Anstatt eine Antwort zu geben, starrt er aus dem Fenster, und die Baseballkappe verdeckt sein Gesicht.
»Mach den Mund auf, Marino. Warst du bei Mrs. Paulsson? Hast du dich irgendwo mit ihr getroffen? Sag die Wahrheit. Irgendwann kriege ich es sowieso raus, das weißt du doch.« Scarpetta bremst abrupt an einer Ampel, die plötzlich von Gelb auf Rot umspringt, und sieht ihn an. »Gut. Dein Schweigen spricht Bände. Deshalb hast du dich so seltsam benommen, als du ihr heute Morgen im Büro begegnet bist. Du warst gestern Nacht bei ihr, und vielleicht ist es ja nicht so gelaufen, wie du gehofft hast. Und deshalb warst du bei ihrem Anblick heute Morgen so überrascht.«
»So war es nicht.«
»Wie dann?«
»Suz brauchte jemanden zum Reden, und ich wollte Informationen. Also haben wir uns gegenseitig geholfen«, sagt er zum Fenster gewandt.
»Suz?«
»Und es hat etwas gebracht, oder?«, fährt er fort. »Ich habe Einblicke in das Amt für Heimatschutz gewonnen, darüber, was für ein Schwachkopf und Widerling ihr Ex ist und warum das FBI hinter ihm her sein könnte.«
»Könnte?« Sie biegt links in die Franklin Street ein und hält auf ihr erstes Büro in Richmond zu, das alte Gebäude, das gerade abgerissen wird. »In der Besprechung – wenn man das so bezeichnen will – schienst du dir deiner Sache sehr sicher zu sein. Hast du das alles nur erraten? Worauf genau willst du hinaus?«
»Sie hat mich gestern Abend auf dem Mobiltelefon angerufen«, erwidert Marino und wechselt beim Anblick des Gebäudes das Thema. »Seit unserer Ankunft sind sie mit dem Abriss ziemlich weit vorangekommen. Zurzeit geht eine ganze Menge kaputt.« Er betrachtet die Ruine, die sich vor ihnen erhebt.
Das Gebäude aus Gussbeton wirkt kleiner und kläglicher als beim ersten Mal. Vielleicht bilden sie sich das auch nur ein, weil die Zerstörung sie nicht mehr überrascht. Als sie sich der Fourteenth Street nähern, geht Scarpetta vom Gas und sieht sich vergeblich nach einer Parklücke um.
»Wir müssen die Cary Street rauffahren«, beschließt sie. »Dort gibt es einen oder zwei Häuserblocks weiter einen bewachten Parkplatz. Zumindest war das einmal so.«
»Vergiss es. Ich habe, was wir brauchen.« Er öffnet seinen schwarzen mit Stoff bezogenen Aktenkoffer und holt einen roten Ausweis mit der Aufschrift »Chefpathologe« heraus, den er aufs Armaturenbrett legt.
»Wo hast du den denn her?« Sie traut ihren Augen nicht. »Wie zum Teufel hast du das geschafft?«
»Wenn man sich die Zeit nimmt, mit den Mädchen im Büro zu plaudern, kann man eine Menge erreichen.«
»Du bist ein böser Junge«, meint sie kopfschüttelnd. »Mir fehlt dieser Ausweis wirklich«, fügt sie hinzu, denn früher war das Parken für sie nicht so aufwändig und umständlich wie heute. Sie konnte bei jedem x-beliebigen Tatort vorfahren und ihr Auto abstellen, wo es ihr gefiel. Wenn sie während der Hauptverkehrszeit zum Gericht musste, parkte sie irgendwo im Halteverbot, und das alles dank eines kleinen roten Schildes, auf dem in großen weißen Buchstaben »Chefpathologe« stand. »Warum hat Mrs. Paulsson dich gestern Abend angerufen?« Sie schafft es nicht, sie Suz zu nennen.
»Sie wollte reden«, erwidert er und öffnet die Beifahrertür. »Komm, bringen wir es hinter uns. Du hättest Stiefel anziehen sollen.«
28
Seit gestern Abend muss Marino ständig an Suz denken. Ihm gefällt es, wie sie ihr Haar trägt, nämlich gerade lang genug, dass es ihre Schultern streift. Außerdem blond. Blond war schon immer seine Lieblingshaarfarbe.
Schon bei der ersten Begegnung in ihrem Haus hat er den Schwung ihrer Wangen und ihre vollen Lippen bewundert. Er fand es schön, wie sie ihn ansah, denn er hat sich dadurch groß, stark und wichtig gefühlt. Ihr Blick schien ihm zu sagen, dass sie ihm die Lösung aller Probleme zutraute, sogar der unlösbaren, die jeden anderen überfordern würden.
Bestimmt war es dieser Blick, der ihn am meisten berührt hat.
Und die Art und Weise, wie sie bei der Durchsuchung von Gillys Zimmer dicht an ihn herangerückt ist. Als er ihre Nähe spürte, hat er geahnt, dass es Ärger geben wird. Außerdem war er sich bewusst, dass er sich auf etwas würde gefasst machen müssen, falls Scarpetta es bemerkte.
Marino und Scarpetta waten durch dicken roten Schlamm, und es wundert ihn wie immer, dass sie auch im ungeeignetsten Schuhwerk jeder Bodenbeschaffenheit trotzt und einfach weitergeht, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Feuchter roter Schlamm schmatzt unter Marinos schwarzen Stiefeln, und seine Füße geraten ins Rutschen, als er sich vorsichtig vorantastet. Scarpetta hingegen bemerkt offenbar gar nicht, dass sie keine Stiefel trägt, sondern nur Schnürschuhe mit flachen Absätzen, die bequem sind und gut zu ihrem Hosenanzug passen. Oder besser: gepasst haben. Inzwischen sehen sie nämlich aus wie rote Schlammklumpen. Morast bespritzt ihre Hosensäume und ihren langen Mantel, als sie und Marino auf die Ruine des Gebäudes zusteuern.
Die Abrissmannschaft hält in der Arbeit inne, während Marino und Scarpetta wie zwei Idioten durch Schlamm waten und über Geröll klettern und Kurs auf das Zentrum der Zerstörung nehmen. Ein stämmiger Mann mit Bauarbeiterhelm starrt ihnen entgegen. Er hält ein Klemmbrett in der Hand und spricht gerade mit einem anderen Mann, der ebenfalls einen Bauarbeiterhelm auf dem Kopf hat. Dann kommt er auf sie zu und wedelt mit den Händen. Marino winkt ihn zu sich, da sie sich mit ihm unterhalten wollen.
»Ich bin Detective Marino«, stellt er sich vor. »Und das ist Dr. Scarpetta, die Gerichtsmedizinerin.«
»Oh«, erwidert der Mann mit dem Klemmbrett. »Sie sind sicher wegen Ted Whitby hier.« Er schüttelt den Kopf. »Ich konnte es kaum fassen. Sie wissen sicher über seine Familie Bescheid.«
»Erzählen Sie«, fordert Marino ihn auf.
»Seine Frau erwartet ihr erstes Kind. Für Ted ist es die zweite Ehe. Sehen Sie den Mann da drüben?« Er dreht sich zu der Ruine um und zeigt auf einen Mann in Grau, der gerade dem Führerhaus eines Krans entsteigt. »Das ist Sam Stiles. Er und Ted hatten ihre Probleme, um es einmal so auszudrücken. Sie – das heißt Teds Frau – behauptet jetzt, Sam hätte die Abrissbirne zu dicht an Teds Traktor vorbeizischen lassen. Und deshalb wäre er runtergefallen und überrollt worden.«
»Woraus kann man schließen, dass er runtergefallen ist?«, fragt Scarpetta.
Marino weiß, dass sie an die Szene denkt, die sie beobachtet hat. Sie glaubt immer noch, sie habe Ted Whitby gesehen, und zwar kurz bevor er überfahren wurde, als er noch auf seinen eigenen zwei Füßen stand und sich am Motor zu schaffen machte. Möglicherweise hat sie Recht. Und da er sie gut kennt, nimmt er an, dass es wirklich so gewesen sein muss.
»Ich will mich da nicht festlegen, Ma’am«, entgegnet der Mann mit dem Klemmbrett. Er ist etwa in Marinos Alter, hat aber dichtes Haar und Falten. Seine Haut ist gebräunt und wettergegerbt wie bei einem Cowboy, und er hat leuchtend blaue Augen. »Ich sage nur, dass die Frau, oder besser die Witwe, überall diese Geschichte verbreitet. Natürlich will sie Geld. Ist das nicht immer so? Das heißt nicht, dass sie mir nicht Leid täte. Aber es ist nicht richtig, sich einen Sündenbock zu suchen, wenn jemand ums Leben kommt.«
»Waren Sie hier, als es geschah?«, erkundigt sich Scarpetta.
»Genau hier, nur ein paar Hundert Meter von der Stelle entfernt, wo es passiert ist.« Er deutet auf die vordere rechte Ecke des Gebäudes.
»Haben Sie es gesehen?«
»Nein, Ma’am. Es gibt keine Zeugen. Er war hinten auf dem Parkplatz und hat am Motor herumgebastelt, da das Ding ständig abgesoffen ist. Ich vermute, dass er die Sicherung überbrückt hat – und den Rest der Geschichte kennen wir ja. Ich und die anderen haben nur mitgekriegt, dass der Traktor losgerollt ist, ohne dass jemand darauf saß. Dann ist er gegen den gelben Pfosten am Rolltor geprallt und daran hängen geblieben. Aber Ted lag auf dem Boden, war schwer verletzt und hat heftig geblutet. Es sah ziemlich übel aus.«