Scarpetta zögert, als ob dieser kurzfristige Termin ihr nicht ins Konzept passen würde. »Natürlich. In einer halben Stunde bin ich da«, antwortet sie dann.
»Darf ich fragen, was Sie gestern Nachmittag gemacht haben? Ich habe Sie gar nicht im Büro gesehen«, sagt er und schaut zu, wie eine alte schwarze Frau aus dem blauen Impala steigt.
»Papierkram und jede Menge Telefonate. Warum? Hätten Sie etwas gebraucht?«
Dr. Marcus fühlt sich ein wenig schwindelig, während sein Blick weiter auf der alten schwarzen Frau und dem blauen Impala ruht. Die große Scarpetta fragt ihn, ob er etwas gebraucht hat, als wäre sie seine Untergebene. Aber zurzeit arbeitet sie ja auch für ihn, so schwer vorstellbar das sein mag.
»Im Moment brauche ich nichts von Ihnen«, sagt er. »Wir sehen uns bei der Sitzung.« Er hängt auf, und es bereitet ihm eine große Befriedigung, ein Telefonat mit Scarpetta einfach so abzubrechen.
Die Absätze seiner altmodischen schwarzen Schnürschuhe klappern auf den Eichendielen, als er in die Küche geht und eine zweite Kanne koffeinfreien Kaffee aufsetzt. Die erste Kanne hat er zum Großteil ins Spülbecken geschüttet, weil er vor lauter Angst vor dem Müllwagen und den Männern den Kaffee völlig vergessen hatte, bis er anfing, angebrannt zu riechen. Nachdem er die Kaffeemaschine eingeschaltet hat, kehrt er ins Wohnzimmer zurück, um den Impala weiter zu beobachten.
Durch das Fenster, an dem sein großer Lieblingssessel aus Leder steht und durch das er immer hinausschaut, sieht er der alten schwarzen Frau zu, die Einkaufstüten aus dem Kofferraum des Impala hebt. Offenbar die Haushälterin, denkt er. Und es ärgert ihn, dass eine schwarze Haushälterin den gleichen Wagen fährt wie seine Mutter während seiner Kindheit. Früher war das einmal ein schickes Auto. Nicht jeder hatte einen weißen Impala mit einem blauen Streifen an der Seite, und er war stolz darauf, mit Ausnahme der Male, die der Wagen am Fuße des Hügels im Schnee stecken blieb. Seine Mutter war keine gute Fahrerin. Eigentlich hätte sie dieses Auto gar nicht fahren dürfen. Der Impala ist nach einer afrikanischen Antilope benannt, die große Sprünge machen kann und ziemlich scheu ist. Seine Mutter war schon schreckhaft genug, wenn sie zu Fuß ging. Sie gehörte nicht hinters Steuer eines Fahrzeugs, das nach einer kräftigen, scheuen Antilopenart benannt ist.
Die Bewegungen der alten Haushälterin sind bedächtig, als sie die Plastiktüten aus dem Kofferraum des Impala hebt und langsam und steifbeinig vom Auto zu einer Seitentür des Hauses geht. Dann kehrt sie wieder zum Impala zurück, um weitere Tüten zu holen, und stößt die Wagentür mit der Hüfte zu. Früher war das einmal ein schickes Auto, denkt Dr. Marcus und starrt aus dem Fenster. Der Impala der Haushälterin hat sicher schon seine vierzig Jahre auf dem Buckel und scheint gut in Schuss zu sein. Er weiß nicht, wann er zuletzt einen Impala Baujahr 63 oder 64 gesehen hat. Dass er heute einen zu Gesicht kriegt, deutet er als wichtiges Zeichen, von dem er allerdings nicht weiß, was es bedeutet. Also geht er wieder in die Küche, um sich einen Kaffee zu holen. Wenn er sich noch zwanzig Minuten Zeit lässt, sind seine Ärzte bei seiner Ankunft mit Autopsien beschäftigt, und er wird mit niemandem reden müssen. Während er wartet, wird sein Puls wieder schneller, und seine Nerven sprühen Funken.
Zuerst schiebt er sein Herzrasen und das Zittern und Zucken auf die winzige Spur Koffein im entkoffeinierten Kaffee, aber er hat doch erst ein paar Schlucke getrunken und ahnt, dass etwas anderes dahinter steckt. Je länger er den Impala auf der anderen Straßenseite beobachtet, desto nervöser und aufgeregter wird er, und er wünscht, die Haushälterin wäre nicht ausgerechnet heute hier erschienen, während er wegen der Müllabfuhr zu Hause ist. Er kehrt ins Wohnzimmer zurück, lässt sich in seinem großen Ledersessel nieder, lehnt sich zurück und versucht, sich zu entspannen. Sein Herz klopft so heftig, dass er sieht, wie die Vorderseite seines weißen Hemdes sich bewegt; er holt tief Luft und schließt die Augen.
Seit vier Monaten wohnt er jetzt schon hier, ohne dass ihm der Impala jemals aufgefallen wäre. Er stellt sich das schmale blaue Lenkrad ohne Airbag vor. Dann das blaue Armaturenbrett auf der Beifahrerseite, das nicht gepolstert ist und ebenfalls nicht über einen Airbag verfügt. Die alten blauen Sicherheitsgurte führen nicht um die Schultern herum, sondern nur um das Becken. Als er sich das Innere des Impala ausmalt, ist es nicht mehr der Wagen auf der anderen Straßenseite, sondern der weiße mit dem blauen Streifen an der Seite, den seine Mutter gefahren hat. Der Kaffee ist vergessen und erkaltet auf dem Tisch neben dem Ledersessel, während er mit geschlossenen Augen dasitzt. Einige Male steht Dr. Marcus auf und schaut aus dem Fenster, und als er den blauen Impala nicht mehr sieht, schaltet er die Alarmanlage ein, schließt das Haus ab und geht in die Garage. Kurz schießt ihm der ängstliche Gedanke durch den Kopf, dass der Impala vielleicht gar nicht existiert und nie da war. Doch er war da, natürlich war er das.
Einige Minuten später fährt er langsam seine Straße entlang, bleibt vor dem Haus einige Türen weiter stehen und starrt auf die leere Auffahrt, wo er gerade den blauen Impala und die alte schwarze Haushälterin mit ihren Einkaufstüten gesehen hat. Er sitzt in seinem Volvo, der bei nahezu allen Sicherheitstests als Sieger abgeschnitten hat, betrachtet die leere Auffahrt, biegt schließlich ein und steigt aus. In seinem langen grauen Mantel, dem grauen Hut und den schwarzen Handschuhen aus Schweinsleder, die er schon vor seiner Zeit in St. Louis bei kaltem Wetter getragen hat, sieht er zwar altmodisch, aber gepflegt aus. Er weiß, dass er einen seriösen Eindruck macht, als er die Klingel betätigt. Er wartet kurz, läutet noch einmal, und die Tür geht auf.
»Ja, bitte?«, fragt die Frau, die die Tür geöffnet hat. Sie ist etwa Mitte fünfzig und trägt einen Jogginganzug und Tennisschuhe. Sie erscheint ihm vertraut, ist höflich, aber nicht unbedingt freundlich.
»Ich bin Joel Marcus«, sagt er mit seiner verbindlichen Stimme. »Ich wohne gegenüber und habe zufällig vorhin einen sehr alten blauen Impala in Ihrer Auffahrt gesehen.« Er bereitet sich innerlich schon auf die Ausflucht vor, er habe sich vermutlich im Haus geirrt, nur für den Fall, dass sie antwortet, sie wisse nichts über einen sehr alten blauen Impala.
»Ach, Mrs. Walker. Sie hat dieses Auto schon seit einer Ewigkeit und würde ihn niemals gegen einen nagelneuen Cadillac eintauschen«, erwidert die Nachbarin, die ihm irgendwie bekannt vorkommt, zu seiner Erleichterung lächelnd.
»Ich verstehe«, sagt er. »Ich war nur neugierig. Ich sammle nämlich alte Autos.« Er sammelt zwar keine Autos, weder alte noch sonst welche, aber er hat sich den Impala nicht eingebildet. Gott sei Dank. Natürlich nicht.
»Tja, auf den werden Sie in Ihrer Sammlung wohl verzichten müssen«, gibt sie fröhlich zurück. »Mrs. Walker liebt dieses Auto … Ich glaube, wir sind uns noch nicht vorgestellt worden, obwohl ich natürlich weiß, wer Sie sind. Sie sind der neue Chefpathologe und haben den Posten dieser berühmten Pathologin übernommen. Wie war noch mal ihr Name? Ich war ziemlich erschrocken und enttäuscht, dass sie Virginia den Rücken gekehrt hat. Was ist eigentlich aus ihr geworden? Ach, Sie stehen ja immer noch in der Kälte herum. Wo habe ich nur meine Manieren? Möchten Sie nicht hereinkommen? Sie war auch eine sehr attraktive Frau. Oh, wie hieß sie nur?«
»Ich muss leider los«, erwidert Dr. Marcus in einer anderen Stimme, die steif und barsch klingt. »Ich fürchte, ich komme zu spät zu einem Termin mit der Gouverneurin«, lügt er, ohne mit der Wimper zu zucken.
25
Die Sonne scheint schwach vom blassgrauen Himmel, und das Licht ist fahl und kalt. Scarpetta überquert den Parkplatz, der lange dunkle Mantel flattert um ihre Beine. Rasch und zielstrebig geht sie auf die Eingangstür ihres ehemaligen Dienstgebäudes zu und stellt verärgert fest, dass die Parklücke Nummer eins, die für den Chefpathologen reserviert ist, leer steht. Dr. Marcus ist noch nicht da. Wie immer kommt er zu spät.