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»Aber er ist gefährlich«, gibt Lucy, immer noch im selben Tonfall, zurück. »Wenn man einen Verlierer wie ihn auf so einen Posten setzt, muss das zu Problemen führen. Gütiger Himmel! Wer hat ihn denn bloß eingestellt? Und warum? Ich wage gar nicht, mir auszumalen, wie sehr er dich wohl hasst.«

»Ich möchte nicht darüber reden.«

»Die Gouverneurin ist doch eine Frau«, fährt Lucy fort. »Warum um alles in der Welt ernennt eine Frau so eine Flasche?«

»Ich möchte nicht darüber reden.«

»Natürlich wird die Entscheidung meistens nicht von den Politikern getroffen. Sie unterschreiben nur die Papiere, und sie hatte vermutlich Wichtigeres im Kopf.«

»Hast du mich angerufen, nur um mich aufzuregen? Warum tust du das? Bitte lass es. Ich habe so schon genug Ärger.«

Lucy schweigt.

»Lucy? Bist du noch dran?«, fragt Scarpetta.

»Ja.«

»Ich kann Telefone nicht ausstehen«, sagt Scarpetta. »Ich habe dich seit September nicht gesehen, und ich glaube langsam, du gehst mir aus dem Weg.«

24

Er sitzt, die aufgeschlagene Zeitung auf dem Schoß, in seinem Wohnzimmer, als er die Müllabfuhr hört.

Der Motor weist das typische Dieseltuckern auf, und wenn der Müllwagen am Ende der Auffahrt hält, kommt zu dem brummenden Vibrieren noch das Surren der hydraulischen Hebevorrichtung hinzu. Mülltonnen stoßen krachend an die Metallverkleidung des riesigen Müllwagens. Dann knallen die Müllmänner die leeren Tonnen schlampig wieder in die Einfahrt, und der Lastwagen rumpelt weiter die Straße entlang.

Dr. Marcus sitzt in dem riesigen Ledersessel in seinem Wohnzimmer. Ihm ist schwindelig, er ringt nach Atem, und sein Herz klopft vor Angst, während er abwartet. In Westham Green, gleich westlich von Henrico County, einem von Angehörigen der oberen Mittelschicht bewohnten Viertel, wo auch er sein Haus hat, wird der Müll montags und donnerstags gegen halb neun abgeholt. An diesen beiden Tagen kommt Dr. Marcus stets zu spät zur Mitarbeiterbesprechung, und es ist gar nicht so lange her, dass er, wenn der große Lastwagen mit den großen, finsteren Männern erschien, gar nicht zur Arbeit gegangen ist.

Inzwischen nennen sie sich Entsorgungsspezialisten, nicht mehr Müllmänner, aber der Name spielt keine Rolle. Auch nicht, welche Bezeichnung für die großen dunklen Männer mit der großen dunklen Kleidung und den großen Lederhandschuhen heutzutage politisch korrekt ist. Dr. Marcus hat eine Todesangst vor Müllmännern und ihren Lastwagen, eine Phobie, die seit seinem Umzug hierher vor vier Monaten stärker geworden ist. An den Tagen, an denen der Müll abgeholt wird, verlässt er erst das Haus, wenn der Lastwagen und die Männer da waren und wieder verschwunden sind. Seit er zu einem Psychiater in Charlottesville geht, hat es sich ein wenig gebessert.

Dr. Marcus sitzt auf dem Ledersessel und wartet darauf, dass sein Herz langsamer schlägt, Schwindel und Übelkeit nachlassen und seine Nerven keine Überreizungssignale mehr aussenden. Dann steht er, immer noch in Pyjama und Hauspantoffeln, auf. Es ist zwecklos, dass er sich anzieht, bevor die Müllabfuhr da war, denn während er sich das abscheuliche dunkle Grollen und das laute metallische Geklapper des großen Lastwagens mit den großen dunklen Männern vorstellt, schwitzt er so stark, dass er patschnass ist und vor Kälte zittert, wenn sie endlich wieder weg sind. Dr. Marcus geht über die Eichenbohlen seines Wohnzimmers und wirft durch das Fenster einen Blick auf die grünen Plastikmülleimer, die schief an der Ecke seiner Auffahrt stehen. Dann lauscht er auf den grässlichen Lärm, um sich zu vergewissern, dass der Lastwagen nirgendwo in der Nähe ist oder vielleicht sogar zurückkommt, obwohl er die Route der Müllfahrer in diesem Viertel kennt.

Inzwischen stoppt und startet der Lastwagen schon einige Straßen weiter, damit die Männer hinauf- und herunterspringen können, um die Tonnen auszuleeren. So arbeiten sie sich weiter voran, bis sie in die Patterson Avenue einbiegen. Wie es danach weitergeht, weiß Dr. Marcus nicht, und es interessiert ihn auch herzlich wenig, solange sie nur weg sind. Er starrt durch das Fenster auf seine schief stehenden Mülltonnen und kommt zu dem Schluss, dass draußen noch immer Gefahr droht.

Da er sich noch nicht bereit fühlt, das Haus zu verlassen, begibt er sich stattdessen ins Schlafzimmer, um sich zu vergewissern, dass die Alarmanlage eingeschaltet ist. Dann zieht er den nassen Pyjama aus und stellt sich unter die Dusche. Nach kurzer Zeit, als er sich sauber und aufgewärmt fühlt, zieht er sich fürs Büro an, dankbar, dass der Anfall vorbei ist. Er gibt sich Mühe, nicht daran zu denken, was passieren könnte, falls er einmal ohne Vorwarnung in der Öffentlichkeit so einen Anfall kriegt. Nein, so weit wird es schon nicht kommen. Solange er zu Hause oder in der Nähe seines Büros ist, kann er die Tür schließen und unbehelligt abwarten, bis der Sturm vorüber ist.

In der Küche nimmt er eine orangefarbene Tablette. An diesem Vormittag hat er bereits eine Klonopin und ein Antidepressivum geschluckt, doch er nimmt noch einmal 0,5 Milligramm Klonopin. In den letzten Monaten hat er die Dosis auf drei Milligramm erhöht, und er ist gar nicht glücklich darüber, von Benzodiazepinen abhängig zu sein. Sein Psychiater in Charlottesville meint, er solle sich nicht den Kopf darüber zerbrechen. Solange Dr. Marcus keinen Alkohol trinkt oder andere Drogen nimmt – und das tut er nicht –, kann ihm das Klonopin nicht schaden. Besser, er schluckt Klonopin, als dass er von seinen Panikattacken so außer Gefecht gesetzt wird, dass er sich nur noch im Haus verkriecht, seinen Job verliert oder sich blamiert, was er sich einfach nicht leisten kann. Anders als Scarpetta ist er nicht wohlhabend, und die Demütigungen, die sie einfach so wegzustecken scheint, könnte er niemals ertragen. Bevor er ihr Nachfolger als Chefpathologe von Virginia geworden ist, brauchte er weder Klonopin noch Antidepressiva, doch inzwischen leidet er laut seinem Psychiater an einer co-morbiden Störung, was bedeutet, dass er jetzt nicht nur eine Störung hat, sondern gleich zwei. In St. Louis ist er auch manchmal der Arbeit ferngeblieben und nur selten gereist, aber es war zu schaffen. Das Leben vor Scarpetta war erträglich.

Im Wohnzimmer betrachtet er wieder die großen grünen Mülltonnen durch das Fenster und lauscht nach dem großen Lastwagen und den Männern darauf. Aber er hört nichts. Nachdem er seinen alten grauen Wollmantel und ein altes Paar schwarzer Handschuhe aus Schweinsleder angezogen hat, hält er an der Tür inne, um festzustellen, wie er sich fühlt. Da alles in Ordnung scheint, schaltet er die Alarmanlage ab und öffnet die Tür. Dann eilt er raschen Schrittes seine Auffahrt entlang und hält in beide Richtungen nach dem Lastwagen Ausschau. Aber er kann nichts feststellen und fühlt sich gut, als er die Tonnen neben die Garage rollt, wo sie hingehören.

Er kehrt ins Haus zurück und zieht Mantel und Handschuhe aus. Inzwischen ist er schon viel ruhiger und beinahe glücklich. Während er sich gründlich die Hände wäscht, muss er an Scarpetta denken, und er fühlt sich entspannt und in bester Stimmung, weil er seinen Willen durchsetzen wird. All die Monate hat er nur »Scarpetta hier«, »Scarpetta da« gehört und konnte dem, weil er sie nicht kannte, nichts entgegensetzen. Als der Gesundheitsminister sagte: »Es wird schwierig, wenn nicht gar unmöglich für Sie werden, in ihre Fußstapfen zu treten, und einige Leute werden Sie wahrscheinlich nur deshalb nicht respektieren, weil Sie nicht sie sind«, hat Dr. Marcus nichts darauf erwidert. Was hätte er auch sagen sollen? Er kannte sie ja nicht.

Als die Gouverneurin so gnädig war, Dr. Marcus nach seiner Ernennung in ihr Büro auf einen Kaffee einzuladen, musste er absagen. Sie hatte den Termin auf Montagmorgen festgesetzt, und das ist genau die Zeit, in der in Westham Green der Müll abgeholt wird. Natürlich konnte er ihr den Grund für seine Absage nicht nennen, es ging eben nicht, war absolut unmöglich. Er weiß noch, wie er in seinem Wohnzimmer saß, auf den großen Lastwagen mit den großen Männern lauschte und sich fragte, wie sein zukünftiges Leben in Virginia wohl aussehen würde, nachdem er eine Einladung zum Kaffee bei der Gouverneurin abgesagt hatte. Außerdem ist sie eine Frau und achtet ihn vermutlich ohnehin nicht, weil er weder weiblich noch Scarpetta ist.