alten Haus hinter dem Zaun?«
»Eine ältere Frau. Ich bin ihr schon seit einer Weile nicht mehr begegnet. Genau genommen seit einigen Jahren. Ich bin nicht einmal sicher, ob sie überhaupt noch dort lebt. Das letzte Mal habe ich vor etwa sechs Monaten jemanden im Haus gesehen. Ja, es muss vor sechs Monaten gewesen sein, weil ich gerade Tomaten gepflückt habe. Ich habe hinten am Zaun einen kleinen Gemüsegarten, und letzten Sommer gab es so viele Tomaten, dass ich gar nicht wusste, was ich damit anfangen soll. Jemand ist auf der anderen Seite des Zauns herumgelaufen. Was er dort gemacht hat, kann ich nicht sagen. Ich hatte den Eindruck, dass dieser Mensch nicht sehr freundlich ist. Nein, ich glaube eigentlich nicht, dass dort noch dieselbe alte Frau wohnt wie vor neun oder zehn Jahren. Sie war sehr alt und ist mittlerweile sicher schon gestorben.«
»Wissen Sie, ob die Polizei mit ihr gesprochen hat, vorausgesetzt, dass sie noch lebt?«, erkundigt sich Marino.
»Ich dachte, Sie sind die Polizei.«
»Wir gehören zu einer anderen Abteilung als die, die bis jetzt bei Ihnen waren, Ma’am. Einer ganz anderen.«
»Ich verstehe«, entgegnet sie, obwohl das nicht stimmt. »Tja, ich glaube, der Detective … Detective Brown …«