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»Browning«, korrigiert Marino, und sie bemerkt, dass er die Baseballkappe hinten in seinen Hosenbund geschoben hat. Sein Schädel ist rasiert, und sie stellt sich vor, wie es wäre, mit der Hand über seine glatte Kopfhaut zu streichen.

»Er hat mich nach den Nachbarn gefragt«, fährt sie fort. »Ich habe ihm erklärt, dass dort hinten eine alte Frau lebt oder gelebt hat und dass ich nicht sicher bin, ob das Haus noch bewohnt ist. Ja, ich glaube, so habe ich es ausgedrückt. Ich habe fast nie jemanden dort gehört, und durch die Ritzen im Zaun sieht man, dass der Rasen seit Ewigkeiten nicht mehr gemäht worden ist.«

»Sie kamen also vom Drugstore nach Hause«, kehrt Scarpetta zum ursprünglichen Thema zurück, um vielleicht doch noch ein bisher übersehenes, aber entscheidendes Detail ans Tageslicht zu befördern. »Und was geschah dann? Bitte versuchen Sie, es Schritt für Schritt zu erzählen, Mrs. Paulsson.«

»Ich habe meine Einkäufe in die Küche getragen und dann nach Gilly gesehen. Ich dachte, sie schläft.«

Nach einer Pause stellt Scarpetta eine andere Frage. Sie möchte wissen, woraus Mrs. Paulsson geschlossen habe, dass ihre Tochter schlief. In welcher Körperhaltung habe sie dagelegen? Die Fragen sind verwirrend, und jede schmerzt wie ein Krampf oder ein Zucken tief in Mrs. Paulssons Innerstem. Warum spielt das eine Rolle? Welcher Arzt stellt denn solche Fragen? Dr. Scarpetta ist eine attraktive Frau und strahlt Energie aus. Obwohl sie nicht massiv gebaut ist, macht sie in ihrem dunkelblauen Hosenanzug und der dunkelblauen Bluse, die ihr hübsches Gesicht schärfer wirken lässt und das kurze blonde Haar betont, einen Respekt einflößenden Eindruck. Ihre Hände sind kräftig, aber anmutig, und sie trägt keine Ringe an den Fingern. Mrs. Paulsson starrt auf Scarpettas Hände, stellt sich vor, wie sie sich an Gilly zu schaffen machen, und bricht wieder in Tränen aus.

»Ich habe sie umgedreht und versucht, sie zu wecken.« Sie hört sich unablässig dieselben Sätze wiederholen. Warum liegt dein Pyjama auf dem Boden, Gilly? Was ist passiert? O Gott!

»Beschreiben Sie, was Sie gesehen haben, als Sie den Raum betraten«, formuliert Scarpetta ihre Frage anders. »Ich weiß, dass das nicht leicht ist. Marino? Könntest du ihr bitte Papiertaschentücher und ein Glas Wasser holen?«

Wo ist Sweetie? O Gott, wo ist Sweetie? Doch nicht etwa wieder bei dir im Bett?

»Sie sah aus, als würde sie schlafen«, hört Mrs. Paulsson sich sagen.

»Auf dem Rücken? Oder auf dem Bauch? Wie lag sie im Bett? Bitte versuchen Sie sich zu erinnern. Ich weiß, dass es sehr, sehr schwer ist.«

»Sie schlief immer auf der Seite.«

»Lag sie auf der Seite, als Sie ins Zimmer kamen?«, hakt Scarpetta nach.

Ach herrje, Sweetie hat ins Bett gemacht. Sweetie? Wo bist du? Versteckst du dich unter dem Bett? Sweetie? Du warst schon wieder im Bett, stimmt’s? Das darfst du doch nicht! Irgendwann gebe ich dich noch mal ins Tierheim. Vor mir kannst du nichts verstecken!

»Nein«, schluchzt Mrs. Paulsson.

Gilly, bitte wach auf, bitte wach auf. Das kann nicht sein! Das kann nicht sein!

Scarpetta hockt neben ihrem Stuhl, blickt ihr in die Augen, hält ihre Hand und sagt etwas.

»Nein!« Mrs. Paulsson wird von Schluchzern geschüttelt. »Sie hatte nichts an. O mein Gott! Gilly hätte doch nie nackt dagelegen. Sie hat ja sogar zum Umziehen ihre Tür zugemacht.«

»Ist ja gut«, tröstet Scarpetta sie. Ihr Blick und ihre Berührung sind sanft. Keine Spur von Furcht ist in ihren Augen. »Holen Sie tief Luft. Versuchen Sie es. Tief einatmen. Ja. Sehr gut. Langsam und tief Luft holen.«

»O Gott, ist das ein Herzinfarkt?«, stößt Mrs. Paulsson in heller Angst hervor. »Sie haben mir mein kleines Mädchen weggenommen. Mein kleines Mädchen ist fort. Oh, wo ist mein kleines Mädchen?«

Marino erscheint mit einer Hand voll Papiertaschentüchern und einem Glas Wasser in der Tür. »Wer sind ›sie‹?«, fragt er.

»O nein, sie ist nicht an der Grippe gestorben, stimmt’s? O nein. O nein. Mein kleines Mädchen ist nicht an der Grippe gestorben. Sie haben sie mir weggenommen.«

»Wer sind ›sie‹?«, wiederholt er. »Glauben Sie, dass mehr als eine Person daran beteiligt war?« Er kommt ins Zimmer, und Scarpetta nimmt ihm das Glas ab.

Sie hilft Mrs. Paulsson, das Wasser in kleinen Schlucken zu trinken. »Sehr gut. Trinken Sie langsam. Tief durchatmen. Beruhigen Sie sich. Haben Sie jemand, der vorübergehend bei Ihnen wohnen kann? Ich möchte nicht, dass Sie zurzeit allein sind.«

»Wer ›sie‹ sind?« Mrs. Paulssons Stimme wird lauter, als sie Marinos Frage wiederholt. »Wer sie sind?« Als sie vom Stuhl aufstehen will, gehorchen ihr die Beine nicht; sie scheinen nicht mehr zu ihr zu gehören. »Ich will Ihnen sagen, wer sie sind.« Ihre Trauer verwandelt sich in eine Wut, die so übermächtig ist, dass sie ihr selbst Angst macht. »Die Leute, die er hierher eingeladen hat. Die meine ich. Fragen Sie doch Frank, wer sie sind. Er weiß es.«

22

Im kriminaltechnischen Labor hält der Forensiker Junius Eise einen Wolframfaden in die Flamme eines Bunsenbrenners.

Er ist stolz auf seine selbst gebastelten Werkzeuge, wie sie die Meister am Mikroskop schon seit Jahrhunderten anfertigen. Unter anderem ist es diese Fähigkeit, die ihn in seinen Augen als Puristen und Renaissancemenschen sowie als Liebhaber der Wissenschaft, Geschichte, Ästhetik und schöner Frauen qualifiziert.

Er hält das kurze Stück starren, feinen Drahtes mit einer Zange fest, sieht zu, wie das gräuliche Metall sich rasch leuchtend rot färbt, und stellt sich vor, dass es von Zorn oder Leidenschaft ergriffen wurde. Nachdem er den Draht aus der Flamme genommen hat, wälzt er die Spitze in Sodiumnitrit, wodurch das Wolfram oxidiert und geschärft wird. Ein kurzes Eintauchen in eine Petrischale mit Wasser, und das spitz zulaufende Drahtstück kühlt mit einem Zischen ab.

Er befestigt den Draht in einem Nadelhalter aus Edelstahl und weiß dabei genau, dass er dieses Werkzeug nur angefertigt hat, um Zeit zu gewinnen, sich eine Weile zurückzuziehen, sich auf etwas anderes zu konzentrieren und sich wenigstens vorübergehend einzureden, dass er alles im Griff hat. Er späht durch die Binokularlinsen seines Mikroskops. Das Chaos und Durcheinander sind unverändert geblieben, nur mit dem Unterschied, dass sie nun um das Fünfzigfache vergrößert sind.

»Ich verstehe das nicht«, sagt er zu sich selbst.

Mit seinem neuen Wolframwerkzeug schiebt er die Lack- und Glaspartikel hin und her; diese wurden an der Leiche eines Mannes sichergestellt, der vor wenigen Stunden von seinem eigenen Traktor zermalmt worden ist. Man müsste schon einen Dachschaden haben, um nicht mitzukriegen, dass der Chefpathologe mit einer Klage von Seiten der Familie des Mannes rechnet. Ansonsten wären derartige Spuren bei einem Unfall, noch dazu einem aus grober Fahrlässigkeit, nämlich nicht von Bedeutung. Das Problem ist nur, dass man, wenn man sucht, manchmal auch etwas findet, und jetzt ist Eise auf etwas gestoßen, das für ihn einfach keinen Sinn ergibt. In Augenblicken wie diesem denkt er stets daran, dass er schon dreiundsechzig ist – vor zwei Jahren hätte in Rente gehen können – und wiederholt eine Beförderung zum Leiter der kriminaltechnischen Abteilung ausgeschlagen hat, da er sich nur am Mikroskop zu Hause fühlt. Er braucht weder Haushaltsplanung noch Personalfragen für sein Lebensglück, und außerdem ist sein Verhältnis zum Chefpathologen so miserabel wie nie zuvor.

Im konzentrierten Lichtkegel des Mikroskops schiebt er mit seinem neuen Wolframwerkzeug Lack- und Glaspartikel auf einem trockenen Objektträger hin und her. Sie sind mit einer anderen Substanz vermischt, einem graubraunen und merkwürdigen Staub, den er noch nie gesehen hat – mit einer wichtigen Ausnahme. Vor zwei Wochen ist er schon einmal auf diesen Staub gestoßen, und zwar in einem ganz anderen Fall, denn er geht davon aus, dass der plötzliche und geheimnisvolle Tod eines vierzehnjährigen Mädchens nichts mit dem Unfall dieses Traktorfahrers zu tun haben kann.

Eise blinzelt, und sein Oberkörper erstarrt. Die Lackpartikel sind etwa so groß wie Schuppen und rot, weiß und blau. Sie stammen nicht von einem Fahrzeug oder gar von einem Traktor, so viel steht fest. Allerdings würde er beim Unfalltod des Traktorfahrers namens Theodore Whitby auch nicht von Autolack ausgehen. Die Lackpartikel und der seltsame graubraune Staub wurden in einer Risswunde im Gesicht des Toten gefunden. Ähnliche, wenn nicht sogar identische Lacksplitter sowie graubraunen Staub hat man in der Mundhöhle der Vierzehnjährigen sichergestellt, hauptsächlich auf ihrer Zunge. Der eigenartige Staub ist es, der Eise am meisten zu schaffen macht, denn so etwas ist ihm noch nie untergekommen. Die Partikel haben eine unregelmäßige Form und sind verkrustet wie getrockneter Schlamm. Aber es ist kein Schlamm. Diese Staubpartikel weisen Risse, Blasen und glatte Stellen auf und haben dünne, transparente Ränder wie die Oberfläche eines ausgedörrten Planeten. Manche zeigen sogar Löcher.