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Raschen Schrittes verlässt Marino den Parkplatz und watet durch den Schlamm zurück zum Auto. Er rutscht aus und behält mit einem Grunzen, das sich in ein Röcheln verwandelt, mit knapper Not das Gleichgewicht. Vornüber gebeugt, erbricht er sich und würgt und würgt, während sich eine braune Flüssigkeit auf seine Stiefel ergießt. Er zittert und keucht und glaubt schon, sterben zu müssen, als er ihre Hand am Ellenbogen spürt. Diese starke, sichere Hand würde er immer und überall erkennen.

»Komm«, sagt sie leise und nimmt seinen Arm. »Ich bringe dich zum Auto. Halt dich an meiner Schulter fest, und achte um Himmels willen darauf, wo du hintrittst. Sonst fallen wir noch beide hin.«

Er wischt sich den Mund am Jackenärmel ab. Tränen treten ihm in die Augen, als er sich zwingt, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Auf sie gestützt, hält er sich mühsam aufrecht und watet mit schmatzenden Schritten durch das schlammige blutrote Schlachtfeld rings um die Ruine des Gebäudes, in dem sie sich damals kennen gelernt haben.

»Was ist, wenn ich sie vergewaltigt habe?«, fragt er und fühlt sich so elend, dass er am liebsten sterben würde. »Was wäre dann?«

29

Obwohl es im Hotelzimmer sehr warm ist, hat es Scarpetta aufgegeben, den Thermostat einstellen zu wollen. Stattdessen sitzt sie in einem Sessel am Fenster und betrachtet Marino, der auf dem Bett liegt. Er hat sich in seiner schwarzen Hose und dem schwarzen Hemd ausgestreckt. Die Baseballkappe ruht einsam auf der Kommode, während die schwarzen Stiefel verlassen auf dem Boden stehen.

»Du musst was in den Magen kriegen«, sagt sie.

Neben ihr auf dem Teppich liegt ihre mit Schlamm bespritzte Tatorttasche aus Nylon, und über einem Stuhl hängt ihr ebenfalls mit Schlamm bespritzter Mantel. Überall im Zimmer hat sie rote schlammige Fußspuren hinterlassen, und als ihr Blick auf eine davon fällt, muss sie an einen Tatort denken; außerdem an Suzanna Paulssons Schlafzimmer und daran, was sich dort möglicherweise vor knapp zwölf Stunden abgespielt hat.

»Ich bekomme jetzt nichts runter«, erwidert Marino vom Bett aus. »Was ist, wenn sie zur Polizei geht?«

Scarpetta hat nicht die Absicht, ihm falsche Hoffnungen zu machen. Eigentlich kann sie gar nichts tun, weil sie nichts weiß. »Möchtest du dich nicht hinsetzen, Marino? Es wäre besser, wenn du sitzt. Ich bestelle jetzt etwas.«

Als sie aufsteht und zum Telefon neben dem Bett geht, hinterlässt sie eine weitere Spur Bröckchen und Flocken trocknenden Schlamms hinter sich. Sie kramt die Lesebrille aus der Jacke ihres Hosenanzugs, schiebt sie auf die Nasenspitze und mustert die Liste der Telefonnummern. Als sie die Durchwahl des Zimmerservice nicht entdecken kann, ruft sie die Rezeption an und lässt sich verbinden.

»Drei große Flaschen Wasser«, bestellt sie. »Zwei Kannen Earl Grey, einen getoasteten Bagel und eine Schale Haferbrei … Nein danke, das wäre alles.«

Marino hievt sich in die Sitzposition und zwängt sich ein Kissen hinter den Rücken. Sie spürt, dass er sie beobachtet, als sie sich wieder auf ihrem Sessel niederlässt. Sie ist müde, weil sie sich überfordert fühlt, und in ihrem Kopf stiebt eine Herde wilder Pferde in alle möglichen Richtungen auseinander. Dabei denkt sie an Lacksplitter und andere Spuren, an die Erdproben in ihrer Nylontasche, an Gilly und den Traktorfahrer und daran, was Lucy wohl im Moment tut und was Benton möglicherweise gerade treibt. Dann versucht sie sich Marino als Vergewaltiger vorzustellen. Was Frauen angeht, hat er sich auch schon früher leichtsinnig, wenn nicht gar dumm verhalten. Er hat das Berufliche mit dem Privaten vermischt, was sich darin äußerte, dass er sich in der Vergangenheit mehr als einmal sexuell mit Zeuginnen und Opfern eingelassen hat. Er hat zwar seinen Preis dafür bezahlt, aber der lag immer im Bereich dessen, was er sich leisten konnte. Noch nie ist er der Vergewaltigung bezichtigt worden oder hatte Grund, sich Sorgen zu machen, dass er vielleicht eine begangen haben könnte.

»Wir müssen uns Mühe geben, die Angelegenheit zu klären«, sagt sie. »Offen gestanden kann ich mir nicht vorstellen, dass du Suzanna Paulsson vergewaltigt hast. Allerdings besteht das offensichtliche Problem darin, ob sie es glaubt oder sich zumindest einredet. In letzterem Fall müssen wir uns Gedanken über ihr Motiv machen. Aber am besten gehen wir zuerst durch, woran du dich noch erinnerst. Und, Marino«, sie sieht ihn an, »falls du sie doch vergewaltigt hast, finden wir eine Lösung.«

Marino starrt sie nur an. Sein Gesicht ist gerötet, die Augen sind glasig vor Angst und Schmerz. An seiner rechten Schläfe tritt eine Vene hervor, die er hin und wieder berührt.

»Mir ist klar, dass du wahrscheinlich kein großes Bedürfnis hast, mir dein Verhalten von gestern Nacht in allen Einzelheiten zu schildern, doch du wirst nicht darum herumkommen … Ich bin nicht so leicht zu schockieren«, fügt sie hinzu. Angesichts dessen, was sie beide schon zusammen erlebt haben, müsste diese Bemerkung eigentlich komisch sein. Aber im Moment ist ihnen nicht zum Lachen zumute.

»Ich weiß nicht, ob ich das schaffe.« Er wendet den Blick ab.

»Meine Phantasien sind viel schlimmer als alles, was du vielleicht wirklich verbrochen haben könntest«, erwidert sie in leisem und sachlichem Ton.

»Das stimmt wohl. Schließlich bist du kein Küken mehr.«

»So könnte man es ausdrücken«, gibt sie zurück. »Und falls es dich beruhigt: Ich habe im Leben auch die eine oder andere Erfahrung gemacht.« Sie schmunzelt leicht. »Selbst wenn du dir das nur schwer vorstellen kannst.«

30

Es ist für ihn keineswegs schwer, sich das vorzustellen, obwohl er sich in all den Jahren lieber nicht ausgemalt hat, was sie mit anderen Männern tut. Insbesondere mit Benton.

Marino starrt an ihr vorbei aus dem Fenster. Sein schlichtes Einzelzimmer befindet sich im zweiten Stock, sodass er die Straße nicht sehen kann, nur den grauen Himmel über ihr. Er fühlt sich innerlich ganz klein und hat das kindliche Bedürfnis, sich unter der Bettdecke zu verstecken, einzuschlafen und darauf zu hoffen, dass sich die Angelegenheit beim Aufwachen als böser Traum entpuppt. Er möchte aufwachen und feststellen, dass er mit Scarpetta hier in Richmond ist, um einen Fall aufzuklären, und dass sonst überhaupt nichts passiert ist. Komisch, wie oft er in einem Hotelzimmer die Augen aufgeschlagen und sich gewünscht hat, sie möge da sein und ihn ansehen. Und nun ist es so weit. Er überlegt, wo er beginnen soll. Dann ergreift wieder das kindliche Bedürfnis Besitz von ihm, und seine Stimme erstirbt.

Sie bleibt irgendwo zwischen Herz und Mund stecken wie ein Glühwürmchen, das in der Dunkelheit erlischt.

Seit Jahren schon, eigentlich seit ihrer ersten Begegnung, macht er sich – wenn er ehrlich mit sich ist – ausführlich Gedanken über sie. Seine erotischen Phantasien ranken sich um den ausgeklügeltsten, kreativsten und unbeschreiblichsten Sex, den er je hatte, und er will auf keinen Fall, dass sie je davon erfährt. Niemals würde er ihr dieses Geheimnis anvertrauen, und er hat nie die Hoffnung aufgegeben, dass er vielleicht doch noch eines Tages bei ihr landen könnte. Aber wenn er jetzt anfängt, über seine Erinnerungen zu sprechen, erhält sie möglicherweise einen Einblick, wie es mit ihm sein könnte. Und das würde ihm sämtliche Chancen verderben. Außerdem würde es den Tod seiner Phantasien bedeuten, die sich dann ein für allemal verflüchtigen würden. Also überlegt er, ob er lügen soll.

»Fangen wir bei deiner Ankunft im Polizeiclub an«, sagt Scarpetta und fixiert ihn mit ihrem Blick. »Wann bist du dort eingetrudelt?«

Gut. Der Polizeiclub ist kein Tabuthema. »Gegen sieben«, erwidert Marino. »Ich habe mich dort mit Eise getroffen. Dann kam noch Browning, und wir haben was gegessen.«