»Das spielt keine Rolle. Er ist der Vorgesetzte und bestimmt die Regeln. Außerdem ist er derjenige, der die Bestellformulare für Q-Tips oder die Billigversion dieser Dinger abzeichnet. Also ist er in meinen Augen der Alleinschuldige.«
»Tja, ich glaube nicht, dass er das Mädchen obduziert hat. Auch nicht den Traktorfahrer, der bei dem alten Gebäude umgekommen ist«, erwidert Kit. »Mit so was würde der sich nie die Hände schmutzig machen. Er spielt lieber den Boss und kommandiert alle herum.«
»Haben Sie noch genug Eise-Nadeln?«, fragt Eise, während seine schlanke Hand rasch und sicher mit der Wolframnadel hantiert.
Das Anfertigen seiner Wolframnadeln geschieht bei ihm in zwanghaften Schüben, worauf die Gerätschaften dann wie durch Zauberhand auf den Schreibtischen seiner Kollegen landen.
»Eine neue Eise-Nadel ist nie zu verachten«, antwortet Kit wenig begeistert, als ob sie eigentlich gar keine möchte. Doch in seiner Phantasie ziert sie sich nur, weil sie ihm keine Umstände machen möchte. »Wissen Sie was? Ich werde dieses Haar nicht dauerhaft konservieren.« Sie schraubt die Permount-Flasche wieder zu.
»Wie viele haben Sie von dem kranken Mädchen?«
»Drei«, erwidert Kit. »Bei meinem Glück wird das DNS-Labor nämlich beschließen, dass es die Haare doch braucht, obwohl letzte Woche kein großes Interesse daran bestand. Also lasse ich dieses Haar und die anderen erst mal in Ruhe. Zurzeit führen sich alle auf wie die Verrückten. Jessie war in einem Schaberaum, als ich ankam. Sie waren dort mit der Bettwäsche zugange. Offenbar sucht das DNS-Labor nach etwas, das man beim ersten Mal nicht gefunden hat, und Jessie hätte mir fast den Kopf abgerissen, als ich gewagt habe zu fragen, was da los ist. Jedenfalls ist etwas Merkwürdiges im Busch. Wie wir beide wissen, haben sie die Bettwäsche vor einer Woche schon einmal im Schaberaum untersucht. Woher, glauben Sie, habe ich denn diese Haare? Komisch. Ob es an der Vorweihnachtszeit liegt? Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, mir Gedanken über Geschenke zu machen.«
Sie schiebt eine Pinzette mit nadelfeiner Spitze in einen kleinen Asservatenbeutel aus Plastik und holt ein weiteres Haar heraus. Aus Eises Perspektive ist es fünfzehn bis achtzehn Zentimeter lang, schwarz und lockig. Er sieht zu, wie Kit es auf einem Objektträger arrangiert, einen Tropfen Xylol und ein Abdeckplättchen darauf gibt und so ein schwereloses, kaum zu sehendes Beweisstück, sichergestellt in der Bettwäsche eines toten Mädchens, das Farbpartikel und einen seltsamen graubraunen Staub im Mund hatte, in eine Probe für das Mikroskop verwandelt.
»Tja, Dr. Marcus ist eben nicht Dr. Scarpetta«, sagt Kit.
»Sie haben nur fünf Jahre gebraucht, um dahinterzukommen? Zuerst dachten Sie bestimmt, Dr. Scarpetta hat sich komplett ummodeln lassen und sich in das kleine verhuschte Männlein verwandelt, das inzwischen hier den Chef spielt. Inzwischen hatten Sie ein Aha-Erlebnis und haben bemerkt, dass es sich um zwei völlig unterschiedliche Personen handelt. Und das ohne DNS-Test. Alle Achtung, Mädchen. Bei so viel Grips sollten Sie eigentlich Ihre eigene Show im Fernsehen haben.«
»Spinner«, sagt Kit und muss so heftig lachen, dass sie vom Mikroskop zurückweicht, weil sie befürchtet, durch zu heftiges Atmen die Beweisstücke wegzupusten.
»Ich habe zu viele Jahre lang Xylol eingeatmet, Schätzchen. Und jetzt habe ich Persönlichkeitskrebs.«
»O Gott«, keucht sie lachend und schnappt nach Luft. »Ich wollte damit nur sagen, dass Sie keine Baumwollfasern aus Ihren Proben klauben müssten, wenn Dr. Scarpetta diesen Fall oder die anderen bearbeitet hätte. Wissen Sie eigentlich, dass sie hier ist?
Sie wurde wegen des toten Mädchens gerufen, der kleinen Paulsson. So wird wenigstens gemunkelt.«
»Das soll wohl ein Witz sein.« Eise traut seinen Ohren nicht.
»Wenn Sie abends nicht immer als Erster nach Hause gehen würden und nicht so ein Eigenbrötler wären, würden Sie vielleicht auch mal ein paar Gerüchte mitkriegen«, erwidert sie.
Es stimmt zwar, dass Eise nicht zu den Menschen gehört, die sich nach fünf Uhr nachmittags noch im Labor herumdrücken, doch dafür ist er morgens auch der Erste, der dort erscheint, und kommt selten später als Viertel nach sechs. »Ich hätte gedacht, dass Dr. Großkotz die Letzte wäre, die man wegen irgendwas hinzuzieht.«
»Dr. Großkotz? Wo haben Sie denn das her?«
»Erdnussgalerie.«
»Offenbar kennen Sie sie nicht, sonst würden Sie sie nicht so nennen.« Kit legt die Probe unter das Mikroskop. »Ich würde sie sofort um Rat fragen, und zwar ohne erst zwei Wochen zu warten. Dieses Haar ist schwarz gefärbt, genau wie die beiden anderen. Mist. Damit kann ich sowieso nichts anfangen. Es sind keine Pigmente zu erkennen, und an der Oberfläche haftet offenbar irgendeine Kurspülung gegen krauses Haar. Ich wette, sie werden sich für einen Mitochondrien-Test entscheiden. Die von der DNS werden meine drei kostbaren Haare ins allmächtige Labor in Bode schicken. Warten Sie’s ab. Wirklich seltsam. Vielleicht hat Dr. Scarpetta ja herausgefunden, dass das arme kleine Mädchen ermordet worden ist. Das könnte dahinterstecken.«
»Dann fixieren Sie die Haare besser nicht«, meint Eise. Früher war die DNS-Untersuchung nichts weiter als ein Zweig der forensischen Wissenschaft. Inzwischen jedoch ist sie die Silberkugel, der Blockbuster, der Superstar und heimst alles Geld und allen Ruhm ein.
»Keine Sorge«, erwidert Kit und blickt in ihr Mikroskop. »Keine Demarkationslinie, das ist aber interessant. Und außerdem ungewöhnlich bei gefärbtem Haar. Das heißt nämlich, dass das Haar nach dem Färben noch keinen Bruchteil eines Millimeters nachgewachsen war.« Sie schiebt den Objektträger unter der Linse herum.
Eise beobachtet sie neugierig. »Keine Wurzel? Ausgefallen, ausgerissen, abgebrochen, eingeklemmt, mit dem Lockenstab beschädigt, versengt, abgeschnitten, gespaltene Spitzen? Oder abgezwickt, glatt oder spitz zulaufend? Los, Mädchen, raus mit der Sprache«, sagt er.
»Eindeutig sauber. Keine Wurzel. Spitz zulaufend abgeschnitten. Alle drei Haare sind schwarz gefärbt und haben keine Wurzel, und das ist komisch. Bei allen dreien, nicht nur bei einem, wurden beide Enden abgeschnitten. Nicht an der Wurzel ausgerissen oder abgebrochen. Diese Haare sind nicht einfach ausgefallen. Sie wurden abgeschnitten. Und jetzt verraten Sie mir mal, warum ein Haar an beiden Seiten abgeschnitten ist.«
»Vielleicht kam der Betreffende gerade vom Friseur. Die abgeschnittenen Haare könnten sich auch auf seiner Kleidung, zwischen den restlichen Haaren auf dem Kopf, auf dem Teppich oder sonst irgendwo befunden haben.«
Kit runzelt die Stirn. »Wenn Dr. Scarpetta im Haus ist, würde ich sie gerne sehen. Nur um mal hallo zu sagen. Ich fand es sehr schade, dass sie gegangen ist. Dr. Marcus, dieser Blödmann … ›Ich fühle mich gar nicht wohl. Heute beim Aufwachen hatte ich Kopfschmerzen, und jetzt tun mir die Gelenke weh.‹«
»Möglicherweise will sie ja nach Richmond zurückkommen«, mutmaßt Eise. »Ob sie deshalb hier ist? Zumindest hat sie die Proben, die sie uns geschickt hat, nie falsch beschriftet, und wir wussten genau, wo sie hingehörten. Sie hatte nichts dagegen, die Fälle zu erörtern, und ist zu uns gekommen, anstatt uns wie Fertigungsroboter bei General Motors zu behandeln und so zu tun, als könnten wir ihr alle nicht das Wasser reichen. Außerdem hat sie nicht sämtliche Spuren mit Wattefusseln zugedeckt, wenn sie sie auch mit Klebeband, Post-Its oder wie wir es sonst empfohlen haben, abnehmen konnte. Vermutlich haben Sie Recht. Offenbar irrt die Erdnussgalerie.«
»Was zum Teufel ist eine Erdnussgalerie?«
»Keine Ahnung.«
»Es ist absolut keine Rindenstruktur zu sehen«, meint Kit, während sie das vergrößerte schwarz gefärbte Haar betrachtet, das im Lichtkreis so groß wie ein dunkler Baum im Winter wirkt. »Als hätte es jemand in schwarze Tinte getaucht. Keine Demarkationslinie zu erkennen. Also wurde es entweder erst vor kurzem gefärbt oder unterhalb der nachgewachsenen ungefärbten Wurzel abgeschnitten.«
Während sie den Objektträger herumschiebt und Schärfe und Vergrößerungsstufe einstellt, macht sie sich Notizen und versucht, dem gefärbten Haar Informationen zu entlocken. Doch es schweigt beharrlich. Die unverwechselbaren Eigenschaften der Pigmente in der obersten Schicht wurden durch die Farbe verdeckt wie bei einem mit Tinte übermalten Fingerabdruck, bei dem keine Wellen mehr sichtbar sind. Gefärbtes, gebleichtes, dauergewelltes oder graues Haar, mit dem die Hälfte der Bevölkerung herumläuft, ist unter dem Mikroskop wenig aufschlussreich. Allerdings erwarten Geschworene heutzutage, dass ihnen ein Haar die Frage nach dem Wer, Was, Wann, Wo, Warum und Wie beantwortet.