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»Doch, das muss sie«, sagt Marino zu ihm. »Außer Sie wollen mich höchstpersönlich aus diesem Zimmer werfen. Ansonsten bleibe ich einfach schön brav sitzen und rede, wie mir der Schnabel gewachsen ist.«

»Wenn wir schon einmal dabei sind, ein offenes Gespräch zu führen«, sagt Scarpetta zu Weber, »würde ich gerne von Ihnen aus erster Hand hören, warum sich das FBI mit dem Fall Gilly Paulsson beschäftigt.«

»Ganz einfach: Weil die Polizei von Richmond uns um Hilfe gebeten hat«, gibt Special Agent Weber zurück.

»Weshalb?«

»Das müssen Sie sie schon selbst fragen.«

»Ich frage aber Sie«, entgegnet Scarpetta und wird langsam wütend. »Wenn nicht endlich jemand die Karten auf den Tisch legt, ist die Angelegenheit für mich erledigt.«

»So einfach ist das nicht.« Dr. Marcus wirft ihr einen langen Blick aus halb geöffneten Augen zu, die sie an eine Eidechse erinnern. »Sie haben sich eingemischt. Sie haben den Traktorfahrer untersucht, und nun haben wir es vermutlich mit einer Verunreinigung der Beweise zu tun. Ich fürchte, Sie können nicht einfach hier hinausspazieren. Die Entscheidung liegt nicht mehr bei Ihnen.«

»So ein Schwachsinn«, murmelt Fielding und starrt auf seine wunden, schuppigen Hände, die auf seinem Schoß liegen.

»Ich kann dir sagen, warum sich das FBI eingeschaltet hat«, verkündet Marino. »Zumindest weiß ich, was die Polizei von Richmond dazu meint, falls es dich interessiert. Allerdings könnte es sein, dass Sie sich davon gekränkt fühlen«, wendet er sich an Special Agent Weber. »Habe ich übrigens schon erwähnt, wie gut mir Ihr Kostüm gefällt? Und Ihre roten Schuhe? Einfach spitze. Aber was machen Sie, wenn Sie in den Dingern einen Verbrecher zu Fuß verfolgen müssen?«

»Jetzt reicht es«, zischt sie.

»Nein – mir reicht es jetzt!« Jack Fielding schlägt plötzlich mit der Faust auf den Tisch und springt auf. Er tritt ein paar Schritte zurück und sieht sich mit vor Wut blitzenden Augen um. »Ich habe diese Scheiße satt. Ich gehe. Haben Sie kapiert, Sie kleines, verblödetes Arschloch?«, schreit er Dr. Marcus an. »Ich gehe. Und auf Sie scheiße ich genauso.« Er zeigt mit dem Finger auf Special Agent Weber. »Sie können mir mit Ihrem beschissenen FBI mal den Buckel runterrutschen. Sie kommen hierher, führen sich auf wie Halbgötter und haben von nichts eine Ahnung. Sie würden einen Mord nicht mal erkennen, wenn er in Ihrem eigenen gottverdammten Bett stattfindet. Ich gehe.« Er marschiert zur Tür und dreht sich kurz davor noch einmal um. »Pete, ich weiß, dass Sie im Bilde sind«, wendet er sich an Marino. »Sagen Sie Dr. Scarpetta die Wahrheit. Jemand muss es ja tun.«

Dann geht er zur Tür hinaus und knallt sie hinter sich zu.

Einen Moment herrscht beklommenes Schweigen. »Tja, das war ein ziemlicher Auftritt«, meint Dr. Marcus dann zu Special Agent Weber. »Ich muss Sie um Verzeihung bitten.«

»Hat er Probleme mit den Nerven?«, erkundigt sie sich.

»Hast du mir etwas mitzuteilen?« Scarpetta sieht Marino an und ist mehr als verärgert darüber, dass er möglicherweise über wichtige Informationen verfügt und sich bis jetzt nicht die Mühe gemacht hat, sie ihr gegenüber zu erwähnen. Sie fragt sich, ob er es einfach vergessen hat, weil er die ganze Nacht unterwegs war.

»Soweit ich gehört habe«, antwortet er, »interessiert sich das FBI für die kleine Gilly, weil ihr Vater gewissermaßen für das Amt für Heimatschutz spitzelt. Er arbeitet in Charleston und gibt angeblich Informationen über Piloten weiter, die möglicherweise mit den Terroristen sympathisieren. Da dort unten die größte Flotte von C-17-Transportflugzeugen des ganzen Landes stationiert ist und bei jedem Knall etwa einhundertfünfundachtzig Millionen Dollar beim Teufel wären, macht man sich ziemliche Sorgen deswegen. Es wäre doch ein Jammer, wenn so ein Terrorist plötzlich mit dem Flugzeug mitten auf diese Flotte krachen würde.«

»Ich würde Ihnen raten, jetzt den Mund zu halten«, sagt Special Agent Weber. Ihre Finger sind immer noch auf dem Notizblock verschränkt, doch die Knöchel sind weiß. »Dieses Thema ist nicht Ihre Sache.«

»Aber ich stecke doch schon mitten drin«, gibt er zurück, nimmt die Baseballkappe ab und fährt mit der Hand über die Stoppeln, die auf seinem ansonsten kahlen Schädel wachsen. »Tut mir Leid, ich bin spät ins Bett gekommen und hatte keine Zeit mehr, mich zu rasieren.« Als er sein stoppeliges Kinn reibt, erzeugt das ein Geräusch, als würde er über Sandpapier streichen. »Ich, Eise von der Kriminaltechnik und Detective Browning hatten einen gemütlichen Abend im Polizeiclub. Anschließend habe ich noch ein paar Gespräche geführt, auf die ich aus Gründen der Vertraulichkeit hier nicht näher eingehen möchte.«

»Am besten sind Sie jetzt still«, warnt Special Agent Weber, als wäre Reden ein neuer Straftatbestand, für den sie ihn verhaften könnte. Möglicherweise wertet sie sein Verhalten als Landesverrat.

»Mir wäre es lieber, wenn du weitersprichst«, fordert Scarpetta ihn auf.

»Das FBI und das Amt für Heimatschutz haben nicht gerade ein freundschaftliches Verhältnis«, fährt Marino fort. »Schließlich haben die Heimatschützer einen großen Batzen des Budgets vom Justizministerium abgekriegt, und wir alle wissen ja, wie sehr das FBI am Geld hängt … Was habe ich da letztens gehört?« Er wirft Special Agent Weber einen kühlen Blick zu. »Etwa siebzig Lobbyisten drücken sich ständig am Capitol Hill herum und betteln um Geld, während Nullen wie Sie sich überall einmischen, sämtliche Fälle an sich reißen und am liebsten die ganze Welt übernehmen würden …«

»Warum hören wir uns das noch länger an?«, meint Special Agent Weber zu Dr. Marcus.

»Die Sache sieht folgendermaßen aus«, sagt Marino zu Scarpetta. »Das FBI schnüffelt Frank Paulsson schon seit einer Weile hinterher. Und es sind Gerüchte über ihn im Umlauf. Offenbar missbraucht er seine Stellung als Flugarzt, was insbesondere deshalb Besorgnis erregend ist, weil er als Spion für den Heimatschutz arbeitet. Und der wäre sicher nicht begeistert, wenn Paulsson eine Pilotin – insbesondere eine Militärpilotin – nach Erhalt einer Gegenleistung für flugtauglich erklärt. Dem FBI hingegen wäre nichts lieber, als dem Amt für Heimatschutz was am Zeug zu flicken und es als Idiotenhaufen hinzustellen. Und als die Gouverneurin es mit der Angst zu tun gekriegt und das FBI hinzugezogen hat, hatten Sie Ihren Fuß in der Tür.« Er sieht Special Agent Weber an. »Allerdings bezweifle ich, dass die Gouverneurin weiß, welche Laus sie sich da in den Pelz gesetzt hat. Wie ihr sicher nicht klar war, interpretiert das FBI Unterstützung nämlich so, dass man andere Bundesbehörden in den Dreck zieht. Mit anderen Worten: Hier geht es nur um Macht und Geld. Aber geht es das nicht immer?«

»Nein, nicht immer«, erwidert Scarpetta mit harter Stimme. Sie hat genug. »Hier geht es um eine Vierzehnjährige, die einen schmerzhaften und schrecklichen Tod gestorben ist. Es geht um den Mord an Gilly Paulsson.« Sie steht auf, klappt ihren Aktenkoffer zu, umfasst die ledernen Haltegriffe und blickt erst Dr. Marcus und dann Special Agent Weber an. »Und das ist auch das Thema, mit dem wir uns befassen sollten.«

27

Als sie in der Broad Street ankommen, ist Scarpetta kurz davor, die Wahrheit aus ihm herauszuprügeln. Ganz gleich, ob er will oder nicht, er muss es ihr jetzt erzählen.

»Was hast du gestern Abend gemacht?«, fragt sie. »Und damit meine ich nicht den Umtrunk im Polizeiclub.«

»Keine Ahnung, worauf du hinauswillst.« Marino hockt als missmutiger Koloss auf dem Beifahrersitz und hat die Kappe tief in das mürrische Gesicht gezogen.

»O doch, das weißt du ganz genau. Du warst bei ihr.«

»Jetzt komme ich überhaupt nicht mehr mit.« Er starrt aus dem Seitenfenster.

»O doch.« Scarpetta rast in hoher Geschwindigkeit über den Broadway. Sie hat darauf bestanden, selbst zu fahren, und hätte weder Marino noch sonst jemanden ans Steuer gelassen. »Ich kenne dich. Verdammt, Marino – du hast es schon einmal getan. Wenn es wieder so war, dann sag es mir. Ich habe gesehen, wie sie dich angeschaut hat, als wir bei ihr waren. Du hast es auch bemerkt, und du hast es genossen. Ich bin schließlich nicht blöd.«