»Was zum Teufel ist das?«, fragt er sich. »Ich habe keine Ahnung, was das sein soll. Und wie kann dieses komische Zeug in zwei Fällen auftreten, zwischen denen unmöglich ein Zusammenhang besteht? Was ist hier nur los?«
Er nimmt eine Pinzette mit nadelspitzen Enden und entfernt vorsichtig einige Baumwollfasern von den Partikeln auf dem Objektträger. Als Licht durch die Linsen des Mikroskops fällt, wirkt die Ansammlung vergrößerter Fasern wie verdrehte weiße Fadenstückchen.
»Ich kann gar nicht sagen, wie sehr ich Wattestäbchen hasse!«, ruft er durch das mehr oder weniger leere Labor. »Wisst ihr, wie furchtbar Wattestäbchen nerven können?«, fragt er in den großen eckigen Raum voller schwarzer Arbeitsflächen, Absaughauben, Arbeitsplätze, Mikroskope und anderer Gegenstände aus Glas und Metall und Chemikalien hinein, die in seinem Beruf von Nöten sind.
Die meisten Mitarbeiter befinden sich nicht an ihrem Platz, sondern in anderen Labors auf dieser Etage, wo sie sich mit Atomabsorption, Gaschromatographie, Massenspektroskopie, der Untersuchung von Kristallstrukturen durch gebrochene Röntgenstrahlung, dem Fourier-Transform-Infrarot-Spektrophometer, dem Elektronenmikroskop oder SEM/Energiestreuungs-Röntgenspektrometer und anderen Gerätschaften beschäftigen. In einer Welt, die von einem endlosen Rückstau unerledigter Arbeiten sowie knappen Budgets bestimmt wird, nehmen Wissenschaftler, was sie kriegen können, stürzen sich auf technische Apparaturen wie auf Pferde und reiten sie, bis sie den Geist aufgeben.
»Es ist allgemein bekannt, wie sehr Sie Wattestäbchen hassen«, meint Kit Thompson, Eises momentane Laborkollegin.
»Aus all den Baumwollfasern, die ich im Laufe meines kurzen Lebens gesammelt habe, könnte ich inzwischen eine riesige Decke weben«, erwidert er.
»Warum tun Sie das nicht? Das würde ich schon lange gern mal sehen.«
Eise greift nach der nächsten Faser. Sie sind nicht leicht zu erwischen. Immer wenn er die Pinzette oder die Wolframnadel bewegt, lässt ein leichter Lufthauch die Faser verrutschen. Er stellt die Schärfe ein und verringert die Vergrößerung auf das Vierzigfache, damit er besser sieht. Mit angehaltenem Atem starrt er in den hellen Lichtkreis und versucht herauszufinden, was ihm der zu sagen hat. Welches physikalische Gesetz zwingt eine von einem Luftzug aufgescheuchte Faser, sich von einem wegzubewegen, als wäre sie lebendig und auf der Flucht? Warum wird die Faser nicht stattdessen herangeweht, sodass man sie besser einfangen kann?
Als er die Linse des Objektivs noch ein paar Millimeter zurückdreht, ragen die Enden der Pinzette riesengroß in sein Gesichtsfeld. Der Lichtkreis lässt ihn an eine hell erleuchtete Zirkusmanege denken. Kurz sieht er dressierte Elefanten und Clowns in einem Licht, das so hell ist, dass es ihm in den Augen schmerzt. Er erinnert sich, dass er in hölzernen Bankreihen gesessen und zugesehen hat, wie rosafarbene Zuckerwattewolken vorbeischwebten. Vorsichtig nimmt er die nächste Baumwollfaser, hebt sie vom Objektträger und lässt sie in eine kleine durchsichtige Plastiktüte fallen. Diese ist bereits mit weiteren fasrigen Abfällen gefüllt, bei denen es sich eindeutig um Verunreinigungen der Marke Q-Tips handelt, die als Beweismittel nicht viel hergeben.
Dr. Marcus ist der schlimmste Chaot von allen. Welches Problem hat dieser Mensch nur, zum Teufel? Eise hat ihm schon unzählige Aktennotizen geschickt, in denen er ihn angefleht hat, seine Mitarbeiter Spuren mit Klebebändern abnehmen zu lassen und – bitte, bitte – keine Wattestäbchen zu verwenden, da diese aus Milliarden von Fasern bestehen, die leichter sind als die Küsse von Engeln und sich mit den Beweisen vermischen.
Wie die Haare einer weißen Angorakatze auf einer schwarzen Samthose, hat er vor ein paar Monaten an Dr. Marcus geschrieben. So als wollte man den Pfeffer aus einer Portion Kartoffelpüree pflücken oder den Kaffeeweißer wieder aus dem Kaffee entfernen. Und noch ein paar der bemühten Sprachbilder und Übertreibungen mehr.
»Letzte Woche habe ich ihm zwei Rollen Klebeband mit geringer Haftkraft geschickt«, sagt Eise. »Und wieder ein Paket Post-Its, auf denen ich ihn daran erinnert habe, dass diese Klebebänder sich ausgezeichnet dazu eignen, Haare und Fasern von Gegenständen abzunehmen, da sie die Beweisstücke weder zerbrechen noch verdrehen und sie vor allem nicht mit Baumwollfasern zudecken. Ganz zu schweigen davon, dass sie bei der Untersuchung mit gebrochenen Röntgenstrahlen nicht stören und die übrigen Ergebnisse nicht verzerren. Schließlich sitzen wir nicht aus Jux und Dollerei tagelang hier herum, um die Fasern wieder aus den Proben herauszuklauben.«
Stirnrunzelnd schraubt Kit eine Flasche Permount-Fixierflüssigkeit auf. »Den Pfeffer aus dem Kartoffelpüree pflücken? Sie haben Dr. Marcus Post-Its geschickt?«
Wenn die Pferde mit Eise durchgehen, sagt er genau das, was er denkt. Er bemerkt nicht immer – und vermutlich ist es ihm auch egal –, dass ihm das, was ihm gerade eingefallen ist, für alle gut hörbar über die Lippen kommt. »Ich will nur darauf hinaus«, sagt er, »dass Dr. Marcus, oder wer auch immer die Mundhöhle des kleinen Mädchens untersucht hat, diese gründlich mit Wattestäbchen ausgewischt hat. Aber bei der Zunge war das wirklich überflüssig. Die Zunge hat er doch rausgeschnitten, richtig? Sie lag direkt vor ihm auf dem Schneidebrett, und er konnte deutlich sehen, dass sich Spuren darauf befinden. Also hätte er Klebeband benützen können. Aber nein, es mussten natürlich wieder Q-Tips sein, und jetzt kann ich meinen Tag damit zubringen, Baumwollfasern auszusortieren.«
Wenn ein Mensch – insbesondere ein Kind – auf eine Zunge auf einem Schneidebrett reduziert wurde, wird er namenlos. So ist es nun einmal. Man sagt eben nicht, man habe die Hand in Gilly Paulssons Hals gesteckt, mit einem Skalpell das Gewebe zurückgeschlagen, die Organe aus ihrer Kehle entfernt und ihr die Zunge aus dem Mund gerissen. Man würde ja auch niemals sagen, man habe eine Nadel in das linke Auge des kleinen Timmy gestochen, um Glaskörperflüssigkeit für toxikologische Tests zu entnehmen. Oder man habe Mrs. Jones die Schädeldecke aufgesägt, ihr Gehirn entnommen und ein aufgeplatztes Aneurysma entdeckt. Oder es seien zwei Ärzte nötig gewesen, um Mr. Fords Kiefermuskeln zu durchtrennen, da die Leichenstarre bereits eingetreten und der Tote sehr muskulös gewesen sei, sodass man seinen Mund einfach nicht aufkriegte.
Dieser Augenblick der Erkenntnis zieht rasch über Eises Gedanken hinweg wie der Schatten des Totenvogels. So nennt er es zumindest. Wenn er dann aufblickt, ist nichts zu sehen, da ist nur dieses Gefühl. Weiter will er sich auf derartige Gedanken nicht einlassen, denn wenn das Leben eines Menschen erst einmal zerstückelt worden ist und in Form von Proben unter seinem Mikroskop landet, ist es nicht ratsam, zu gründlich Ausschau nach dem Totenvogel zu halten. Sein Schatten allein ist schon mehr, als ein Mensch ertragen kann.
»Ich dachte, Dr. Marcus wäre zu beschäftigt und ein viel zu wichtiger Mann, um selbst Autopsien durchzuführen«, meint Kit. »Ich kann die Male, die ich ihn hier zu Gesicht bekommen habe, an einer Hand abzählen.«