Was die Unterhaltungsindustrie aus seinem Beruf gemacht hat, ärgert Eise. Von Leuten, die er kennen lernt, hört er immer wieder, wie sehr sie ihn um seinen aufregenden Beruf beneiden, obwohl er alles andere als spannend ist. Eise sucht weder Tatorte auf, noch trägt er eine Waffe. Das hat er noch nie getan. Er bekommt auch keine geheimnisvollen Anrufe, worauf er in einen High-Tech-Schutzanzug springt und in einem Spurensicherungs-Geländefahrzeug losbraust, um nach Fasern, Fingerabdrücken, DNS oder Marsmännchen zu suchen. So etwas ist die Aufgabe von Polizisten und Spurensicherungsexperten, forensischen Pathologen und Ermittlern. In der guten alten Zeit, als das Leben noch einfach war und forensische Wissenschaftler von der Öffentlichkeit in Ruhe gelassen wurden, fuhren Detectives von der Mordkommission wie Pete Marino in ihren schrottreifen Klapperkisten zum Tatort, sammelten eigenhändig die Beweise ein und wussten, was sie mitnehmen mussten und was sie getrost liegen lassen konnten.
Es ist überflüssig, einen ganzen gottverdammten Parkplatz zu staubsaugen. Man braucht auch nicht das gesamte Schlafzimmer einer armen Frau in Zweihundert-Liter-Müllsäcken abzutransportieren und den ganzen Mist hierher zu schaffen. Das ist, als würde ein Goldsucher das Flussbett mit nach Hause nehmen, anstatt es zuerst sorgfältig zu durchsieben. Allerdings gibt es auch andere, tiefer liegende Probleme, weshalb Eise immer wieder mit dem Gedanken spielt, in Rente zu gehen. Er hat keine Zeit für die Forschung oder auch nur ein bisschen Spaß und wird ständig mit Papierkram drangsaliert, der ebenso fehlerfrei erledigt werden will wie seine Analysen. Er leidet an Augenschmerzen und Schlaflosigkeit. Nur selten erntet er Dank oder Lob, wenn ein Fall aufgeklärt worden ist und der Schuldige bekommt, was er verdient. In was für einer Welt leben wir nur? Und es ist eindeutig schlimmer geworden.
»Wenn Sie Dr. Scarpetta treffen«, meint Eise, »erkundigen Sie sich nach Marino. Wir beide haben uns oft nett unterhalten, wenn er herkam, und im Polizeiclub ein paar Bierchen getrunken.«
»Er ist auch dabei«, antwortet Kit. »Er begleitet sie … Ich fühle mich wirklich ein bisschen komisch. So ein Kitzeln im Hals, und ich habe Schmerzen. Hoffentlich kriege ich keine bescheuerte Grippe.«
»Er ist hier? Du heiliger Strohsack! Dann werde ich den alten Jungen gleich mal anrufen. Das ist ja große Klasse. Also arbeitet er auch an dem toten Mädchen.«
So wird Gilly Paulsson inzwischen genannt, wenn man überhaupt irgendeine Bezeichnung für sie verwendet. Es ist leichter, nicht den wirklichen Namen zu benutzen, vorausgesetzt, dass man sich an ihn erinnert. Opfer werden zu dem, wo man sie gefunden hat oder was ihnen angetan wurde. Die Kofferfrau. Die Kloakenfrau. Das Müllhaldenbaby. Der Rattenmann. Der Isolierbandmann. Was die Geburtsnamen dieser Menschen betrifft, hat Eise zumeist keine Ahnung. Und das ist ihm auch lieber so.
»Falls Scarpetta eine Theorie hat, warum im Mund des toten Mädchens roter, weißer und blauer Lack und dieser merkwürdige Staub gefunden wurde, würde ich die gerne hören«, sagt er. »Offenbar handelt es sich um rot, weiß und blau lackiertes Metall.
Aber es ist auch unlackiertes Metall dabei, kleine schimmernde Splitter. Und noch etwas, von dem ich nicht sagen kann, was es ist.« Wie unter Zwang schiebt er das Material auf dem Objektträger herum. »Als Nächstes führe ich eine Untersuchung mit dem Spektrometer durch, um festzustellen, mit was für einem Metall wir es zu tun haben. Gab es im Haus des toten Mädchens irgendwas Rot-Weiß-Blaues? Ich glaube, ich mache mich mal auf die Suche nach dem alten Marino und geb ihm ein paar kühle Bierchen aus. Junge, ich könnte selbst auch einen Schluck gebrauchen.«
»Reden Sie nicht von Bier«, meint Kit. »Mir ist wirklich nicht gut. Ich weiß, dass wir uns an den Abstrichen und den Klebestreifen nicht anstecken können, aber manchmal, wenn sie den Mist vom Leichenschauhaus hochschicken, kommen mir trotzdem Zweifel.«
»Quatsch. All die klitzekleinen Bakterien sind mausetot, wenn sie bei uns landen«, erwidert Eise und sieht sie an. »Wenn Sie genau hinschauen, werden Sie merken, dass sie winzige Zettelchen am großen Zeh haben … Sie sehen tatsächlich blass aus, Mädchen.« Er nimmt ihren plötzlichen Anfall von Unwohlsein nur ungern ernst, denn ohne Kit ist es einsam hier oben. Aber sie fühlt sich offenbar krank, und es wäre nicht richtig von ihm, das zu ignorieren. »Warum machen Sie keine Pause, Mädchen? Haben Sie sich eigentlich gegen Grippe impfen lassen? Als ich mich endlich dazu aufgerafft hatte, war ihnen der Impfstoff ausgegangen.«
»Bei mir war’s genauso. Ich habe nirgendwo mehr einen Termin gekriegt«, antwortet sie und steht auf. »Ich glaube, ich koche mir mal einen heißen Tee.«
23
Lucy ist schlecht im Delegieren. Sosehr sie sich auch auf Rudy verlässt, vertraut sie ihm in letzter Zeit nur noch ungern ihre Arbeit an, und zwar wegen Henri und seiner Abneigung gegen sie. Deshalb sieht sie das ausgedruckte Ergebnis ihrer IAFIS-Recherche selbst durch, während sie in ihrem Büro sitzt und, die Kopfhörer auf dem Kopf, die Mitschnitte der banalen Telefonate ihrer Nachbarin Kate abhört. Es ist früh am Donnerstagmorgen.
Gestern am späten Abend hat Kate sie zurückgerufen und eine Nachricht auf dem Mobiltelefon hinterlassen. »Umarmung und Küsschen wegen der Karten«, und: »Wer ist die Poolpflegerin? Jemand Berühmtes?« Lucy hat eine Poolpflegerin, die nicht berühmt, sondern eine Brünette über Fünfzig ist, die viel zu zierlich wirkt, um einen Kescher zu schwingen; Lucys Pechsträhne reißt auch bei ihrer IAFIS-Recherche nicht ab, denn diese hat keinen plausiblen Kandidaten zutage gefördert, was heißt, dass die automatische Suche vergeblich war. Latente Fingerabdrücke mit latenten Fingerabdrücken zu vergleichen, ist ein Glücksspiel, insbesondere dann, wenn einige davon nur teilweise vorhanden sind.
Jeder der zehn Fingerabdrücke eines Menschen ist unverwechselbar. So stimmt zum Beispiel der Abdruck vom linken Daumen einer Person nicht mit dem ihres rechten überein. Deshalb kann IAFIS bei einer unbekannten latenten Spur nur einen Treffer landen, wenn der Täter einen Abdruck seines rechten Daumens an dem einen Tatort und eine Spur desselben Fingers an einem anderen hinterlassen hat und beide Abdrücke in die Datenbank eingegeben wurden. Hinzu kommt, dass die beiden Abdrücke entweder vollständig sein oder denselben Wellenausschnitt zeigen müssen.
Bei einem manuellen oder visuellen Vergleich hingegen sieht die Sache schon ganz anders aus, und Lucy beginnt wieder Hoffnung zu schöpfen. Manche der latenten Teilabdrücke, die sie von der Zeichnung abgenommen hat, stimmen mit einigen Spuren überein, die sie nach dem Überfall auf Henri im Schlafzimmer sicherstellen konnte. Das erstaunt Lucy zwar nicht weiter, aber sie freut sich dennoch, dass sie nun die Bestätigung hat. Dieselbe Person ist in ihr Haus eingedrungen, hat die Zeichnung von dem Auge hinterlassen und den schwarzen Ferrari zerkratzt, obwohl am Auto keine Fingerabdrücke gefunden wurden. Doch wie viele Mistkerle gibt es schon, die herumlaufen und Augen zeichnen? Also muss er es gewesen sein, obwohl die Übereinstimmungen Lucy nichts über seine Identität verraten. Sie weiß nur, dass ein und derselbe Mensch ihr all diese Schwierigkeiten bereitet und dass seine Fingerabdrücke weder bei IAFIS noch offenbar sonst irgendwo gespeichert sind. Anscheinend verfolgt er Henri immer noch und ahnt nicht, dass sie inzwischen weit weg ist. Oder er nimmt an, dass sie zurückkommt oder zumindest von seiner letzten Aktion erfährt.