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Scarpetta tritt mit den Bechern in den Konferenzraum und setzt sich diesmal an den Mittelteil des langen polierten Tisches. Sie und Mrs. Paulsson sind allein in dem großen, leeren Raum. Benommen starrt Mrs. Paulsson auf das anatomische Modell, das in einer Ecke am Gestell hängt. Als sie den Kaffeebecher an die Lippen hebt, zittert ihre Hand.

»Wissen Sie, Franks Familie ist in Charleston begraben«, sagt sie. »Schon seit vielen Generationen. Meine Familie liegt hier, auf dem Friedhof von Hollywood, und ich habe dort auch eine Grabstelle. Warum muss das denn so kompliziert sein? Er will Gilly nur nach Charleston holen, um mir das Leben schwer zu machen, um sich an mir zu rächen und mich in ein schlechtes Licht zu rücken. Er hat schon oft gedroht, mich um den Verstand zu bringen, damit ich in der Irrenanstalt lande. Tja, diesmal könnte er es schaffen.«

»Reden Sie beide noch miteinander?«, erkundigt sich Scarpetta.

»Bei ihm kann man das nicht reden nennen. Er teilt mir etwas mit und gibt mir Anweisungen. Alle sollen denken, dass er ein wundervoller Vater ist. Aber er liebt sie nicht so wie ich. Es ist seine Schuld, dass sie nicht mehr lebt.«

»Das haben Sie schon einmal gesagt. Warum ist es seine Schuld?«

»Ich weiß genau, dass er dahintersteckt. Er will mich nur fertig machen. Zuerst hat er versucht, mir Gilly wegzunehmen, indem sie zu ihm ziehen sollte. Und jetzt nimmt er sie mir für immer. Er will, dass ich durchdrehe, damit niemand merkt, was für ein miserabler Ehemann und Vater er in Wirklichkeit ist. Kein Mensch erkennt die Wahrheit, und die Leute sehen nur das, was sie sehen wollen, nämlich, dass ich übergeschnappt bin. Und dann werden alle Mitleid mit ihm haben. Aber es gibt eine Wahrheit.«

Sie wenden sich um, als die Tür des Konferenzraums aufgeht und eine gut gekleidete Frau hereinkommt. Sie ist schätzungsweise Ende dreißig oder Anfang vierzig und hat die frische Ausstrahlung eines Menschen, der die Zeit hat, genug zu schlafen, sich gesund zu ernähren, Sport zu treiben und sich regelmäßig die Strähnchen im blonden Haar auffrischen zu lassen. Die Frau stellt einen ledernen Aktenkoffer auf den Tisch und nickt Mrs. Paulsson lächelnd zu, als wären sie alte Bekannte. Die Schlösser des Aktenkoffers öffnen sich mit einem lauten Klacken, und nachdem die Frau eine Aktenmappe und einen Notizblock herausgeholt hat, nimmt sie Platz.

»Ich bin FBI Special Agent Weber, Karen Weber.« Sie sieht Scarpetta an. »Sie müssen Dr. Scarpetta sein. Man sagte mir, dass Sie hier sein würden. Wie fühlen Sie sich, Mrs. Paulsson? Ich habe nicht mit Ihnen gerechnet.«

Mrs. Paulsson kramt ein Papiertaschentuch aus ihrer Handtasche und wischt sich die Augen ab. »Guten Morgen«, erwidert sie.

Scarpetta muss sich zusammenreißen, um nicht mit der Frage herauszuplatzen, warum Special Agent Weber und das FBI mit dem Fall befasst sind. Da Gillys Mutter mit am Tisch sitzt, übt sich Scarpetta in Zurückhaltung. Aber sie versucht es indirekt.

»Sind Sie vom Büro in Richmond?«, fragt sie Special Agent Weber.

»Aus Quantico«, entgegnet diese. »Aus der Abteilung für Verhaltensforschung. Kennen Sie unsere neuen forensischen Labors in Quantico?«

»Nein, ich fürchte nicht.«

»Sie sind wirklich einen Besuch wert.«

»Da bin ich ganz sicher.«

»Was führt Sie heute hierher, Mrs. Paulsson?«, erkundigt sich Special Agent Weber.

»Ich weiß es nicht«, antwortet sie. »Ich bin wegen dem Bericht hier. Sie wollen mir Gillys Schmuck aushändigen. Sie hat Ohrringe und ein Armband getragen, ein kleines Lederarmband, das sie nie abnahm. Außerdem hieß es, der Chef möchte ein paar Worte mit mir wechseln.«

»Sie nehmen an der Besprechung teil?« Verwirrung zeichnet sich auf dem attraktiven, gepflegten Gesicht der FBI-Agentin ab.

»Das weiß ich nicht.«

»Sie sind wegen Gillys Berichten und ihrer persönlichen Gegenstände hier?«, wiederholt Scarpetta und ahnt, dass da ein Fehler passiert sein muss.

»Ja, man hat mir gesagt, ich könnte sie um neun Uhr abholen. Bis jetzt habe ich es einfach nicht über mich gebracht. Ich habe einen Scheck dabei, weil ich eine Gebühr bezahlen muss«, fährt Mrs. Paulsson mit unverändert ängstlichem Blick fort. »Vielleicht dürfte ich gar nicht hier sein. Eine Besprechung hat niemand erwähnt.«

»Tja, wo Sie jetzt schon einmal da sind«, meint Special Agent Weber, »würde ich Ihnen gerne eine Frage stellen, Mrs. Paulsson. Erinnern Sie sich noch an unser Gespräch? Sie sagten, Ihr Mann, Ihr Ex-Mann, sei Pilot. Ist das richtig?«

»Nein. Er ist kein Pilot. Ich habe gesagt, dass er das nicht ist.«

»Oh. Gut. Ich konnte nämlich keine Unterlagen finden, in denen steht, dass er irgendwann einmal den Pilotenschein gemacht hat«, antwortet Special Agent Weber. »Also war ich ein bisschen verwirrt.« Sie lächelt.

»Viele Leute glauben, er wäre Pilot«, fährt Mrs. Paulsson fort.

»Verständlicherweise.«

»Er umgibt sich gerne mit Piloten, vor allem mit welchen vom Militär und ganz besonders mit weiblichen. Ich wusste schon immer, was er da treibt.«

»Könnten Sie das etwas genauer erklären?«, fordert Special Agent Weber sie auf.

»Oh, er führt flugärztliche Untersuchungen durch. Sie können sich das sicher vorstellen«, erwidert sie. »Dabei kommt er sich ganz toll vor. Eine Frau im Fliegeroverall spaziert in seine Praxis, und der Rest ist ja dann wohl klar.«

»Haben Sie gehört, dass er weibliche Piloten sexuell belästigt hätte?«, fragt Special Agent Weber mit ernster Miene.

»Er streitet es immer ab, und jeder glaubt ihm«, antwortet sie. »Wissen Sie, dass er eine Schwester bei der Air Force hat? Ich habe mich schon oft gefragt, ob da ein Zusammenhang besteht. Sie ist einige Jahre älter als er.«

In diesem Augenblick betritt Dr. Marcus den Konferenzraum. Er trägt wieder ein weißes Baumwollhemd, durch das ein ärmelloses Unterhemd durchschimmert, und seine Krawatte ist dunkelblau und schmal. Er blickt an Scarpetta vorbei und sieht Mrs. Paulsson an.

»Ich glaube, wir kennen uns noch nicht«, sagt er in befehlsgewohntem, aber freundlichem Ton.

»Mrs. Paulsson«, sagt Dr. Scarpetta. »Das ist Dr. Marcus, der Chefpathologe.«

»Hat eine von Ihnen Mrs. Paulsson hergebeten?« Er blickt erst Scarpetta, dann Special Agent Weber an. »Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz …«

Mrs. Paulsson steht vom Tisch auf. Ihre Bewegungen sind langsam und unsicher, als würden ihre Gliedmaßen widersprüchliche Botschaften bekommen. »Ich habe keine Ahnung, wie das passiert ist. Ich bin nur wegen der Papiere, wegen der kleinen herzförmigen Goldohrringe und des Lederarmbands hier.«

»Ich glaube, es war mein Fehler«, meint Scarpetta und erhebt sich ebenfalls. »Ich habe sie im Warteraum getroffen und voreilige Schlüsse daraus gezogen. Tut mir Leid.«

»Schon gut«, sagt Dr. Marcus zu Mrs. Paulsson. »Ich habe gehört, dass Sie heute Morgen vielleicht herkommen. Ich möchte Ihnen mein Beileid aussprechen.« Er lächelt herablassend. »Der Fall Ihrer Tochter wird hier mit höchster Dringlichkeit behandelt.«

»Oh«, entgegnet Mrs. Paulsson.

»Ich begleite Sie hinaus.« Scarpetta hält ihr die Tür auf. »Es tut mir wirklich Leid«, wiederholt sie, als sie über den graublauen Teppich und an der Kaffeemaschine vorbei zum Hauptflur gehen. »Hoffentlich habe ich Sie nicht in eine peinliche Situation gebracht oder aufgeregt.«

»Sagen Sie mir, wo Gilly ist.« Sie bleibt mitten auf dem Flur stehen. »Ich muss es wissen. Bitte sagen Sie mir, wo genau sie ist.«

Scarpetta zögert. Obwohl sie solche Fragen öfter hört, fällt es ihr nicht leicht, darauf zu antworten. »Gilly ist auf der anderen Seite dieser Türen.« Sie dreht sich um und zeigt auf einige Türen, die vom Flur abgehen. Dahinter befinden sich weitere Türen. Dann kommt das Leichenschauhaus mit seinen Kühl- und Gefrierkammern.

»Bestimmt liegt sie in einem Sarg. Ich habe gehört, dass es in Einrichtungen wie dieser Särge aus Fichtenholz gibt.« Mrs. Paulssons Augen füllen sich mit Tränen.

»Nein, sie liegt nicht in einem Sarg. Wir haben keine Särge hier. Die Leiche Ihrer Tochter befindet sich in einer Kühlkammer.«