»Bestimmt muss mein armes Kind schrecklich frieren«, schluchzt sie.
»Gilly spürt die Kälte nicht, Mrs. Paulsson«, tröstet Scarpetta sie. »Sie leidet nicht, und sie hat keine Schmerzen, das versichere ich Ihnen.«
»Haben Sie sie gesehen?«
»Ja«, antwortet Scarpetta. »Ich habe sie untersucht.«
»Bitte sagen Sie mir, dass sie nicht gelitten hat. Bitte.«
Aber das kann Scarpetta ihr nicht bestätigen, da es eine Lüge wäre. »Es müssen noch einige Tests durchgeführt werden«, entgegnet sie. »Die Labors werden noch eine Weile beschäftigt sein. Alle geben sich die größte Mühe, herauszufinden, was genau Gilly zugestoßen ist.«
Mrs. Paulsson schluchzt leise, als Scarpetta sie zurück in die Verwaltung begleitet und eine der Sekretärinnen bittet, ihre Bürokabine zu verlassen, um Mrs. Paulsson die Kopien der angeforderten Berichte und Gillys persönliche Habe auszuhändigen, die lediglich aus einem Paar herzförmiger Ohrringe aus Gold und einem Lederarmband besteht. Ihr Pyjama, das Bettzeug und alles, was die Polizei sonst sichergestellt hat, gelten als Beweisstücke und müssen hier bleiben. Gerade will Scarpetta in den Konferenzraum zurückkehren, als Marino erscheint. Mit gesenktem Kopf und gerötetem Gesicht eilt er den Flur entlang.
»Bis jetzt war es kein guter Morgen«, stellt sie fest, nachdem er näher gekommen ist. »Für dich offenbar auch nicht. Ich habe versucht, dich zu erreichen. Wie ich annehme, hast du meine Nachricht erhalten.«
»Was macht sie denn hier?«, platzt er, offenbar bestürzt, heraus und meint damit Mrs. Paulsson.
»Sie will Gillys persönliche Sachen und Kopien der Berichte abholen.«
»Geht das, obwohl noch nicht entschieden ist, wer ihre Leiche bekommt?«
»Sie ist die nächste Angehörige. Ich bin nicht sicher, welche Berichte man ihr aushändigen wird. Inzwischen verstehe ich hier überhaupt nichts mehr«, sagt Scarpetta. »Das FBI ist zu der Besprechung erschienen. Keine Ahnung, wer sonst noch kommt. Die neuste Information lautet, dass Frank Paulsson angeblich Pilotinnen sexuell belästigt.«
»Hm?« Marino hat es eilig und benimmt sich reichlich merkwürdig. Außerdem riecht er nach Schnaps und sieht ziemlich jämmerlich aus.
»Bei dir alles in Ordnung?«, erkundigt sie sich. »Ach, was rede ich? Natürlich nicht.«
»Ist nicht weiter schlimm«, erwidert er.
26
Marino kippt Zucker in seinen Kaffee. Anscheinend fühlt er sich wirklich miserabel, denn sonst würde er keinen weißen Industriezucker zu sich nehmen. Der ist in seiner Diät nämlich streng verboten und so ungefähr das Schlimmste, was er zur Zeit in sich hineinschaufeln kann.
»Bist du sicher, dass du dir das antun willst?«, fragt Scarpetta. »Du wirst es bereuen.«
»Was zum Teufel hatte sie hier verloren?« Er rührt noch einen Löffel Zucker in seine Tasse. »Da komme ich nichtsahnend in die Gerichtsmedizin und treffe als Erstes die Mutter des Mädchens auf dem Flur. Erzähl mir jetzt nicht, sie hätte sich Gilly angesehen, die ist nämlich nicht sehr vorzeigbar. Was hat sie also hier gemacht?«
Marino trägt dieselbe schwarze Cargohose, die Windjacke und die LAPD-Baseballkappe wie gestern. Er hat sich nicht rasiert, und seine Augen wirken müde und haben einen wilden Blick. Vielleicht hat er nach dem Umtrunk im Polizeiclub einer seiner Damenbekanntschaften einen Besuch abgestattet. Einer der Frauen, die er früher beim Bowling kennen gelernt, mit denen er sich betrunken hat und bei denen er schließlich im Bett gelandet ist.
»Wenn du schlechte Laune hast, ist es möglicherweise besser, wenn du mich nicht zu der Sitzung begleitest«, sagt Scarpetta. »Du bist nicht eingeladen. Also habe ich keine Lust, die Angelegenheit noch zu verschlimmern, indem ich dich mitschleppe, solange du in so einer Stimmung bist. Außerdem weißt du ja, wie du zurzeit reagierst, wenn du Zucker isst.«
»Hm?«, erwidert er und betrachtet die geschlossene Tür des Konferenzraums. »Na, dann werde ich diesen Arschlöchern mal zeigen, was eine richtig schlechte Laune ist.«
»Was ist passiert?«
»Es wird einiges gemunkelt«, erwidert er mit leiser, zorniger Stimme. »Über dich.«
»Was denn?« Sie kann Gerüchte nicht ausstehen und schenkt ihnen normalerweise keine Beachtung.
»Es heißt, dass du nach Richmond zurückkommen willst und dass du deshalb hier bist.« Vorwurfsvoll sieht er sie an und trinkt seinen giftig-süßen Kaffee. »Was zum Teufel verschweigst du mir?«
»So etwas hatte ich niemals vor«, sagt sie. »Und es erstaunt mich, dass du auf so ein hohles Geschwätz hörst.«
»Ich komme jedenfalls nicht mit nach Richmond zurück«, meint er, als wäre über ihn geredet worden, nicht über sie.
»Nie im Leben. Das kannst du dir abschminken.«
»Ich würde nicht einmal im Traum daran denken, zurückzukehren. Also beschäftigen wir uns jetzt nicht mehr damit.« Sie öffnet die dunkle Holztür des Konferenzraums.
Marino kann ihr folgen, wenn er möchte, oder draußen an der Kaffeemaschine stehen bleiben und sich den ganzen Tag lang mit Zucker voll stopfen. Sie wird nicht versuchen, ihn zu überreden. Obwohl sie herausfinden muss, was ihn bedrückt, ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Nun hat sie eine Besprechung mit Dr. Marcus, dem FBI und Jack Fielding, der sie gestern Abend versetzt hat und dessen Haut inzwischen noch stärker entzündet aussieht als bei ihrer letzten Begegnung. Niemand spricht sie an, während sie sich einen Stuhl sucht. Und auch Marino, der ihr nachgekommen ist und sich neben sie setzt, schlägt Schweigen entgegen. Aha, offenbar ein Tribunal, denkt sie.
»Fangen wir an«, sagt Dr. Marcus. »Wahrscheinlich haben Sie sich mit Special Agent Weber von der Profiling-Abteilung des FBI bereits bekannt gemacht«, wendet er sich an Scarpetta. Allerdings irrt er sich in der Bezeichnung der Abteilung, die in Wirklichkeit Abteilung für Verhaltensforschung heißt. »Wir haben es mit einem ernsten Problem zu tun – als ob wir nicht ohnehin schon genug um die Ohren hätten.« Seine Miene ist finster, und seine Augen hinter den Brillengläsern funkeln kalt. »Dr. Scarpetta«, sagt er laut. »Sie haben Gilly Paulsson ein zweites Mal obduziert. Und Sie haben doch auch Mr. Whitby, den Traktorfahrer, untersucht, richtig?«
Fielding starrt wortlos auf einen Aktenordner. Sein Gesicht ist wund und gerötet.
»Eine Untersuchung würde ich das nicht nennen«, entgegnet sie und wirft Fielding einen Blick zu. »Außerdem habe ich keine Ahnung, worum es hier geht.«
»Haben Sie ihn berührt?«, fragt Special Agent Karen Weber.
»Verzeihung, aber beschäftigt sich das FBI auch mit dem Tod des Traktorfahrers?«, erkundigt sich Scarpetta.
»Möglicherweise. Wir hoffen nicht, aber es könnte durchaus dazu kommen«, erwidert Special Agent Weber, der es Spaß zu machen scheint, Scarpetta, die frühere Chefpathologin, in die Zange zu nehmen.
»Haben Sie ihn berührt?« Nun kommt die Frage von Dr. Marcus.
»Ja«, antwortet Scarpetta. »Das habe ich.«
»Und Sie natürlich auch«, sagt Dr. Marcus zu Fielding.
»Schließlich haben Sie die äußerliche Untersuchung durchgeführt und mit der Autopsie angefangen. Irgendwann sind Sie dann zu der kleinen Paulsson in den Verwesungsraum gegangen, um sie noch einmal zu obduzieren.«
»Ja«, murmelt Fielding, blickt von seinem Ordner auf und schaut ins Leere. »Das ist doch alles Mist.«
»Wie bitte?«, fragt Dr. Marcus.
»Sie haben mich sehr gut verstanden. Das ist alles Mist«, wiederholt Fielding. »Ich habe Ihnen das schon gestern gesagt, als die Sache auf den Tisch kam. Und daran hat sich bis heute nichts geändert. Das ist Mist. Ich lasse mich nicht ans Kreuz nageln, weder vom FBI noch von sonst wem.«
»Ich fürchte, das ist kein Mist, Dr. Fielding. Wir haben ein großes Problem mit den Beweisen. Die Spuren, die an der Leiche von Gilly Paulsson sichergestellt wurden, sind mit denen, die wir bei dem Traktorfahrer Mr. Whitby gefunden haben, identisch. Ich verstehe nicht, wie das möglich sein kann, außer es hat eine Übertragung von Verunreinigungen stattgefunden. Außerdem begreife ich nicht, warum Sie im Fall Whitby überhaupt nach Spuren gesucht haben. Es war ein Unfall und kein Tötungsdelikt. Korrigieren Sie mich, falls ich mich irre.«