»War er noch bei Bewusstsein?«, erkundigt sich Scarpetta und macht sich wie immer Notizen in ein schwarzes Buch. Über der Schulter trägt sie ihre schwarze Tatorttasche aus Nylon an einem langen Riemen.
»Ich habe nicht gehört, dass er was gesagt hätte.« Der Mann verzieht bedauernd das Gesicht und wendet sich ab. Dann schluckt er lautstark und räuspert sich. »Seine Augen waren offen, und er schnappte nach Luft. Das ist ein Bild, das ich wohl nie mehr vergessen werde. Er hat nach Atem gerungen und lief blau an. Und im nächsten Moment war er tot. Natürlich kam sofort die Polizei. Und ein Krankenwagen. Aber man konnte nichts mehr für ihn tun.«
Marino steht im Schlamm, hört zu und beschließt, auch ein oder zwei Fragen zu stellen, weil er sich unwohl fühlt, wenn er zu lange schweigend wie ein Ölgötze an einer Stelle verharrt. In Scarpettas Gegenwart kommt er sich immer dumm vor, obwohl sie nichts tut, um ihm dieses Gefühl zu vermitteln. Doch das macht es nur noch schlimmer.
»Dieser Sam Stiles«, meint Marino und weist mit dem Kopf auf den reglosen Kran mit der Abrissbirne, die an ihrem Ausleger sacht hin- und herbaumelt. »Wo war er, als Ted überfahren wurde? Irgendwo in seiner Nähe?«
»Nein. Das ist doch albern. Dass Ted von einer Abrissbirne vom Traktor geholt worden sein soll, ist absoluter Schwachsinn und wäre eigentlich komisch, wenn die Sache an sich nicht so traurig wäre. Haben Sie überhaupt eine Vorstellung davon, was eine Abrissbirne bei einem Menschen anrichten würde?«
»Sähe bestimmt nicht sehr hübsch aus«, erwidert Marino.
»Sie würde ihm das Hirn direkt aus der Rübe donnern. Das Überfahren mit dem Traktor könnte man sich anschließend sparen.«
Scarpetta macht sich weiter Notizen. Hin und wieder blickt sie sich nachdenklich um, bevor sie etwas aufschreibt. Einmal hat Marino ihre Aufzeichnungen offen auf dem Schreibtisch liegen sehen, als sie nicht im Büro war. Weil er neugierig war, was in ihrem Kopf vorgeht, hat er die Gelegenheit genutzt, einen Blick zu riskieren. Aber er konnte nur ein einziges Wort entziffern, und das war zufällig sein Name: Marino. Sie hat nicht nur eine fürchterliche Handschrift, sondern macht ihre Notizen in einer seltsamen Art von Kurzschrift, die außer ihrer Sekretärin Rose niemand entschlüsseln kann.
Nun fragt sie den Mann mit dem Klemmbrett nach seinem Namen, worauf dieser erwidert, er heiße Bud Light. Das kann Marino sich gut merken, obwohl er Budweiser Light ebenso wenig mag wie Miller Light, Michelob Light oder sonst irgendwelche alkoholreduzierten Biere. Scarpetta erklärt, sie wolle sich den Fundort ansehen, um Bodenproben zu nehmen. Bud scheint das kein bisschen zu wundern. Vielleicht glaubt er, dass gut aussehende Gerichtsmedizinerinnen und dicke Polizisten mit Baseballkappen immer Bodenproben nehmen, wenn ein Bauarbeiter von einem Traktor überfahren wurde. Also waten sie wieder durch den zähen, feuchten Schlamm auf das Gebäude zu. Dabei muss Marino die ganze Zeit an Suz denken.
Gestern Abend hatte er gerade noch eine Runde Whisky im Polizeiclub bestellt und führte ein nettes, offenes Gespräch mit Junius Eise. Browning war schon nach Hause gegangen, und Marino war mitten in einem Satz, als sein Mobiltelefon läutete. Inzwischen war er schon ziemlich angetrunken und hätte eigentlich nicht mehr ans Telefon gehen sollen. Es wäre wohl das Beste gewesen, es abzuschalten, aber das hat er nicht getan. Schließlich hatte Scarpetta ihn zuvor angerufen, weil Fielding die Tür nicht aufgemacht hat. Marino hatte ihr angeboten, sie könne sich wieder bei ihm melden, falls sie ihn brauche. Und deshalb nahm er das Gespräch auch an, als es läutete. Nach einigen Runden Whisky neigt er ohnehin eher dazu, die Tür zu öffnen oder am Telefon mit Fremden zu reden, als sonst.
»Marino«, übertönte er das Stimmengewirr im Polizeiclub.
»Hier spricht Suzanna Paulsson. Tut mir Leid, dass ich Sie störe.« Sie brach in Tränen aus.
Was sie anschließend gesagt hat, war nicht so wichtig, und er kann sich auch nicht mehr an alles erinnern, als er durch den zähen roten Schlamm watet, während Scarpetta einen sterilen Gaumenspatel aus Holz sowie einige Gefrierbeutel aus ihrer Schultertasche kramt. Das wichtigste Ereignis der gestrigen Nacht kann Marino sich nicht mehr vergegenwärtigen, und das wird wohl für immer so bleiben, weil Suz Whiskey zu Hause hatte. Sour-Mash-Bourbon, und zwar mehrere Flaschen. Sie trug Jeans und einen flauschigen rosafarbenen Pullover, als sie ihn ins Wohnzimmer führte, die Vorhänge zuzog, sich neben ihn aufs Sofa setzte und ihm von ihrem miesen Ex-Mann, dem Heimatschutz, den Pilotinnen und den anderen Paaren erzählte, die Frank nach Hause eingeladen hatte. Ständig erwähnte sie diese anderen Paare, als ob sie wichtig wären. Und deshalb erkundigte sich Marino, ob sie diese Leute gemeint habe, als sie während seines und Scarpettas Besuchs immer wieder von »sie« sprach. Allerdings ging sie nicht darauf ein, sondern wiederholte ihre Antwort: Fragen Sie Frank.
Ich frage aber Sie, erwiderte Marino.
Fragen Sie Frank, sagte sie bloß. Er hat alle möglichen Leute ins Haus geholt. Fragen Sie ihn.
Was wollten diese Leute hier?
Das werden Sie schon noch erfahren, entgegnete sie.
Marino steht da und sieht zu, wie Scarpetta Latexhandschuhe überstreift und ein weißes Papierpäckchen aufreißt. Dort, wo der Traktorfahrer seinen tödlichen Unfall hatte, ist nichts als schlammiger Asphalt vor einer Hintertür zu sehen, die sich neben dem großen Rolltor befindet. Er beobachtet, wie Scarpetta in die Hocke geht und den Boden betrachtet. Dabei fällt ihm der gestrige Vormittag ein, als sie im Mietwagen hier vorbeigefahren sind und über die Vergangenheit gesprochen haben. Wenn er die Zeit zu diesem Moment zurückdrehen könnte, würde er es tun. Aber es geht nicht. Sein Magen fühlt sich übersäuert an, und ihm ist leicht übel. Sein Schädel pocht im Gleichtakt mit seinem wild klopfenden Herzen. Als er die kalte Luft einatmet, legt sich der Geschmack nach Erde und dem Betonstaub des Gebäudes, das rings um sie zusammenbricht, auf seine Zunge.
»Wonach suchen Sie eigentlich, wenn ich fragen darf?«, sagt Bud, der ebenfalls zusieht.
Scarpetta schabt mit dem Gaumenspatel sorgfältig über eine kleine Stelle in Erde und Sand, wo sich ein Fleck befindet. Vielleicht ist es Blut. »Mich interessiert nur, was da ist«, erklärt sie.
»Wissen Sie, ich schaue mir manchmal solche Fernsehsendungen an. Oder ich kriege wenigstens etwas davon mit, wenn meine Frau sie einschaltet.«
»Glauben Sie bloß nicht alles, was im Fernsehen kommt.« Scarpetta befördert weitere Erde in den Gefrierbeutel und lässt dann den Gaumenspatel ebenfalls hineinfallen. Nachdem sie den Beutel versiegelt hat, beschriftet sie ihn. Dann verstaut sie ihn vorsichtig in ihrer Nylontasche, die aufrecht auf dem Boden steht.
»Also nehmen Sie diesen Dreck nicht mit, um ihn in irgendeine Zaubermaschine zu stecken?«, witzelt Bud.
»Mit Zauberei hat unsere Arbeit nichts zu tun«, antwortet sie, öffnet wieder ein weißes Päckchen und kauert sich auf den Parkplatz neben der Tür, die sie in ihrer Zeit als Chefpathologin jeden Morgen aufgeschlossen hat, um das Gebäude zu betreten.
An diesem Morgen hat Marino einige Male Lichtblitze in der pulsierenden Finsternis seiner Seele gespürt. Sie sind elektrisch aufgeladen wie ein Bild, das auf einem defekten Fernseher immer wieder aufflackert, und verschwinden sofort wieder, sodass man nur einen verschwommenen Eindruck davon erhält, was die Bilder darstellen könnten. Lippen und Zunge. Fragmente von Händen und geschlossenen Augen. Und sein Mund, der an ihr hinuntergleitet. Er weiß nur noch, dass er um sieben Minuten nach fünf heute Morgen nackt in ihrem Bett aufgewacht ist.
Scarpetta arbeitet wie eine Archäologin, soweit Marino die Arbeitsweise von Archäologen beurteilen kann. Sie kratzt vorsichtig die Oberfläche einer schlammigen Stelle ab, unter der sie dunkle Blutflecken vermutet. Der Mantel schlingt sich um ihre Beine und schleift auf dem schmutzigen Asphalt. Doch das kümmert sie nicht. Wenn nur alle Frauen sich so wenig für unwichtige Kleinigkeiten interessieren würden wie sie. Marino glaubt, dass Scarpetta eine unerfreuliche Nacht verzeihen würde. Sie würde Kaffee kochen und lange genug bleiben, um darüber zu reden. Niemals würde sie sich heulend ins Bad einschließen und ihn anbrüllen, er solle verdammt nochmal sofort verschwinden.