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Dr. Marcus ist nicht sicher, ob die neue Gouverneurin zu Scarpettas Bewunderern gehört, aber er nimmt es an. Er hatte keine Ahnung, was ihm bevorstand, als er den Posten des Chefpathologen annahm und von St. Louis hierher zog. Er hat eine Behörde voller weiblicher Pathologen und Ermittler zurückgelassen, die alle über Scarpetta im Bilde waren. Sie sagten ihm, er habe großes Glück, ihre Stelle zu ergattern, da Virginia ihr die beste Pathologie in den gesamten Vereinigten Staaten zu verdanken habe. Ein Jammer, dass sie mit dem damaligen Gouverneur nicht zurechtgekommen sei, sodass der sie schließlich gefeuert habe. Die Frauen in seinem Büro haben ihn dazu ermuntert, Scarpettas Stelle zu übernehmen.

Sie wollten ihn loswerden. Das ist ihm schon damals klar gewesen. Und sie konnten beim besten Willen nicht verstehen, warum man sich in Virginia ausgerechnet für einen angepassten, unpolitischen Menschen ohne eigenes Profil wie ihn interessierte. Er wusste genau, was seine Mitarbeiterinnen damals über ihn sagten. Sie tuschelten und befürchteten, dass es mit seiner Ernennung nicht klappen könnte, sodass sie ihn weiter auf dem Hals haben würden. Davon ist er überzeugt.

Also ist er nach Virginia gezogen, und es dauerte keinen Monat, bis er Schwierigkeiten mit der Gouverneurin bekam, und das alles nur wegen der Müllabfuhr in Westham Green. Er gibt Scarpetta die Schuld daran. Sie ist dafür verantwortlich, dass ein Fluch auf ihm lastet. Ständig muss er sich Geschichten über sie und das Gejammer anhören, weil er nicht sie ist. Kaum hatte er seinen Posten angetreten, hat er schon angefangen, sie und alles, was sie geleistet hat, zu hassen. Er ist ein Meister darin geworden, seine Verachtung zu zeigen, indem er alles verschlampen lässt, was für ihn im Zusammenhang mit Scarpetta steht, sei es nun ein Bild, eine Pflanze, ein Buch, das Verhältnis zu seinen Mitarbeitern oder ein toter Patient, dem es zu Scarpettas Zeiten als Chefin sicher besser ergangen wäre. Zu beweisen, dass sie ein Mythos, eine Hochstaplerin und eine Versagerin ist, ist bei ihm zur fixen Idee geworden. Allerdings konnte er eine Wildfremde nicht demontieren, ja, nicht einmal etwas Negatives über sie sagen, weil er sie nicht kannte.

Dann starb Gilly Paulsson, und ihr Vater schaltete den Gesundheitsminister ein, der sich wiederum sofort an die Gouverneurin wandte. Diese ihrerseits verständigte den Leiter des FBI, da sie Vorsitzende eines landesweiten Anti-Terror-Komitees ist und Frank Paulsson Verbindungen zum Ministerium für Heimatschutz hat. Schließlich musste man sichergehen, dass die kleine Gilly nicht von irgendwelchen Feinden der amerikanischen Regierung umgebracht wurde.

Das FBI kam rasch zu dem Schluss, dass man die Angelegenheit näher unter die Lupe nehmen müsse, und mischte sich sofort in die Angelegenheiten der örtlichen Polizei ein, bis die rechte Hand nicht mehr wusste, was die linke tat. So landeten einige Beweisstücke in hiesigen Labors und andere in Labors des FBI, während manche Indizien gar nicht erst sichergestellt wurden. Dr. Paulsson wollte nicht, dass Gillys Leiche freigegeben wurde, bevor alle Fakten bekannt waren. Und zu allem Überfluss wurde das Durcheinander noch von Dr. Paulssons zerrütteter Beziehung zu seiner geschiedenen Frau vergrößert. Irgendwann war die Untersuchung des Todes einer unbedeutenden Vierzehnjährigen dann derart verkompliziert und politisch überfrachtet, dass Dr. Marcus nichts anderes übrig blieb, als den Gesundheitsminister selbst um Rat zu fragen.

»Wir müssen einen anerkannten Berater hinzuziehen«, erwiderte der Gesundheitsminister. »Bevor wir noch mehr Probleme bekommen.«

»Wir haben doch so schon genug Ärger«, gab Dr. Marcus zurück. »Sobald die Polizei von Richmond erfuhr, dass das FBI mit von der Partie ist, hat sie ihre Mitarbeit eingestellt und ist in Deckung gegangen. Und um die Sache noch zu verschlimmern, wissen wir nicht, woran das Mädchen eigentlich gestorben ist. Ich halte die Todesumstände für verdächtig, aber wir kennen die genaue Ursache nicht.«

»Also brauchen wir einen Berater. Sofort. Jemand, der nicht von hier ist und der zur Not die Kastanien für uns aus dem Feuer holt. Wenn die Gouverneurin wegen dieses Falles Schwierigkeiten auf Bundesebene kriegt, werden Köpfe rollen, und meiner ist dann bestimmt nicht der einzige, Joel.«

»Was ist mit Dr. Scarpetta?«, schlug Dr. Marcus vor, und er war damals selbst überrascht, wie schnell und spontan ihm ihr Name über die Lippen kam.

»Ausgezeichnete Idee. Und ziemlich schlau«, entgegnete der Gesundheitsminister. »Kennen Sie sie persönlich?«

»Ich werde sie wohl bald kennen lernen«, sagte Dr. Marcus, und es erstaunte ihn selbst, was für ein brillanter Stratege er war.

Bis zu diesem Augenblick hätte er diese Fähigkeit nie an sich vermutet, doch da er Scarpetta nie kritisiert hatte – da er sie ja nicht kannte –, fand es niemand merkwürdig, dass er sie als Beraterin vorschlug. So rief er sie sofort, nämlich vorgestern, an. Er sagte sich voller Ingrimm, dass er Scarpetta bald gegenüberstehen würde, o ja. Und dann würde er sie abkanzeln, demütigen und so richtig mit ihr Schlitten fahren.

Er plant, ihr für alles, was im Fall Gilly Paulsson und in seiner Behörde schief gelaufen ist, sowie auch für mögliche zukünftige Ereignisse die Schuld in die Schuhe zu schieben. Dann wird die Gouverneurin gewiss vergessen, dass Dr. Marcus ihre Einladung zum Kaffee abgelehnt hat. Sollte sie ihn wieder fragen und den Termin auf einen Montag- oder Donnerstagmorgen festsetzen, wird Dr. Marcus ihr erklären, dass um diese Zeit die Mitarbeiterbesprechung in seinem Büro stattfindet, bei der er unbedingt den Vorsitz führen muss. Deshalb wäre er der Gouverneurin sehr dankbar, wenn sie die Einladung verschieben würde. Keine Ahnung, warum ihm das nicht schon beim ersten Mal eingefallen ist, doch nun weiß er, was er sagen wird.

Dr. Marcus greift zum Wohnzimmertelefon und schaut aus dem Fenster, erleichtert, dass er in den nächsten drei Tagen nicht mehr an die Müllabfuhr wird denken müssen. Er fühlt sich ausgezeichnet, als er ein kleines schwarzes Adressbuch durchblättert, das er schon so lange besitzt, dass die Hälfte der Namen und Telefonnummern darin durchgestrichen ist. Er wählt eine Nummer, blickt aus dem Fenster, sieht einen alten blauen Chevrolet Impala vorbeifahren und erinnert sich daran, dass seine Mutter während seiner Kindheit in Charlottesville jeden Winter mit ihrem weißen Impala am Fuße desselben Hügels im Schnee stecken geblieben ist.

»Scarpetta«, meldet sie sich am Mobiltelefon.

»Dr. Marcus hier«, erwidert er in seinem geschliffenen, befehlsgewohnten, verbindlichen Tonfall, einer von vielen Nuancen, die er beherrscht und unter denen er frei wählen kann.

»Ja«, sagt sie. »Guten Morgen. Ich hoffe, Dr. Fielding hat Sie bereits über unsere zweite Untersuchung von Gilly Paulsson informiert.«

»Ich fürchte, ja. Er hat mich von Ihrer Meinung in Kenntnis gesetzt«, entgegnet er, betont dabei die Wörter Ihrer Meinung und bedauert es, ihre Reaktion nicht sehen zu können. So würde sich ein gerissener Verteidiger ausdrücken, während ein Staatsanwalt vermutlich Ihre Schlussfolgerungen sagen würde, um auszudrücken, dass er die Erfahrung des Experten schätzt. Ihre Meinung hingegen ist nichts weiter als eine verdeckte Beleidigung.

»Ich frage mich, ob Sie schon von den Spuren gehört haben«, fährt er fort und denkt dabei an die gestrige E-Mail von Junius Eise, der sich wie immer im Ton vergriffen hat.

»Nein«, entgegnet sie.

»Es ist wirklich recht außergewöhnlich«, sagt er bedeutungsschwanger. »Deshalb findet ja auch die Sitzung statt.« Obwohl Dr. Marcus diese Sitzung bereits gestern anberaumt hat, informiert er sie erst jetzt. »Ich würde mich freuen, wenn Sie heute Vormittag um halb zehn zu mir ins Büro kämen.« Er beobachtet, wie der alte blaue Impala zwei Häuser weiter in eine Auffahrt einbiegt, und fragt sich, warum der Wagen dort hält und wem er wohl gehört.